Ohne „elektronische“ Märchen (V)
25.10.18
Wie ich die Zeit als Grundschulschüler und Gymnasiast von 1933 bis Ende 1946 in Nordsiebenbürgen erlebte/ von Dr. Johann Böhm
Wie ein reißendes Wildwasser lief das Jahr 1944 ab, in dem es für die Siebenbürger Sachsen nur gefährliche Klippen und kein Halten mehr gab. Von Stromschnelle zu Stromschnelle wurde es immer schlimmer und so stieg die innere Unruhe. An den Fingern zählten wir die Tage ab, bewegten uns wie Marionetten. Es wurde viel getrunken. Das Lachen klang alt. Gespräche über die Zukunft kamen nie auf. Man mied sie wie Abergläubige. Dann die Nachricht „Auf den Führer ist ein Attentat verübt worden“ stürzte die Deutschen in ein Gefühl, als wären sie aus der Welt gefallen. Da spielte sich etwas ab, das mit logischem Kalkül nicht erklärbar war: Verlorenheit statt Erleichterung. So sehr hatte der Meister mit Hoffnungsentwürfen die meisten verblendet, dass es momentan für sie kein erhofftes Ziel mehr gab.
Inmitten dieser Düsternis forderte die Gemeindebehörde am 10. September 1944 die Bewohner von Botsch auf, sich auf dem Gemeindeplatz zu versammeln. In der aufgebrachten Menschenmenge, die sich auf die Straße ergoss und in Richtung Gemeindeplatz strömte, befand sich auch mein Vater. Im Nu war der Platz gefüllt, sodass auch er von der Menge eingeschlossen war. Alle warteten auf ein Zeichen, auf ein beruhigendes Wort von der Gemeindebehörde. Dann öffnete sich die Tür zum Gemeindehaus. Der Bergermeister und der Ortsgruppenleiter kamen heraus. Ihr Erscheinen löste große Bewegung unter den Versammelten aus. Der Ortsgruppenleiter R. E. stieg auf das Podium und sagte: „Liebe Botscher, wir müssen in ein paar Tagen die Gemeinde verlassen. Niemand darf zurückbleiben! Es wird nicht lange dauern, die deutschen Verbände werden die sowjetischen Truppen bald zurückschlagen, ja, vernichten, dann kommen wir zurück, darum nehmt euch nicht viel mit!“
Die Nachricht machte die Anwesenden stumm. Keiner schien zu verstehen, weshalb alles so sein musste. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis erregtes Gemurmel einsetzte. Gruppen formten sich, die Anwesenden standen dicht gedrängt um eifrig gestikulierende Gestalten. Man erzählte sich, dass die sowjetischen Truppen bereits in Bukarest einmarschiert seien und in ungewöhnlich grausamen Kämpfen gegen deutsche Einheiten in den ersten Septembertagen 1944 nach und nach Rumänien besetzen würden. Sie hätten rumänische Soldaten und Zivilisten, die kurz vorher Waffen erhalten hätten, entwaffnet. Kronstadt und Hermannstadt, die Hochburgen der Siebenbürger Sachsen, seien gefallen. Die Rote Armee stünde bereits dreißig Kilometer vor Neumarkt.
Gedankenverloren machte sich Vater auf den Heimweg. Als er die Tür zum mittleren Zimmer öffnete, sah er, wie Mutter sein Hemd, an das sie einen Knopf angenäht hatte, auf den Tisch legte.
„Was hat man euch gesagt?“ fragte sie Vater.
„Wir müssen das Dorf für ein paar Tage verlassen“, erwiderte er.
„Für ein paar Tage?“ fragte Mutter zögernd.
„Ja, nur für ein paar Tage, sagte der Ortsgruppenleiter, und man solle nicht viel Gepäck mitnehmen.
Mutter sah Vater fragend an. Sie konnte dieser naiven Äußerung nur schwer Glauben schenken. „Wieso nur für ein paar Tage?
„Ich verstehe es auch nicht ganz“, erwiderte Vater, „aber das waren die Worte des Ortsgruppenleiters. Diese Nazis behaupten noch immer, dass die deutsche Armee in ein paar Tagen die Russen zurückschlagen würde und dann kämen wir wieder zurück. Du weißt ja, sie sprechen von einer Wunderwaffe“.
