Wie der Himmel im September
26.10.17
Ein „Reisebericht“ für den Radiosender Rai Südtirol
Nachdem im ersten Teil die aus Heldsdorf stammende, heute in Bozen als Dramaturgin tätige Verfasserin ihre Gedanken zum zu jenem Zeitpunkt bevorstehenden Heldsdörfer Heimattreffen auf dem Papier festhielt bzw. vor dem Radiomikrofon aussprach, folgt im zweiten Teil, ebenfalls in gekürzter Fassung, die Schilderung der Begegnungen, Erinnerungen, Eindrücken so wie sie Ina Tartler erlebte. (RS)
4.
„Nimm deine Sonnenbrille ab“, sagte meine Jugendfreundin aus Japan, „das ist doch euer Haus“. Es dauerte kurze Augenblicke, bis ich es wiedererkannte. Sie hatte Recht. Wir standen vor dem Haus meiner Kindheit, ich hatte es nicht auf Anhieb erkannt. Die Tanne vor dem Gassentor stand nicht mehr da. Auch der Fliederbaum vor dem Fenster war weg. Die Mauern waren jetzt weiß gestrichen und das Gassentor ist nicht mehr rötlich-braun und aus Holz wie früher. War das Gärtchen vor den Fenstern zur Straße noch da? Ich schaue ins Fotoalbum meines Handys. Ja, das Gärtchen ist noch da. Aber die Rose, die meine Großmutter in dieses Gärtchen einmal gepflanzt hatte, blüht heute im Garten meiner Tante Hildegard im bayerischen Kaufering. Davor blühte die Rose im Garten meiner Tante Martha im Schwarzwald. Als diese altersbedingt wegzog von dort, wanderte die Rose nach Kaufring. Im Wohnzimmer meiner Eltern hängt ein Gemälde von jener wichtigen, hellgelben Rose. Meine Tante Marta war leidenschaftliche Malerin, sie schuf dieses symbolträchtige Erinnerungsbild für meine Mutter. – „Erinnern bedarf der Darstellung“, lese ich bei Aleida Assmann. Man kann nicht eine Zeitreise in die Vergangenheit machen wie in einem Science-Fiction-Film. Was Vergangen ist, ist vergangen. Wenn wir uns erinnern, haben wir es also nie mit der Vergangenheit an sich zu tun, sondern mit Repräsentationen von ihr. In meinem Fall mit einem Foto in meinem Handy, mit einem Gemälde im Wohnzimmer der Eltern, mit dem hier und jetzt entstehenden Text. Wir bilden Vergangenheit nicht eins zu eins ab, sondern modellieren, deuten, konstruieren sie. „Lass uns weiterfahren“, sagte ich zu meiner Freundin. Wir waren mit den Fahrrädern den ersten Morgen unterwegs in unserem Dorf, wir wollten die Hot Spots unserer Kindheit und Jugend aufsuchen. Erstes Ziel war der Neudörfer Wald.
5.
Weißt du noch, hier.... Hier war doch.... Hier stand doch... Ich fuhr mit meiner Jugendfreundin aus Japan auf Fahrrädern die Dorfstraßen unserer Kindheit hinaus. Wegwarten säumten die Straßen. „Das Blau ihrer Blüten ist wie der Himmel im September", sagte sie. Wir fuhren zum nahegelegenen Wald, zum Bach, in dem wir früher gebadet hatten, zur Kuhweide, zur Mühle, zum Friedhof, in den Park. Wir machten oft Halt, um zu schauen, zu fühlen, zu riechen. Oder im Grün ein bisschen zu liegen. Jahrzehnte waren vergangen, seit wir nicht mehr hier waren. Jetzt legten wir unsere Erinnerungen zusammen. Wir kamen an der verfallenen Kaserne vorbei, in kommunistischen Zeiten waren hier hunderte Soldaten untergebracht. Sonntags gingen sie immer ins Kino. Aus den Pferdewagen schauten uns Zigeunerkinder nach, manche hatten im Ausland ein paar Brocken Deutsch gelernt. Dann besuchten wir den Friedhof. Unsere Urgroßeltern und Großeltern liegen hier, unsere Mütter sind in Deutschland begraben. Trotzdem hängen viele Menschen die Fotos ihrer fern der Heimat Verstorbenen am alten Friedhof auf, obwohl seine Mauern bröckeln, obwohl die Grabstätten Risse bekommen haben, obwohl die Fotos rundum verblassen. Plötzlich entdeckten wir einen jungen Mann, der mit nacktem Oberkörper eine Grabstätte zitronengelb strich. Er habe sächsische Wurzeln, sagte er auf Rumänisch, und würde die Grabstätte für sich renovieren. Wem sie einmal gehört habe, wisse er nicht. Sie sei jedenfalls von einem Dorfbewohner leergeräumt worden. Am selben Abend erfuhr ich beim freudigen Wiedersehen der Dorfgemeinschaft im Gemeindesaal, dass dieser Dorfbewohner die Sargbretter verheizt, um damit Schnaps zu brennen.
6.
Am Sonntag, den 13. August 2017, waren die Reihen in der Dorfkirche von Heldsdorf in Siebenbürgen voll besetzt. Obwohl an den Tagen davor und die ganze Nacht lang getanzt und Wiedersehen gefeiert wurde, konnte der Pfarrer an diesem Morgen auf über dreihundert Menschen von der Kanzel blicken. Ein seltenes Bild. Denn an anderen Sonntagen unterm Jahr sitzen in der Kirche nur eine Handvoll Leute. Unter ihnen meine Tante Sigrid, die an allen Fronten für den Fortbestand des einst so traditionsreichen Lebens im Dorf sorgt. Was die Zukunft bringt, ist ungewiss. „Kauft Boden zurück“, schlug der Pfarrer von der Kanzel vor. Man spürte trotz der allgemeinen Wiedersehensfreude eine Melancholie unter den Menschen. Vielleicht hätte man doch bleiben sollen, alles aushalten müssen. – Am Tag vor unserer Rückreise nach Deutschland besuchte ich mit meinem Vater schließlich unser ehemaliges Haus. Die neuen rumänischen Besitzer begrüßten uns herzlich, sie servierten uns Krautwickel in der alten Küche. Sie zeigten uns alle Zimmer, den Dachboden, den Keller und Garten, auch die neu entstandene Straße hinter den Gärten. Der knorrige Birnbaum steht übrigens nicht mehr da. Vor dem Haus aber wächst wie ein stilles Mahnmal unserer Geschichte der von meinem Vater vor Jahrzehnten gepflanzte Kastanienbaum. Noch einmal Aleida Assmann: „Das Neue an der Erinnerungskultur ist ihr ethischer Rahmen“. Im Lateinischen stehe für das Wort „erinnern“ zumeist das Wort „monere“, schreibt die Autorin, und dieses bedeute ursprünglich „ermahnen“. Erinnerung kann „einen schwierigen Prozess der Selbstkritik einleiten und mithelfen, die Würde entrechteter Gruppen wiederherzustellen und soziales Vertrauen zu stärken“, schreibt sie und zitiert am Schluss Elias Canetti, der sagt „Vorbei ist nicht vorüber.“ „Mit dieser Überzeugung beginnt“ laut Aleida Assmann „eine neue Zeitrechnung im Rahmen der Erinnerungskultur“.(Aleida Assmann: „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention“; C. H. Beck München, 2013)
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