Die Anschlusserklärung an Großrumänien
29.11.18
Die Sachsen Siebenbürgens zwischen November 1918 und Januar 1919 (I)
von Dr. Harald Roth
Der Zerfall der österreichisch-ungarischen Armee setzte bereits Anfang 1918 mit Meutereien und Desertionen ein und erreichte seinen Höhepunkt im Sommer und Herbst mit den Loslösungserklärungen verschiedener Völkerschaften des Reiches. Diesen Prozess vermochte auch das Manifest Kaiser und König Karls vom 16. Oktober 1918 nicht mehr aufzuhalten, in dem er die Schaffung eines Bundesstaates Österreich und die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts seiner Völker zusicherte. Der Rücktritt Karls von den Regierungsgeschäften am 11./13. November machte den Weg frei unter anderem für die Ausrufung der ungarischen Republik am 16. November.
In der letzten Reichstagssitzung des ungarischen Parlaments vor dem Zerfall der Monarchie hatte der sächsische Abgeordnete Rudolf Brandsch am 23. Oktober 1918 einen gemeinsamen Beschluss verschiedener deutscher Verbände im Königreich, in dem die Zugehörigkeit zu Ungarn noch als selbstverständlich angesehen wurde. Das galt auch für das oberste politische Gremium der Sachsen, den erweiterten Zentralausschuss, der sich am 29. Oktober 1918 in Hermannstadt traf und dort festhielt: „Der erweiterte Sächsische Zentralausschuss erklärt, dass das sächsische Volk getreu seiner Jahrhunderte alten Überlieferung auch in dieser schicksalsschweren, entscheidungsvollen Zeit fest und unerschütterlich zum ungarischen Vaterland steht.“ In dieser Sitzung wechselte der Vorsitz von Carl Wolff zu Adolf Schullerus, und der junge Jurist Hans Otto Roth wurde zum Sekretär, also einer Art Geschäftsführer bestellt.
Um handlungsfähig zu bleiben und die Beschlüsse des Zentralausschusses umsetzen zu können, erachtete es dessen Präsident als notwendig, am 2. November die in Hermannstadt anwesenden Zentralausschussmitglieder und sächsischen Reichstagsabgeordneten einzuberufen. Die anwesenden elf Personenkonstituierten sich „als vorläufiger Deutsch-Sächsischer Vollzugsausschuss zur Vertretung unserer Volksrechte“. Dessen Aufgaben waren klar umrissen: Verhandlungen zur Sicherung der Rechte der Sachsen zu führen, und zwar nicht nur mit der offiziellen ungarischen Seite, sondern auch mit den Rumänen. Im Inneren hingegen sah der Vollzugsausschuss seine Aufgaben zunächst in der Sicherung von Ruhe und Ordnung in den von Sachsen bewohnten und nach und nach auch von revolutionärem Aufruhr erfassten Teilen Siebenbürgens. In den folgenden drei Wochen sollte sich die sächsische Position deutlich wandeln: Hatte man sich gerade noch ausdrücklich zu Ungarn bekannt, war man schon recht bald angesichts der leeren Versprechungen der neuen Regierung ernüchtert und erkannte die sich abzeichnende Neugestaltung im Donau-Karpaten-Raum. Der Abgeordnete Brandsch berichtete über ein Gespräch mit einem führenden rumänischen Politiker aus Budapest: „Die Rumänen gedenken, in der ersten Hälfte Dezember die Nationalversammlung einzuberufen. Es macht mir den Eindruck, als wolle er mir zu verstehen geben, dass wir bis dahin miteinander im Reinen sein sollen. Heute steht die Sache so, dass ich persönlich davon überzeugt bin, dass das Banat und Siebenbürgen in irgend einer Form unter rumänische Herrschaft kommt. Sollte sich jedoch die Gewissheit verdichten, so müssten wir Deutsche als die ersten auf dem Plan sein, um sich auf die Seite der neuen Verhältnisse zu stellen.“
Der Austausch unter den sächsischen Politikern war in jenen Wochen sehr intensiv, man beorderte nach und nach auch die Vertreter aus Budapest und Arad zurück nach Siebenbürgen. Zu den aktivsten Untergliederungen zählte damals, wie auch im gesamten Folgejahr übrigens, der Burzenländer sächsische Kreisausschuss mit Sitz in Kronstadt, der mit am besten organisiert war, stets alle Zu- und Mitarbeit rasch und pünktlich lieferte – und nicht immer Verständnis für das Säumen anderer hatte. Die Kooperation mit der sächsischen Presse war allgemein sehr eng. Die von den Fronten zurückkehrenden und noch bewaffneten, aber unorganisierten und führungslosen Soldaten bildeten eine große Bedrohung der öffentlichen Ordnung. So kam es etwa in Hermannstadt nach deren Eintreffen mit der Bahn zu vielfältigen Plünderungen und Zerstörungen. In Kronstadt löste dessen Bürgermeister Karl Ernst Schnell dieses Problem durch einen Geniestreich: Er hatte erfahren, wann mit den ersten Zügen zurückkehrender Soldaten zu rechnen war. Er verpflichtete die Kronstädter Bäcker trotz Wochenendes, umgehend mit Brotbacken zu beginnen und das Brot zum Bahnhof zu liefern. Aus den städtischen Reserven wurden Fleischkonserven geliefert und alles wurde am Bahnhof auf Tischen bereitgestellt. Als die ausgehungerten Soldaten eintrafen, nahmen sie das Verköstigungsangebot dankbar an, ließen sich fast ausnahmslos entwaffnen und zogen anschließend satt ihrer Wege – so blieben der Stadt und ihren Bewohnern die sonst üblichen Randale erspart.
