„Fitnesssäle für die Demokratie“
28.03.19
Dokumentarfilme und Debatten um 30 Jahre Demokratie
Vergangene Woche hat in Bukarest das Internationale Dokumentarfilmfestival zum Thema der Menschenrechte „One World Romania“ (OWR) stattgefunden, das auch Staatsoberhaupt Klaus Johannis zu Gast hatte. Das Festival, das vor 12 Jahren vom Tschechischen Zentrum aus Bukarest ins Leben gerufen wurde, als Tochter-Festival des weltweit bedeutendsten Filmfestivals zum Thema Menschenrechte One World Festival (Prag/ Tschechische Republik), fand heuer zwischen dem 15. und dem 24. März statt.
Ziel des Festivals ist es die Zuschauer aus der Routine zu reißen und zum Nachdenken und idealerweise zum aktiven Handeln zu bewegen. OWR will ein Ort der Freiheit, der Reflexion und Solidarität sein, eine Alternative zu den Massenmedien die der Korruption untergeordnet sind, zu Fake News. „Der Dokumentarfilm ist die wohl lebendigste und manchmal intelligenteste Ausdrucksweise des Zivilgeistes, der Menschenrechte, des aufrichtigen Engagement seitens des Rechtsstaats. Er bietet Raum für soziale Solidarität, zum Verstehen der Welt, für Toleranz. Die Säle, in denen wir Filme zeigen sind Fitnesssäle für Demokratie, wo wir unsere „soft“, aber wichtigen Kräfte trainieren für einen Kampf der nie enden wird“ meint Alexandru Solomon, Leiter des Vereins One World Romania.
Jahr für Jahr bringt das Festival ein treues Publikum in die Kinos und alternative Räume wo Filme ausgestrahlt werden, wie beispielsweise in den Saal Pavilion 32, der im Gebäude des Goethe Instituts eingerichtet ist. Die hervorragenden Filme, die Frage-Anwort-Runden mit den Filmemachern, mit bedeutenden Persönlichkeiten oder mit Experten im Bereich des Films, oder des vom Film behandelten Themas lockten im Vorjahr über 15.000 Zuschauer.
Nicht weniger Dokumentarfilmliebhaber, Menschenrechtler, Vertreter der Zivilgesellschaft, Interessierte aus In- und Ausland waren heuer dabei. Das Hauptthema des Festivals waren 30 Jahre: dreißig Jahre seit der Rumänischen Revolution, seit dem Fall der Berliner Mauer, seit den ersten freien Wahlen aus der Tschechoslowakei und Polen, 30 Jahre Demokratie in Rumänien und Südosteuropa. Dieses Thema wurde anhand von rund 90 Filmen und Rahmenveranstaltungen intensiv aus mehreren Blickwinkeln betrachtet und besprochen. Während der 10 Tage wurde ein Kontext geschaffen zum Verständnis der Entwicklung unserer Gesellschaft in den letzten 30 Jahren und was nötig sei zur Festigung einer echten Demokratie.
Klaus Johannis, Ian Buruma und bedeutende Filmemacher
Beehrt, erfreut und gleichzeitig überrascht waren die Veranstalter des Festivals, dass Staatspräsident Klaus Johannis der Einladung gefolgt ist, am Rundtischgespräch „Präsident oder Bürger/ Politiker und Zivilgesellschaft“ teilzunehmen. Johannis sprach rund anderthalb Stunden mit dem Publikum und äußerte unter anderen die Möglichkeit, die schon seit 2017 in Betracht gezogene Volksabstimmung zur Justiz zeitgleich mit der Europawahl, die für den 26. Mai vorgesehen ist, anzusetzen.
Auch Namen wie Ian Buruma, einer der weltweit bedeutendsten Historiker, oder Avi Mograbi und Michel Khleifi, israelische Top-Regisseure, sowie Peter Fogracs, bekannter ungarischer Regisseur, die in Bukarest anwesend waren, haben wie Magneten gewirkt.
Anhand von vier von ihm ausgewählten Dokumentarfilme hat Ian Buruma mit den Zuschauern über die Bedeutung und den Einfluss der Vergangenheit auf die gegenwärtige politische und soziale Anordnung aus verschiedenen Staaten aber auch in der Welt diskutiert, einen Kontext geschaffen zum besseren Verstehen. Auch in den Dokumentationen der österreichischen Regisseurin Ruth Beckermann, der bei OWR eine Retrospektive gewidmet wurde, wird die Auswirkung der Vergangenheit auf die heutigen Zeiten deutlich. Beckermann befasst sich in ihren Filmen mit jüdischer Identität und österreichischer Nachkriegsgeschichte. Über den Israelisch-Palästinensischen Konflikt und das Leben, die Atmosphäre, die Menschen in den beiden Ländern haben die Dokustreifen von Mograbi und Khleifi auf sarkastische, humorvolle, philosophische, beziehungsweise poetische Weise aufgeklärt.
