Die Adventsengel
24.12.09
von Anne Junesch
Im gemütlichsten Sessel des Hauses sitzt Miechen und liest in ihrem Lieblingsbuch. „Schneewittchen und die sieben Zwerge“, „Aschenputtel“, „Rapunzel“ und all die anderen Märchen kennt sie schon fast auswendig. Trotzdem ist sie ganz vertieft und hätte fast nicht gehört, dass aus dem Schrank ein leises Rumoren kommt. Sie bleibt stocksteif sitzen und passt mit gespitzten Ohren auf jedes Geräusch. Man kann ein Gewurschtel, Herumschieben und leises Gewisper hören. Miechen schleicht zu ihrer Mutter in die Küche, wo diese eben einen Nikolaus aus Lebkuchen verziert.
„Mami, Mami, da raschelt etwas im Wohnzimmerschrank!“
„Um Gottes willen, hoffentlich sind es keine Mäuse!“, ruft Mama entsetzt.
Sie laufen zurück ins Zimmer. Mama macht die Schranktüre auf und beide hören nichts. Da flüstert Mama:
„Wir setzen uns in den Sessel und tun so, als ob wir in deinem Buch lesen.“
Gespannt kuscheln sie im Sessel. Und richtig! Das Getuschel geht los! Zarte Stimmchen hört man sagen:
„Haben diese Menschen nicht bemerkt, dass die Adventszeit beginnt?“
„Weshalb ist der Deckel unserer Schachtel so fest zu?“
„Ich glaube, über uns hat die Mutter das große Tischtuch gelegt.“
Da springt Mama schon hoch, nimmt das weiße Tischtuch weg und stellt die bunte Schachtel auf den Tisch. Langsam hebt sich der Deckel. Erst sieht Miechen nur einen kleine Heiligenschein, dann folgt ein Wuschelkopf und –hops- springt das Engelchen heraus. Wer hat den meisten Mut? Natürlich der Dirigent! Na ja, eigentlich ist es Adventa, die Dirigentin. Sie schaut sich zufrieden um:
„Endlich! Ich dachte schon, ihr Menschen wollt in diesem Jahr gar nicht Advent und Weihnachten feiern.“
„Das stimmt nicht“, sagt Miechen. „Mama hat doch schon Lebkuchen gebacken. Daraus bauen wir ein richtiges Kuchenhaus wie bei ‚Hänsel und Gretel’ im Wald.“
„Hast du damit begonnen?“, fragt Adventa die Mutter.
„Noch nicht, nur mit den Nikoläusern“, antwortet Mama.
„Das sieht man“, meint Adventa lachend. „An deinen Händen klebt Zuckerguss und hie und da ein rotes Zuckerl.“
Während des Gesprächs krabbelten die anderen Engel aus der Schachtel: Finchen mit der Harfe, Viola mit ihrer Violine, Fridolin samt Trommel, Peter mit Trompete und Hand in Hand Hanna, die Sängerin und Michael, der Sänger mit ihren dicken Liederbüchern. Sie sehen allerliebst aus und strahlen vor Freude um die Wette.
„Ihr dürft euch zur Begrüßung ein Lied wünschen“, meint Adventa.
Mama möchte „Alle Jahre wieder“ hören und Miechen „Leise rieselt der Schnee“, weil es noch immer nicht schneit.
Adventa hebt den Dirigentenstab und sie legen los. Klingt das schön!!! Sogar Mietze, die verschlafene Katze, hebt ihren Kopf vom gemütlichen Kissen. Im vorigen Jahr war sie ein Katzenkind und kann sich an diese wunderbare Adventsmusik nicht erinnern.
„Für euch hat nun Advent begonnen“, erklärt Hanna. „Wir müssen noch zu vielen Menschen, um ihnen auch die Adventszeit einzusingen.“
„Für mich ist die Adventszeit, das Warten auf Jesu Kommen die schönste Zeit des Jahres“, sagt Michael noch schnell..
Dann pling – pling –pling, ein Blinken strahlt im Raum und weg sind sie. Traurig schaut Miechen in die leere Luft. Da bemerkt sie in ihrer Hand ein Kästchen. Sie öffnet den Deckel und sieht verwundert, wie die Engel in den Häusern der anderen Menschen singen. Jeder darf sich sein Lieblingslied wünschen. Dadurch fühlen sie sich am schnellsten gut und freuen sich von Herzen auf Weihnachten.
