Erinnerungen an Erich Bergel (III)
23.12.10
„Hier ist kein Ton von mir“
Das Buch „Erich Bergel. Ein Musikerleben“, gezeichnet von Hans Bergel, dem Schriftsteller und älteren Bruder des Dirigenten, ist 2006 beim Gehann-Musik-Verlag Kludenbach (www.g-m-v.de) erschienen. Der Untertitel lautet „Persönliche Notizen zur Biographie“ und deutet auf die unmittelbare Nähe des Autors zum Musiker hin, die auf jeder einzelnen Seite die Einzigartigkeit des Textes ausmacht. Der Verleger schreibt im Vorwort, dass die Brüder „ein Leben lang in Höhen und Tiefen, in Triumphen und Niederlagen mit einer Intensität der Geistes- und Seelenverwandtschaft einander verbunden waren, die nicht alltäglich ist. Von Kindheit an im Gespräch und durch immer wieder parallelen Lebensverlauf zu den gleichen existentiellen Erfahrungen gezwungen, wuchsen die beiden in ein Verhältnis zueinander hinein, das sich vom Sport bis zur Kunst, vom gedanklichen Inhalt bis zum intellektuellen Stil über weite Strecken deckungsgleich darstellt.“
Die ersten Seiten beleuchten die niveauvolle musikalische Stimmung im Elternhaus, auf den Lebensstationen der Familie in Rosenau, Sächsisch-Regen und Kronstadt. „In solcher Atmosphäre aufgewachsen war es nichts als natürlich, dass der Vierjährige (...) die gelegentliche Frage nach dem künftigen Berufswunsch in unbeirrbarer Sicherheit mit der Auskunft beantwortete: ’Musikdirektor’, was niemand in der Familie wunderte.“ In diese Zeit „fällt die vom Vater exakt vorgezeichnete, unter Aufsicht der Mutter erarbeitete solide musikalische Grundausbildung Erichs“, der aber um 1945 schon mit den ersten Schwierigkeiten zu kämpfen hat: Er muss den Schulbesuch und den Musikunterricht unterbrechen und als Aushilfe in einer Bäckerei arbeiten.
Für seine Ausbildung zum Musiker bestimmend waren die Lehrjahre bei Kurt Mild, „damals ohne Zweifel DER Bachkenner und –interpret im Land.“ Mild schreibt 1994 über den Beginn des Unterrichts: „Sehr bald stellte ich fest, dass ich es mit einer musikalischen Begabung von außergewöhnlichem Zuschnitt zu tun hatte und dass an der Zielstrebigkeit seiner beruflichen Arbeit (...) nichts und niemand zu rütteln vermochte. Es war denn auch neben der außergewöhnlichen Musikalität eben diese Beharrlichkeit, diese Unbeirrbarkeit, die mir zuerst auffiel.“ Durch Mild fand Erich Bergel Zugang zu Bachs „Die Kunst der Fuge“, einen Grundstein seiner Karriere, wie er selbst in einem Brief Jahrzehnte später erkennen wird: „Meine musikalische Erziehung gründet seit der Kindheit auf Bachs Werk.“ Die Entscheidung, kein Kantor, sondern ein Dirigent zu werden, traf der Musiker erst nach langem Zögern.
Die harte Arbeit, die den Musikunterricht erst möglich machte, wird im Buch nach und nach zum Charakterzug: „Der Fünfzehn-, Sechzehnjährige hatte sich die Musikstunden bei Kurt Mild mit dem Abschreiben von Partituren in zahllosen Nächten verdient, aus denen er morgens ohne Schlaf zum Schulunterricht ging.“ Während der Klausenburger Jahre machte er „die Nächte zu verlängerten Arbeitstagen, die in der Regel achtzehn Stunden dauerten.“ Sogar unter widrigsten Umständen lässt seine Arbeitsweise an Intensität nicht nach. Als sich die Brüder zeitweilig in einer Gefängniszelle in Zeiden treffen, machen sie sich die Situation mit Gesprächen über die „Kunst der Fuge“ erträglich. Der Musiker forschte pausenlos, „er hatte Bachs Werk auswendig im Kopf.“ „Er hatte die Arbeit an der Form- und Strukturanalyse der 'Kunst der Fuge' in den Jahren der Haft, während derer es weder Bleistift und Papier gab, in den großen Zügen abgeschlossen“ und schrieb seine Erkenntnisse in den ersten Monaten der Freiheit nieder. Sein Leben lang folgte er der gleichen strengen Selbstdisziplin: „In Flugzeugen, Eisenbahnzügen oder Hotelzimmern, in Wartehallen (...) saß er mit Partituren auf den Knien, Bleistift in der einen, Radiergummi in der anderen Hand, und arbeitete.“
In Berlin liest er in sechs Wochen 130 Schriften zu Bachs Meisterwerk, wie er in einem Brief im Jahre 1968 schreibt, in dem es auch heißt „Karajan ist von einer Freundlichkeit zu mir, über die alle Orchestermitglieder staunen, die seine oft schroffe, kurz angebundene Art kennen. (…) Anfangs wusste ich oft nicht, wie mir geschieht; ich habe mich nur schwer an soviel Ehre von seiner Seite wie von Seiten anderer hier gewöhnt.“
Dass er sich selbst nur als „Werkzeug“ im Dienste der Musik betrachtete, geht aus seiner Überzeugung hervor, dass die Ergänzung des unvollendeten Contrapunctus XVIII aus der „Kunst der Fuge“ sich „ausschließlich aus den vorgegebenen Baustoffen“ ableiten lässt, ohne fremde (seine eigene) Beteiligung im Inhalt. „Hier ist kein Ton von mir“, sagte Bergel.
Der Dirigent, den die Kritik mit den Worten „Gleichzeitigkeit von klassischer Strenge und rückhaltloser Emotionalität“ porträtierte, bewies in unzähligen Situationen sowohl seine Großzügigkeit, als auch seine hohen, kompromisslosen professionellen Standards: „Dieser unentwegte Drang zum Schenken (...) entsprang ebenso seiner jeglichen Kleinkariertheit abgeneigten, in allem, was er dachte und anpackte, mit dem Zug ins Große ausgestatteten Vollnatur wie sein fachlicher Anspruch. Hatte jener für den Außenstehenden nicht selten den Anschein bedenkloser Verschwendung, so war dieser von einer Unbedingtheit, der nicht jeder zu folgen vermochte, was Zeit seines Lebens sowohl mit Einzelnen als auch mit Orchestern zu gelegentlichen Spannungen, manchmal zu Zerwürfnissen führte: Er legte sich selber, seine enorme Arbeitskraft, seinen Willen zur makellosen Leistung, seine Musikbesessenheit als Maßstab an. Das konnte nicht immer und nicht mit jedem gut gehen. Bei aller Gelassenheit und Contenance seines Umgangsstils blieb Mediokrität dort, wo sie sich als Norm etablierte, Zeit seines Lebens ein Reizfaktor. Hinzugerechnet werden muss seine gradlinige und die Dinge beim Namen nennende, in polemischen Situationen bisweilen schroffe Art. Bescherten ihm Ehrlichkeit und Eindeutigkeit auf der einen Seite Freunde und Bewunderer, so auf der anderen Gegner.“ Das musikalische Ergebnis, das der Dirigent in seiner Chronik notierte, spricht von selbst: „in summa rund eintausendfünfhundert Konzerte auf allen Kontinenten.“
Christine Chiriac
(Fortsetzung folgt)
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