Die Geschichte einer Straße
12.09.19
Erstes Nachbarschaftsfest der Schützenwiese (Str. Baiulescu)
„Dieses Haus wurde zum Preis eines Ford-Automobils gekauft. Als die Russen nach Rumänien kamen, haben sie alle Güter der reicheren Familien mitgenommen. Unser Auto hat ein Verwandter in der Scheune versteckt. So konnten wir es behalten. Meine Eltern haben es dann verkauft und mit dem Geld eine Wohnung in diesem Haus gekauft. Hier wohnten schon fünf Familien, die Toilette und die Küche wurde gemeinsam genutzt. In jedem Zimmer wohnte eine Familie“. Das erzählt Marina Iliescu, die Tochter des Arztes Eugen Iliescu über das Haus auf der Schützenwiese Str. Baiulescu nr.5, wo sie aufgewachsen ist. „Auf der Straße gab es früher große Bäume, die viel Schatten spendeten. Wir spielten als Kinder oft draußen. Wir waren so laut, dass uns ein Nachbar immer mit Wasser bespritzte, damit wir ruhig werden“, erinnert sich Iliescu.
Alle Häuser auf der Baiulescu-Straße verbergen Geschichten. Diese Geschichten wurden von Mitarbeitern des Gedenkmuseums „Casa Muresenilor“ gesammelt und zu einer Ausstellung zusammengestellt. Es war die Idee von Dr. Valer Rus, Leiter des Casa-Mure?enilor-Gedenkmuseums, eine Veranstaltung zu organisieren, in deren Rahmen sich die Bewohner der Baiulescu-Straße vorstellen, besser kennenlernen und vernetzen. „Früher kannte man alle Nachbarn auf seiner Straße. Früher gab es Straßenfeste, wo es viel um Nachbarschaft ging. Durch diese Veranstaltung wollen wir dieses Gefühl der Nachbarschaft wieder beleben“, meint Rus. Das Fest der Baiulescu-Straße fand Samstag, dem 7. September, statt. Am Vormittag gab es Ausstellungen in den verschiedenen Häusern, am Nachmittag ein kulturelles Programm mit Konzerten und Workshops.
„Jeder Stein auf dieser Straße könnte eine Geschichte erzählen“
Das Kulturprojekt „Strada G. Baiulescu-Staße – Eine gemeinschaftliche Veranstaltung der Nachbarschaft“ wird vom Gedenkmuseum „Casa Muresenilor“ mit Unterstützung der Verwaltung des Nationalen Kulturfonds (AFCN) organisiert. Partner sind der Verein „Ma implic!“, das Kronstädter Ortsforum, die „Karpatenrundschau“, der Verein Forum ARTE, die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien und die Kirche „Sf. Parascheva-Groaveri“ in Kronstadt. „Gh. Baiulescu ist die Kronstädter Straße mit der größten Dichte an Kultureinrichtungen“, meinen die Organisatoren. Im Rahmen der Veranstaltung werden vier Ausstellungen eröffnet. Es geht um Geschichten von Menschen, die in der Baiulescu-Straße gewohnt haben (im Stefan Baciu-Gedenkhaus bei Nr. 9) , über den ersten rumänischen Bürgermeister der Stadt – Gheorghe Baiulescu, den Namensgeber der Straße (im Junii-Haus, bei Nr. 1), über die Geschichte der „Karpatenrundschau“ und des Deutschen Forums (im Forumsgebäude bei Nr. 2). Auch eine Karte des Groaveri-Friedhofs (bei Nr. 16) mit Informationen über die Persönlichkeiten, die hier begraben sind, wird im Rahmen der Veranstaltung vorgestellt. „Jedes Stück Asphalt, jeder Stein auf dieser Straße könnte eine Geschichte erzählen“, meinte eine Besucherin der ersten Ausstellung im Gedenkhaus des Schriftstellers [tefan Baciu, bei Nummer 9. Hier konnten die Besucher einen Einblick in die Geschichte der Straße erhalten.