In der Schule unterbricht die Lehrerin ihren Vortrag über die Maikäfer, weil sie die Unruhe der Kinder nicht versteht. Sie hat den Käfer auf die Tafel gezeichnet und dabei den Engelchor am Katheder nicht sehen können. Nun ist sie auch begeistert. Vor allem darf sie sich ein schweres Lied wünschen. Deshalb möchte sie „Maria durch ein Dornwald ging“ hören. Alle Kinder klatschen Beifall.
Adventa führt ihre Engel auch ins Krankenhaus. Hier sind sehr traurige Kinder. Einige wurden am Bilddarm operiert, andere haben Gipsverbände. Viele liegen erschöpft mit Fieber im Bett. Susanne muss leider sitzen, weil ihr Hals und die Ohren im Liegen noch ärger wehtun. So verteilen sich die Engel in der Luft. Adventa schwebt vor Susanne, links fiedelt Viola, rechts zupft Finchen an der Harfe, in das eine Ohr trommelt ihr Fridolin und in das andere bläst Peter mit Hingabe die gewünschte Melodie. Hanna und Michael bewegen sich singend um Susannes schmerzenden Hals.
Verwundert bemerkt Miechen noch ein Engelchen, das aber keinen Heiligenschein und kein Instrument hat. Es umkreist den Chor und schaut bittend zu Susanne. Die zeigt auf ihre Stirn, wo sie ebenfalls schreckliche Schmerzen hat. Das Engelchen ohne Namen setzt sich fest auf Susannes Stirn, streichelt die Schmerzfalten, summt dabei das Lied der anderen „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ begeistert mit. Allmählich glättet sich Susannes Stirn, die Schmerzen in den Ohren und dem Hals lassen nach, sie schläft ein.
Die Krankenschwester kann diese Beruhigung nicht verstehen. Eben weinte Susanne vor Schmerzen bitterlich und nun schläft sie mit einem Lächeln tief und fest. Die Schwester hat den Engelchor gar nicht gesehen, weil sie zu beschäftigt war. Jetzt denkt sie, dass die Medikamente endlich gewirkt haben. Aber: Du und ich wissen es besser!!!
Und noch etwas kann Miechen sehen. Das Engelchen ohne Namen hat eine Flöte in der Hand und bläst fleißig zusammen mit den anderen am nächsten Kinderbett.
Jeden Tag schaut Miechen den Engeln bei ihrer Singfahrt mal in der Stadt, mal am Dorf zu. So vergehen die dreiundzwanzig Adventstage. Am 24. Dezember erscheinen die Engel zum Abschiedskonzert wieder mit pling-pling-pling in Miechens Wohnzimmer. Als erstes fliegt das neue Engelchen zu Miechen.
„Ich durfte Flöte spielen und habe den Namen Leni bekommen“, strahlt es.
„Das habe ich gesehen“, erwidert Miechen.
„Durch seine Hilfe konnte Susanne geheilt werden“, erklärt Adventa. „Damit hat Leni die Aufnahmeprüfung in unseren Chor bestanden.“
„Dann kommt doch jedes Jahr ein nächster Engel hinzu“, stellt Miechen fest.
„Das ist richtig“, lächelt Hanna. „Und wenn die Aufbewahrschachtel für uns zu klein wird, schenkt ihr uns eine zweite.“
Damit ist Miechen einverstanden und legt ihren Minifernseher zu den Engeln. Sie ist jetzt schon neugierig, welche Aufgabe der neue Engel im kommenden Jahr bekommt.
Zum Abschied darf sie sich wieder ein Lied wünschen. Sie holt ihre Mutter und beide möchten „Kommet, ihr Hirten“ hören.
Kaum machten es sich die Engel in ihrer Schachtel gemütlich, hört Miechen in der Ferne einen anderen Gesang. Die Engel lächeln zufrieden.
„Das sind die Weihnachtsengel, für die wir den Weg vorbereitet haben“, winkt Adventa Miechen zu.
„Und die Weihnachtsengel verkünden allen Menschen die Geburt Jesu Christi“, weiß Miechen. „Denn es steht in der Bibel: ‚Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr'.“
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
E-Mail:kronstadt@adz.ro
Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
Aktuell
Karpatenrundschau
16.09.24
Interview mit Roxana Florescu, Leiterin des Deutschen Kulturzentrums in Kronstadt
[mehr...]
13.09.24
„Und wenn dereinst von meinen Tagen Der allerletzte Tag erscheint, So möge man von mir nur sagen: Es starb, ein wahrer Menschenfreund.”
[mehr...]
13.09.24
Das neue Schuljahr beim Johannes-Honterus-Nationalkolleg
[mehr...]