Um die neu zu bestimmende Politik auf eine breite Grundlage zu stellen, wurde der erweiterte Zentralausschuss für den 21.-23. November nach Hermannstadt einberufen. Dabei wurde ein ständiger sächsischer Nationalrat eingerichtet, der „den Romänen in Siebenbürgen gegenüber eine zuwartende Stellung einnehmen und brüderliches Einvernehmen mit ihnen suchen“ sollte. Das hieß jedoch, dass auch in der Öffentlichkeit allmählich ein Umschwung vorbereitet werden sollte, denn es war inzwischen klar geworden, dass es keine Zukunft mehr im Rahmen des Stephansreiches geben würde, zu einschneidend waren die Erfahrungen mit der Magyarisierungspolitik in den vergangenen Jahrzehnten gewesen und zu groß die Verbitterung über die Politik des bisherigen Staatsvolkes, als dass man sein Schicksal mit dem seinen zu verknüpfen sich hätte bereit finden können. Das zeigte sich auch daran, dass die jungen Männer der Jahrgänge 1896-1900 aufgefordert wurden, der Einberufung zum ungarischen Militär nicht Folge zu leisten – auch öffentlich ein klarer Bruch mit dem bisherigen Staat.
Die sächsisch-rumänischen Kontakte wurden verstärkt, denn die rumänischen Politiker konnten nun konkreter berichten, was bei der geplanten Anschlussversammlung in Karlsburg/Alba Iulia für die sprachlichen Minderheiten beschlossen werden sollte. Und sie stellten den Sachsen vielfältige Rechte, vor allem Autonomie in Aussicht. So kamen recht rasch die sächsischen Vorstellungen und Forderungen ins Gespräch, wobei erstmals seit Jahrzehnten wieder die Selbstverwaltung auf dem ganzen Siedlungsgebiet thematisiert wurde. Die Haltung der Sachsen in diesen Tagen beleuchten auch ein Bericht des Deutschen Generalkonsulats in Budapest ans Auswärtige Amt in Berlin vom 23. November 1918: „Es ist selbstverständlich, dass die Rumänen den anderen Nationen, also vor allem Ungarn und Sachsen, die weitestgehenden Rechte einräumen. Insbesondere machen sie den Sachsen die verlockendsten Versprechungen, um sie für sich zu gewinnen. Die Siebenbürger Sachsen nehmen eine abwartende Haltung ein. Vor kurzem sind sie noch für die Integrität Ungarns angetreten, heute sind sie wenigstens schon neutral, ja es macht sich sogar eine große Stimmung für den Anschluss an Rumänien bemerkbar. Die Sachsen sind jedenfalls bestrebt, ihrem Volk so gut es geht über die schwierige Zeit hinüber zu helfen.“ In der sächsischen Presse der letzten Novemberwoche, zumal im Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatt, in der Kronstädter Zeitung und der Schäßburger Zeitung, erschienen nun immer wieder Beiträge, die das zu erwartende Ereignis vom 1. Dezember ihrem Publikum erklären und auch den Wandel der sächsischen Politik nachvollziehbar machen sollte.