Die beim OWR ausgestrahlten Filme, die aus der ganzen Welt kommen, waren in elf Kategorien aufgeteilt und behandelten Themen wie Justiz, Migration, Flüchtlinge, „nicht traditionelle“ Familien, Rechte der Frauen, oder der Personen mit Behinderung, wie auch die Arbeitsbedingungen von Arbeitern. Die Länge der Dokumentarfilme war auch sehr unterschiedlich, sodass sogar eine achtstündige Dokumentation, Wang Bings „Dead Souls“/„Die toten Seelen“ ausgestrahlt wurde. Der Film zeigt die schmerzhaften Wunden der chinesischen Diktatur und die somit verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Persönliche Empfehlung
Auch wenn jeder einzelne Film auf seine eigene Art und Weise beeindruckend war, kriege ich heute noch Gänsehaut wenn ich an den ungarischen Film „Eine gefangene Frau“/„A Woman Captured“ von Bernadett Tuza-Ritter denke. Der rührende Dokustreifen zeigt die erschütternde Geschichte einer modernen Sklavin aus Europa namens Marish. Ihr Gesicht ist von Runzeln bedeckt, Zähne hat sie keine mehr, als wäre sie eine Urgroßmutter. In Wirklichkeit ist Marish 52 Jahre alt. Seit 10 Jahren lebt sie gegen ihren Willen bei einer Familie, wo sie sich als Haushälterin angestellt hatte, um Geld für sich und ihre Tochter zu verdienen. Doch hat ihre Arbeitgeberin ihr den Ausweis weggenommen, den Namen geändert und beutet sie maßlos aus. Schläge, Erniedrigung, Angst prägen Marishs Alltag. Lohn bekommt sie keinen. Ihre Mahlzeiten sind Reste die von der Hausherrin übrig bleiben. Essen, Zigaretten und ein warmes Bett seien genug als Lohn für ihre Dienste, meint die Hausherrin. Die Polizei kann nicht helfen, es gibt keine Gesetze in dieser Hinsicht. Marish sieht keinen Ausweg.
Die einsame Frau öffnet sich gegenüber der Filmemacherin, die mit einer kleinen Videokamera anderthalb Jahre immer wieder zu Besuch kommt. „Du bist die einzige der ich vertraue“ sagt Marish zu Tuza-Ritter und unterstreicht wie wichtig es sei, dass die Menschen diesen Film sehen. Sie müssen verstehen, dass Menschen andere Menschen nicht erniedrigen dürfen, unter gar keinen Umständen. Mit der Regisseurin an ihrer Seite schöpft die Sklavin Kraft und Mut und flieht. Sie geht einem Leben in Würde entgegen, zusammen mit ihrer Familie.
Zwar schlüpft Tuza-Ritter aus die Rolle der Filmemacherin heraus und beeinflusst die gefilmte Geschichte, beziehungsweise sie trägt zur Befreiung des Opfers bei, doch wäre es unannehmbar gewesen, hätte sie die Frau weiterhin in Qualen leben gelassen. Es ist bemerkenswert wie Aufmerksamkeit – die Marish seitens der Regisseurin erhält – ein Leben verändern kann.
Weltweit leben fast 40 Millionen Menschen in Sklaverei, laut Angaben der Walk Free Foundation, einer Stiftung die sich gegen Schuldknechtschaft, Menschenhandel und Zwangsarbeit einsetzt.
Ähnliche furchterregende Erlebnisse wie im ungarischen Film spielen sich auch in Rumänien ab. Darüber hat Laura Stefanut, Investigationsjournalistin bei Casa Jurnalistului, nach der Filmvorführung erzählt. Sie hat phillipinische Kindermädchen interviewt, die bei reichen Rumänen arbeiten und manchmal auf unmenschliche Weise sowohl körperlich, wie auch geistig ausgebeutet und missbraucht werden.
Nach der Filmausstrahlung und der Diskussion mit Stefanut haben Zuschauer auf dem Flur des Kinos weiterhin über moderne Sklaverei gesprochen und wie man diese bekämpfen kann, denn es ist schwer zu begreifen, wie Menschen anderen Menschen solches Unrecht antun können. Den Impuls zur Reflexion und eventuell zum eigenem Einsatz geweckt zu haben ist die lobenswerte Wirkung des OWR auf sein Publikum, das aktiver Teil der Zivilgesellschaft werden kann und vielleicht einen kleinen Beitrag zum Erhalten, oder Festigen der Demokratie beitragen könnten.
In einen Rahmen tun:
Dank des OWR und sicherlich der anderen Filmfestivals landesweit – dem Astra Film Festival aus Hermannstadt, das über einem viertel Jahrhundert schon Dokus ausstrahlt, fArad in Arad, Docuart Fest und Dokstation in Bukarest und Docest aus Jassy – ist der Dokumentarfilm als Genre seit einigen Jahren im Aufschwung in Rumänien. Anhand verschiedener Programme dieser Festivals wird schon die junge Generation mit Dokus angefreundet, ein breites Publikum mit Debatten angewöhnt, angehende Dokugestalter trainiert.
Laura Capatana-Juller
Klaus Johannis im Gespräch mit den Zuschauern des OWR. Journalist Ovidiu Simonca (r) moderierte die Diskussion. Foto: Präsidentschaft
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
E-Mail:kronstadt@adz.ro
Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
Aktuell
Karpatenrundschau
16.09.24
Interview mit Roxana Florescu, Leiterin des Deutschen Kulturzentrums in Kronstadt
[mehr...]
13.09.24
„Und wenn dereinst von meinen Tagen Der allerletzte Tag erscheint, So möge man von mir nur sagen: Es starb, ein wahrer Menschenfreund.”
[mehr...]
13.09.24
Das neue Schuljahr beim Johannes-Honterus-Nationalkolleg
[mehr...]