Das Geschriebene bleibt für immer
10.06.21
Zum Band „Verba volant. Scripta manent. Erinnerungen” von Alfred Schadt
“Es ist erstaunlich, wie viele Erinnerungen Menschen begleiten und wie wenige davon sie an die nächste Generation weitergeben“
Es ist ein Gefühl, das das Buch von Alfred Schadt durchzieht wie ein roter Faden, und das ist ein leichtes, kaum spürbares Bedauern, dass man in den meisten Familien viel zu wenig miteinander redet. Gefühle werden nicht ausgesprochen, über viele Themen wird geschwiegen, man schildert den Kindern und Enkeln viel zu wenig von seinen eigenen Erfahrungen und Erlebnissen. Wie viele von uns wissen, wie unsere Großeltern und Urgroßeltern in ihrer Jugend waren, welche Träume sie hatten, welchen Lieblingsbeschäftigungen sie nachgingen, wie sie die schweren Zeiten durchgemacht haben? Es bleiben oft nur ein paar Fotos und Briefe, die von ihrem Leben in bewegten Zeiten zeugen. Manche Erinnerungen behält man für sich, doch andere Erinnerungen muss man an die nächste Generation weitergeben. Das ist eine Pflicht, und so sieht es auch Alfred Schadt. In seinem autobiographischen Band „Verba volant. Scripta manent. Erinnerungen”, erschienen 2020, schildert der 1950 in Kronstadt geborene ehemalige Gymnasiallehrer von einem Leben zwischen zwei Welten: Siebenbürgen und Deutschland.
Alfred Schadt wurde nach Rückkehr seiner Eltern aus der Russland-Deportation in Bartholomae geboren und wuchs auf der Langgasse der Stalinstadt der 50er Jahre auf. Nach dem Besuch der deutschen Abteilung des [aguna-Lyzeums folgte ein Studium deutscher und rumänischer Philologie in Hermannstadt. Als 22jähriger wanderte er Anfang der 70er Jahre mit seinen Eltern nach Deutschland aus und studierte anschließend Germanistik und Anglistik in Konstanz und Bristol. Nach mehreren Jahrzehnten als Lehrer an der Evangelischen Internatschule Schloss Gaienhofen zog er 2015 als Rentner nach Berlin und leitet heute die Redaktion der Neuen Kronstädter Zeitung.
Wie er in seinem Buch schildert, stammt Schadt aus einer Generation, die die Traumata der Eltern- Weltkrieg, Deportation, Enteignung, Demütigungen nicht selbst erlebt hat. Jedoch gaben die Eltern ihren Kindern die Auswirkungen dieser Traumata unbewusst weiter. „Uns frei entfalten, selbst bestimmen, was wir wollten, das konnten wir nicht“.
Ein ähnliches Schicksal wie Schadt hatten viele Siebenbürger Sachsen aus seiner Generation. Ihr Leben besteht aus zwei Abschnitten: vor und nach der Auswanderung nach Deutschland. Vor der Auswanderung träumten sie von der Freiheit und von einem glücklichen Leben in Deutschland, doch für viele Ausgereisten ist dieser Traum zerplatzt, denn das idealisierte Bild vom Ausland entsprach meistens nicht der Wirklichkeit und der Preis für die Freiheit war manchmal viel zu hoch.
Es gibt viele Szenen im Buch, in denen der Leser stark mit dem Autor empathisiert:
die Eltern, die stolz auf die bestandene Bakkalaureat-Prüfung ihres Sohnes sind, jedoch nicht imstande sind, diese Freude zu zeigen; das zufällige Treffen mit dem Vater in der Hermannstädter Innenstadt, ein Gespräch auf Augenhöhe in einem Cafe, „mit unerwarteten Offenheit“, das jedoch das einzige blieb; der unerfüllte Wunsch nach einer Levis-Jeanshose.
Viele Bilder sind den Lesern, auch aus jüngeren Generationen, bekannt: das Versteckspielen zwischen den Gräbern aus dem Bartholomäer Kirchhof, das besonders bei Dunkelheit großen Spaß machte, die Spaziergänge auf der Langgasse, die Parties im Hauskeller, die Fahrten mit dem Moped des Cousins zum Sankt-Annen-See, den Weg zur Schule über die Langgasse und an der Graft-Allee hinter der Stadtmauer entlang, der frische Schnee, der an einem frühen Morgen beim Zelten überrascht, die Strandbäder aus Wolkendorf und Zeiden, die Ferienlager und Skiausflüge, die Fahrradtour bis nach Salzburg neben Hermannstadt und die Nostalgietour 46 Jahre später in gleicher Besetzung.