In den ersten Jahrzehnten des XX. Jahrhunderts wurde der Grund, auf welchem sich heute die Straße Dr. Gh. Baiulescu befindet Lehrern des heutigen Saguna-Kollegs geboten, damit sich diese hier preiswerte Häuser bauen können. Die Straße führte zum Heldenfriedhof des 1. Weltkriegs und anschließend zur Zinnenpromenade hinauf und wurde Schützenwiese genannt, da früher am Ende der Straße ein Schüztenverein seinen Sitz hatte. Während des Kommunismus wurde die Straße in Dr. I.C. Parhon und anschließend in „Str. Bicazului“ umbenannt. Auf dieser Straße erzählten Schriftsteller über ihre nächsten Bücher, Medizin-Lehrbücher und Architektur-Studien wurden hier erarbeitet, Liebesgeschichten entstanden hier, Musikabende wurden organisiert und auch staatliche Angelegenheiten wurden diskutiert. Die Straße war Treffpunkt der kulturellen und politischen Elite von früher: George Calinescu, Lucian Blaga, Iuliu Maniu, Cezar Petrescu, Emil Cioran, Sextil Puscariu, die Künstler Harald Meschendörfer, Hans Eder, Hans Mattis-Teutsch und viele andere.
Mikro-Monographie der Straße und Landkarte eines Friedhofs
Bei Nummer 2 funktionierte früher die Schule der Evangelischen Kirchengemeinde. Während des Kommunismus war hier der Sitz des staatlichen Kino-Unternehmens, ab 1992 ist hier der Sitz des Deutschen Forums und 2015 ist der neueste Bewohner eingezogen: die KR-Redaktion. Sowohl die KR-Redaktion als auch das Forum stellten je eine Ausstellung mit Infotafeln vor, in der es vor allem um die Geschichte der jeweiligen Institution ging. Die Ausstellung der KR ist noch bis Anfang November auf dem Flur neben der Redaktion zu sehen. Bei Nummer fünf befand sich die Villa des Arztes Eugen Iliescu. Bei Nr. 9 wohnte der Schriftsteller Stefan Baciu, der 1989 nach Lateinamerika übersiedelte. In Rio de Janeiro arbeitete er als Journalist. Stefan Baciu wurde später Ehrenbürger der Stadt Rio de Janeiro, Konsul von Bolivien in Honolulu auf Hawaii und Emeritierter Professor der Universität von Honolulu auf Hawaii. Er starb 1993 in Honolulu. Nr. 12 beherbergte die schicke Pension Bömches, die Mitte des letzten Jahrhunderts zum Treffpunkt prominenter Urlauber wurde. 1939 gründete der Dichter und Epigramist Cincinat Pavelescu den Sitz der Zeitschrift „Bra{ovul literar“. Heute ist das Gebäude das Ferienhaus der Bukarester Familie Dragomirescu. Alle Häuser auf der Baiulescu-Straße haben eine interessante Geschichte, und alle Geschichten wurden in einer Mikro-Monographie gesammelt, die beim Stefan Baciu-Gedenkhaus vorgestellt wurde. Ein anderes „Produkt“ des Nachbarschafts-Projektes ist die Landkarte des Groaveri-Friedhofs (dem Père Lachaise von Kronstadt, wie die Organisatoren meinten), auf dem viele Kronstädter Persönlichkeiten begraben sind und der auch für Touristen sicherlich interessant wäre. Auf dieses Projekt werden wir in Kürze in einem Artikel in der ADZ zurückkommen.
Nicht nur um die Vergangenheit der Straße ging es am Samstag, dem 7. September, sondern auch über ihre Gegenwart und Zukunft. 10 junge Künstler haben am Event teilgenommen und in nur einem Tag eine Freilichtgalerie mit bunten Graffitti-Gemälden geschaffen.
Elise Wilk
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
E-Mail:kronstadt@adz.ro
Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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