In den von der Karlsburger rumänischen Nationalversammlung am 1. Dezember angenommenen Beschlüssen heißt es in Abschnitt III wörtlich: „…verkündet die Nationalversammlung Die volle nationale Freiheit für alle mitbewohnenden Völker. Jedes Volk wird sich in seiner eigenen Sprache durch Personen aus seinen Reihen bilden, verwalten und richten und jedes Volk wird das Recht der Vertretung in den gesetzgebenden Körperschaften und in der Regierung des Landes im Verhältnis zur Zahl der Personen, aus denen es besteht, erhalten. Gleiche Berechtigung und völlige autonome konfessionelle Freiheit für alle Glaubensbekenntnisse im Staat.“
Unter den Sachsen verfehlten die Karlsburger Beschlüsse ihre Wirkung nicht. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion über die sich auf ihrer Grundlage bietenden Möglichkeiten. „Unsere Hoffnungen und Pläne hatten keine Grenzen. Man träumte von einer Auferstehung des Königsbodens und überbot sich an Forderungen. Die Lawine des Optimismus war nicht aufzuhalten. Schließlich verlangten wir auch eine eigene sächsische Eisenbahndirektion.“ (Otto Fritz Jickeli) Angeregt durch die 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Wilson, die Autonomie für die Völker Österreich-Ungarns vorsahen, und zunächst bestärkt durch die rumänischen Versprechungen, dann durch die Karlsburger Beschlüsse, entwarf Gustav Baron Bedeus das Konzept eines selbstverwalteten „Munizipiums Sachsenland“. Er begründete den Anspruch der Sachsen auf ein autonomes Gebiet mit einer konsequenten und gerechten Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts und mit den zahlenmäßigen Bevölkerungsverhältnissen auf dem in Frage kommenden Gebiet. Bedeus ging soweit, an einen Zusammenschluss dreier deutscher Munizipien, nämlich Sachsenland, Deutsch-Banat und Deutsch-Bukowina, zu einem gemeinsamen Distrikt Deutsch-Siebenbürgen zu denken. Die Forderung nach Selbstverwaltung war schließlich einer der Hauptpunkte des Anfang Januar dem rumänischen Regierungsrat für Siebenbürgen, der neuen quasi-Exekutive, überreichten Memorandums. Es hatte sich unter den Sachsen die Überzeugung durchgesetzt, dass ein aktives Mitgestalten der künftigen Politik die sächsische Position stärken würde. Dabei wurde die Richtlinie aufgegeben, mit dem eigenen Bekenntnis zum neuen Staat so lange zu warten, bis sich ein Ergebnis bei der Friedenskonferenz abzeichnete. Doch wollte der Nationalrat vor einer Anschlusserklärung die sächsischen Forderungen im Einzelnen klären und sowohl mit Regierungsrat wie auch mit der Regierung Altrumäniens festschreiben, sozusagen als Vorbedingung des Anschlusses.
Die sächsischen Unterhändler mussten aber erkennen, dass der rumänische Regierungsrat auf weitergehende Zusicherungen, als in den Karlsburger Beschlüssen enthalten, sich einzulassen nicht in der Lage war. Vielmehr drängte der Regierungsrat auf eine Entscheidung der Sachsen, da sich die rumänischen Vertreter bei den in Paris beginnenden Friedensverhandlungen auf die Zustimmung zumindest einer Nationalitätengruppe berufen wollten. Und die Ereignisse überstürzten sich: Die Mitglieder des Regierungsrates waren zu Ministern ohne Geschäftsbereich im Bukarester Kabinett ernannt worden. Der rumänische König erließ ein Vereinigungsdekret, womit er die Karlsburger Anschlusserklärung sanktionierte. Und schließlich erreichten immer mehr rumänische sowie alliierte Truppen Siebenbürgen und besetzten die sächsischen Städte. Auch in Kronstadt wurden die Truppen feierlich empfangen und von Bürgermeister Schnell begrüßt – in deutscher Sprache, der damaligen offiziellen Verwaltungssprache der Stadt. Die sächsische Politik musste also handeln, wollte sie bei der Realisierung ihrer Forderungen nicht ins Hintertreffen geraten, so jedenfalls die damalige Wahrnehmung.
Fortsetzung folgt
Seit 2013 ist Dr. Harald Roth Direktor des Deutschen Kulturforums östliches Europa in Potsdam. Geboren am 24. Juni 1965 in Schäßburg, ist er in Kronstadt aufgewachsen. In München, Freiburg, Heidelberg und Seattle studierte er Geschichte. 1994 promovierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zum Dr. phil. Zu seinen zahlreichen Buchveröffentlichungen die sich großer Anerkennung erfreuen zählt auch „Kronstadt in Siebenbürgen“. Seit 2011 ist er zum Ehrenbürger von Kronstadt ernannt worden.
Dr. Harald Roth ist u.a. Vorsitzender des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrates, sowie stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde. Kürzlich weilte er in Kronstadt bei der Vorstellung des Bandes von Paula Schneider, die als Stadtschreiberin im Vorjahr da weilte und ihre Erinnerungen literarisch verfaßte. Foto: Dieter Drotleff
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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