Es sind aber auch Bilder einer repressiven Zeit: die Statue Stalins, die mitten in der Nacht im Stadtzentrum angebracht wird, die schwarzen Limousine auf der Langgasse, aus der ein Mensch herausgestoßen wird und liegen bleibt, die Hausdruchsuchung nachdem zwei deutsche Reporter ihm ein paar Fotofilme schenken. Und immer mischen sich flüchtige Einblicke in die Freiheit darunter: Kaffee und ausländische Zigaretten im Hotel Aro, die Disko im Sporthotel in der Schulerau wo ausländische Touristen verkehrten- „wir glaubten fast, dazuzugehören, geblendet vom Schein der großen, weiten Welt oder das, was wir dafür hielten“.
Es bleiben auch viele Figuren in der Erinnerung des Lesers. Der Vater, der mit seinen Freunden ins Cafe des Hotels „Krone“ ausgeht. Der strenge Onkel, der aus Deutschland zu Besuch kommt, ganz anders riecht und im jungen Alfred die Sehnsucht nach der fernen, weiten Welt erweckt. Eine Sehnsucht, die ihn nicht mehr loslassen wird. Der Freund Adi, mit dem er als Jugendlicher Ausflüge auf den Königsstein unternimmt und bei der Curm²tura-Hütte über Gott und die Welt redet, der ihn in seinem letzten Tag vor der endgültigen Abreise nach Deutschland nach Bukarest begleitet, den er nach 20 Jahren wiedersieht und der noch in jungen Jahren unerwartet stirbt. Bettina, mit der ihn anfangs eine innige Freundschaft verbindet, die sich in Liebe verwandelt.
Und dann beginnt mit dem genehmigten Ausreiseantrag die nächste Etappe des Lebens in der lang ersehnten Freiheit. Schon im Aufnahmelager in Nürnberg bekommt der junge Mann zu spüren, dass es anders sein wird, als er es sich in seinen Träumen ausgemalt hat. Er findet den Sprachtest, dem er unterzogen wird, diskriminierend. „In Rumänien wunderte man sich, dass ich gut Rumänisch konnte, hier wunderte man sich, dass ich Deutsch konnte“- das ist eine Erfahrung, die nicht nur diejenigen gemacht haben, die ausgewandert sind. „Woher kannst du so gut Deutsch?“ ist eine Frage, die wohl den meisten Siebenbürger Sachsen gestellt wird, wenn sie in Deutschland sind.
Es folgt ein Leben zwischen hier und dort, und er muss erkennen, dass die Fremde nicht Heimat geworden ist, aber die Heimat Fremde. „In unserem Freiheitsdrang war ein mögliches Versagen nicht vorgesehen“. Trotzdem gibt es nicht nur Schattenseiten : er kann sich die lang ersehnten Jeans kaufen, ein Uriah Heep Konzert in England besuchen, es folgt die Heirat in Kronstadt mit Bettina. Ein ergreifender Moment ist, als Alfred nach Geburt seines Sohnes bis zum Morgengrauen alleine auf dem Balkon sitzt und über die Zukunft nachdenkt. Das Leben muss weitergehen. Und es geht weiter, mit Hochs und Tiefs. Ob in Konstanz, in Gaienhofen oder in Berlin- „mit viel Raum, aber wenigen Bekannten und Verwandten, die ihn beleben“. Bei seinen Besuchen in Siebenbürger kommt dann die Erkenntnis: obwohl er mehr in Deutschland als in Rumänien gelebt hat, mit Kronstadt emotional stärker verbunden als an all den Orten, in denen er gelebt hat.
„Mein Lebensweg ist kein besonderer, es ist ein Weg, den viele meiner Generation so oder so ähnlich … gegangen sind. Wir alle aber sind Kinder unserer Zeit und als solche ist es unsere Aufgabe, unsere Erlebnisse, Erfahrungen und Erinnerungen für die kommenden Generationen aufzubewahren. Die persönlichen Erinnerungen fügen sich dann zu einem kollektiven Gedächtnis: Verba volant, scripta manent.“
Das Buch von Alfred Schadt ist besonders den jungen Generationen zu empfehlen.
Denn die große Geschichte ergibt sich als Summe aus den Puzzlesteinen zahlloser kleiner Geschichten, und wer seine Vergangenheit und das Leben seiner Vorfahren nicht kennt, ist auf die Zukunft nicht vorbereitet.
Elise Wilk
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
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