11. September 1944. Die Sonne wärmte schon in den frühen Morgenstunden die schwer behangenen Weinstöcke. Keiner der Botscher Bauern hätte noch vor ein paar Tagen daran gedacht, dass dieser reiche Weinsegen in fremde Fässer und Kehlen fließen würde.
Die Langgasse füllte sich bei Tagesanbruch mit flüchtenden Sachsen aus dem 20 Kilometer südöstlich von Botsch gelegenen Nieder-Eidisch. In ihren Pferde- und Ochsenwagen, die mit einem Koben versehen waren, befanden sich Lebensmittel und Kleider, die sie in aller Eile hineingeworfen hatten. Auch sie wussten nicht, wohin die Reise gehen sollte. Sie trösteten sich mit den Worten, die man ihnen immer wieder sagte, es würde nicht lange dauern.
Am 12. September 1944 gingen die Bauern aus Botsch nicht mehr auf die Felder. Vater stand um 6 Uhr auf, trat ans Fenster und schaute in den wolkenlosen Himmel. „So, hoffentlich haben wir Zeit, die Sachen in den Planwagen zu packen“, sagte er laut zu Mutter, die ihn mit verschlafenen Augen ansah. Um ihre Lippen spielte nicht mehr das Lächeln, mit dem sie sonst jeden Morgen ihren Mann begrüßte. Schwer nur konnte sie begreifen, dass sie wach, dass es Tag war.
Von nun an verloren sie keinen einzigen Gedanken mehr an andere Dinge. Kleider und Anzüge, Decken, Bett- und Unterwäsche wurden aus den Schränken geholt und in Holzkoffer und Truhen verpackt. Sachen, die man nicht mitnehmen konnte, wurden in der Scheune oder anderswo vergraben.
Da ich noch im Gymnasium von Bistritz war und von mir kein Zeichen gegeben hatte, wurde Mutter unruhig. „Wir können doch nicht ohne Hans wegfahren!“ sagte sie ärgerlich und ängstlich zugleich. „Wir müssen etwas unternehmen.“ „Hans hat ein gutes Fahrrad, und in zwei Stunden ist er bestimmt hier“, versuchte Vater sie zu beschwichtigen.
Bedrückendes Schweigen trat ein. Noch nie hatte Mutter eine so quälende Angst verspürt. Was sollte aus allem werden, was sie liebte, worin sie aufgewachsen war? Sie, ihre Generation, hatte seit Beginn des Krieges einen großen Teil ihres Lebens unter Entbehrungen und Prüfungen verbracht. Die schwere Last des Krieges hatte sie nicht gebeugt. Aber in diesen Stunden schien die Last unerträglich.
Vater sah auf das beschlagene Fenster. Er schob die gestreifte Gardine beiseite und horchte angespannt. „Eine Fahrradklingel! Es muss Hans sein, ja, dass muss er sein!“ Sagte Vater. Er lief schnell auf den Hof. Das schwer beladene Fahrrad hatte ich bereits an der Hausecke abgestellt. Als ich Vater erblickte, lief ich ihm entgegen. „Vater“ rief ich laut. Wir umarmten uns, sahen uns an und verstanden einender.
„Vater, der Heimleiter aus Bistritz sagte, dass nun die Stunde gekommen sei, wo ein jeder deutsche Junge seine Heimat verteidigen müsse!“ „Welche Heimat willst du denn verteidigen?“ „Deutschland! Wir sind doch Deutsche, Vater, und müssen uns für Deutschland einsetzen, das ist doch unsere Pflicht, oder ...?“ „Unsere Pflicht! Was weißt du schon von Pflicht und Vaterland?“ „Aber Vater, wie kannst du nur so reden! Du hast vergessen, dass ich fünfzehn Jahre alt bin. Wenn mich Deutschland braucht, werde ich es nicht im Stich lassen!“ sagte ich ganz entschieden. „Schon gut, mein Sohn“, gab Vater beschwichtigend zurück.
