ANTON POTCHE
18.02.21
Teurer Schlussverkauf (Auszug)
IV
Fast hätte Anna Blech den Kaffee auskühlen lassen. Sie nahm einen Schluck. Er war noch warm und wirkte sofort. Irgendwie wird es schon gehen, auch wenn Trummches weg sind. Jemand wird schon für sie nach Bukarest fahren, um die Visums von der ungarischen, österreichischen und deutschen Botschaft für sie zu besorgen. Und bis sie den Pass bekommt, werden bestimmt noch zwei oder auch mehrere Monate vergehen, denn sie hat die großen Formulare erst im Oktober eingereicht.Im Frühjahr findet sich dann eher jemand, der für sie nach Bukarest fahren wird.
Sie ging dann doch zum Tisch und aß noch ein Stückchen Butterbrot zu den letzten Kaffeezügen. Sie zog ihr Pelzleibchen an und begab sich in das nicht beheizte und dunkle Nebenzimmer. Dieses hatte sie eigentlich nie zum Wohnen benutzt.Nur als ihre Mutter noch lebte, hatte sie darin geschlafen. Das Zimmer war kaum noch möbliert. Eine neue Nachbarsfamilie, aus der Moldau gekommene Rumänen, aber gute Leute, hatten die Möbel gekauft. Nur Tisch und Stühle, so ward vereinbart, blieben noch bis zu Annas Auswanderung im Haus, weil sie diese zum Sortieren und Einpacken brauchte. Trotzdem lagen viele Sachen auf dem Fußboden.
Sie begann zum wiederholten Male zu ordnen und auszusuchen. Wäsche, Geschirr, Schuhe, Essbestecke, Fotos in kleinen Holzrahmen, zwei Kerzenständer, ein nagelneues Service für sechs Personen und viele nach Jahren der Ruhe und des Vergessens aus entleerten Schränken und Truhen wieder aufgetauchte brauch- und unbrauchbare Haushalts- und Küchengeräte wurden unschlüssig hin- und hergelegt.
Die rechte Seite des Zimmers war mit Sachen für die Kiste gefüllt und links lagen zwei große Reisekoffer, in die das Nötigste für die ersten Wochen nach der Ankunft in Deutschland verstaut werden sollte. Viele Sachen wanderten an diesem trüben Dezembervormittag von links nach rechts und wieder zurück. Oft hantierte die einsame Frau, ohne mit den Gedanken bei den Sachen zu weilen. Die Ungewissheit riss sie immer wieder aus der Gegenwart. Das ganze Inventar für die Kiste muss aufgelistet werden. Alles muss nach Arad gebracht, dort von den Zöllnern ausgepackt und wieder eingepackt werden. Bis dahin muss das Haus übergeben sein. Vorher muss es ausgemessen werden. Man braucht Grundbuchauszüge, muss seine Staatsbürgerschaft abzahlen, benötigt Kopien von Urkunden, Papiere, Papiere. Überall muss man Rumänisch können, überall muss man zahlen, überall muss man geben, überall muss man bitten. Wie soll sie das alles bewältigen? Allein, ganz allein. Zugkarten bis Nürnberg lösen, jemand suchen, der sie bis zum Grenzübergang Curtici bringt. Nein, das ist alles zu viel, für sie nicht lösbar. Und warum ist das überhaupt alles notwendig? Ihre Eltern liegen da auf dem Friedhof. Warum soll sie jetzt in die Welt, wo ihr Platz doch nur hier sein kann, wo sie schon immer gelebt hat. Man ist doch nicht allein, wenn man im Grab seiner Eltern ruht. Das ist alles viel einfacher und ehrlicher.