12. September 1944, 11 Uhr. Die Turmglocken läuteten zum Aufbruch. Wie versteinert standen die Botscher da. Sie falteten die Hände zum Gebet: „Allmächtiger Gott, halte Deine schützende Hand über uns, auch wenn wir gesündigt haben.“
„Wir müssen anspannen!“ rief Mutter mit kräftiger Stimme. Vater war wie abwesend, reagierte nicht darauf. „Johann wir müssen anspannen!“ wiederholte Mutter. Vater richtete sich auf und ging zum Stall. Ruckartig öffnete er die Tür, blickte unsicher zu den zwei Braunen und dem gescheckten Pferd, er konnte sich nur schwer entscheiden, mit welchem er den Planwagen bespannen sollte. Die Tiere waren eine Pracht. Mit ihren glatten, dichten Mähnen und Schwänzen, den schönen schlanken Köpfen, den festen Beinen und den kräftigen Hufen standen sie majestätisch da. Sie waren ihm alle ans Herz gewachsen. Vater entschied sich für die beiden Braunen. Er striegelte sie und bürstete ihr Fell, danach legte er ihnen das Geschirr an und führte sie zur Tränke. Sobald sie gesoffen hatten, spannte er sie vor den Kobenwagen.
Mutter stürzte sich in die Arme von Vater. Tränen liefen ihr aus den Augen. Vater legte seine Hände auf ihre Schultern und schwieg. Mein Bruder Georg und ich waren von dem ungewöhnlichen Anblick ganz verwirrt. Aber dann ertönten die Glocken. Das Zeichen zum Aufbruch. Jetzt erkannten auch wir Kinder den Ernst der Lage und klammerten uns an die Hände der Eltern.
Fassungslos standen wir da. Vater hob seine breiten Schultern und sah Mutter liebevoll an. Er wusste, dass sie in Gedanken weit weg war, darum gönnte er ihr diese wenigen Minuten der Besinnung. Mutter hob den Kopf und sagte zärtlich zu Vater: „Komm, steig in den Planwagen, wir müssen aufbrechen“. Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, begann er zu weinen. Auch starke Männer, und so einer war Vater, werden in Situationen wie dieser schwach. Dann berührte er die blassen Wagen meiner Mutter. In seinem Herzen war es seltsam still. Ein Teil seines Lebens ging zu Ende. Was der nächste uns bringen sollte, wusste niemand. Nur eines wussten wir: so wie es früher war, würde es nie mehr sein.
Die Nachbarn öffneten die Tore, Frauen und Kinder weinten laut. Alle waren tief erschüttert. Die Hunde bellten und die Rinder brüllten verängstigt. In dieses Meer von klagenden Stimmen, die um Hilfe und Erbarmen flehten, mischten sich volltönend die Turmglocken. Tief ergriffen gab Vater mir ein Zeichen, das Hoftor zu öffnen. Mein Bruder Georg stieg auf den Wagen. Vater kletterte nach ihm auf den hohen Bock, nahm die Zügel vom Knauf der Wagenbremse und zog sie straff an. Dann schwang er die Peitsche, und die Pferde ruckten an. Mutter blieb in der Mitte des Hofes stehen. Als der Planwagen durch das Tor auf die Straße hinausrollte, fiel sie auf die Knie und küsste den Boden. Ihr ganzer Körper bebte vor Schmerz. Ich ging auf sie zu und machte ein ratloses Gesicht. Aber dann rüttelte ich sie an der Schulter „Mutter, komm, lass uns gehen“. Sie erhob sich, sah sich noch einmal um. Dann traten wir hinaus auf die Straße zum Wagen. Die offenen Tore der Nachbarn gaben unserem Blick alles frei. Wir beobachten die herrenlosen Rinder, Kälber, Schweine, Gänse, Hühner und Hunde, die kreuz und quer über die Straße liefen. Wir sahen, wie der Staub unter den Hufen der Gespanne und der Wagenräder aufwirbelte. Ein Donnern ging durch den Boden der Dorfstraße, als erschüttere ihn ein Erdbeben. Der 7,5 km lange Treck der Gemeinde Botsch bewegte sich von nun an in Richtung Westen, in eine ungewisse Zukunft.
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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