Annas Blick irrte durch das Zimmer. An einer Wand hing noch ein Foto ihrer Eltern. Wie konnte sie das nur übersehen? Sie nahm es herunter und wusste nicht wohin damit. Sie fuhr mit den Fingern über das kalte Glas und spürte das Salz einer Träne in ihrem Mundwinkel. Ihr Blick verschleierte sich. Die Gegenwart schien langsam zu entrücken. Eine innere Unruhe, Ungewissheit und Angst trieben die fassungslose Frau in eine Scheinwelt, in der Vergangenheit und Zukunftsvorstellungen, die alle mit dem Tod liebäugelten, dominierten.
Dann sah sie in einer Ecke die alte aus Holz geschnitzte Madonna. Sie nahm sie hervor und stellte sie vor sich auf den Tisch neben das Foto ihrer Eltern. Die Madonna stand immer auf dem Kasten mit den fünf Schubladen und verlieh ihm so den Anschein eines Altars. Die Mutter hat immer erzählt, dass sie die Madonna von ihrer Großmutter als Brautgeschenk bekommen habe. Vielleicht stammt sie sogar noch aus der Einwanderungszeit.
„Maria hilf mir!“, kam es kaum hörbar über Annas Lippen. Vielleicht darf sie ja die kleine Statue mitnehmen.
Dann vernahm sie das Mittagläuten. Sie hatte doch versprochen, bei Trummches Mittag zu essen und dort zu bleiben, bis die um 17 Uhr nach Curtici fahren. Sie soll dann alles absperren und den Schlüssel morgen ins Gemeindehaus tragen. ,Mein Gott, die wandern wirklich heute aus. Ist ja doch schnell gegangen’, dachte sich Anna Blech, während sie in die Stube ging, das Pelzleibchen aus- und einen Mantel anzog.
Draußen lugte die Sonne durch eine zerreißende Wolkendecke. Anna ging langsam in Richtung Trummches-Haus. Die Sonnenstrahlen taten gut. Jakob und Hans haben ihr doch oft genug eingetrichtert, wo sie hingehen soll, wenn sie die Verständigung für den Pass bekommt. In einigen Büros haben sie schon vorgesprochen. Wichtig ist bloß, dass sie immer ein Päckchen Kaffee und eine Schachtel Kent mit nimmt. Für den entsprechenden Vorrat hatte Jakob vorgesorgt.
V
Als Anna Blech bei Trummches die Küche mit den weißblauen Möbeln betrat, sah es gar nicht nach Auswanderung aus. Es hatte sich nichts verändert, weil die einziehenden Rumänen die Möbel gekauft hatten. Sogar das Obstbild in dem von Hans selbst angefertigten Rahmen blieb hängen.
Maria Trumm hatte die dampfende Suppe bereits auf den Tisch gestellt und nachdem die God Platz genommen hatte, wartete Hans erst mal mit einer Nachricht für sie auf.
„Jakob war zuvor da und hat gesagt, dass er mit dem jungen Hellmer in der Johannigasse gesprochen habe. Der erledigt für dich die Wege nach Bukarest und Arad. Du brauchst dir keine Sorgen machen. Der kennt sich aus und hat viele gute Beziehungen. Jakob war auch im Museum. Du kannst deine Madonna am Montag hinbringen. Es wird kein Problem sein, für ihre Ausfuhr eine Genehmigung zu bekommen.“
Jetzt konnte die Bleche-Gode wieder richtig durchatmen. Die Beklommenheit löste sich von ihrer Brust. Sie kannte den jungen Hellmer. Es war ein gutes Gefühl, jemand, der die verschlungenen Wege durch den Behördendschungel kannte, als Ansprechpartner im Dorf zu wissen. Es wird schon werden. Schließlich gehört sie ja nicht zu den Ersten, sondern schon bald zu den Letzten, die diesen Weg ohne Umkehr beschreiten.
Diese Erkenntnis ließ sie sogar Marias Bemerkung, dass heute wieder drei Familien die Genehmigungskarte für den Pass bekommen hätten, gutgelaunt ergänzen: „Na, beim Schlussverkauf geht‘s halt immer schneller. Nur hier wird‘s nicht billiger, wie das ja angeblich in Deutschland der Fall sein soll.“
(1994)
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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