Ein Monat Freiheit in der Russland-Deportation
10.01.19
Heinrich Kaspers Flucht aus dem Lager Nikanor
74 Jahre sind es in diesem Januar seit rumäniendeutsche Männer und Frauen in die Sowjetunion in Arbeitslager deportiert wurden. Die Reihen der ehemaligen Russlanddeportierten lichten sich unweigerlich jedes Jahr. Um so wertvoller sind die Erinnerungen und Berichte der wenigen direkten Zeitzeugen jener so verhängnisvollen Ereignisse.
Einer der ehemaligen Russlanddeportierten die über ihre Erfahrungen in jenen schweren Jahren noch zu uns sprechen können, ist Heinrich Kasper. Der 93-Jährige lebt heute im Blumenauer Altenheim. Auf die Frage, ob er nun mit seinem damaligen Schicksal hadern würde, das ihn für knapp fünf Jahre fern der Heimat unschuldig in ein Arbeitslager verschlagen hatte, antwortet er ohne zu zögern: „Nein, absolut nicht.“ Hass oder Selbstmitleid sind aus seinen Worten nicht zu erkennen. Im Gegenteil, der gebürtige Neustädter ist sogar dankbar, dass die letzten Jahre der Deportation leichter gewesen seien, dass ihm für fünf Jahre Schachtarbeit sieben Jahre Dienstalter anerkannt wurden, dass seine Rente, nach 1989 aufgebessert wurde. Eine Heldenallüre kommt bei ihm nicht zum Vorschein, selbst wenn es um seine Fluchtepisode aus der Deportation geht.
„Jetzt sind wir alle gleich!“
Begonnen hatte alles am 13. Januar 1945 als auch er von zu Hause aus der Neugasse von einem rumänischen und einem russischen Soldaten abgeholt wurde. Für die Eltern war es ein weiterer schwerer Schlag, nachdem sein fünf Jahre älterer Bruder Hans als vermisst auf der Front in der Ukraine galt. Das Gerücht, dass die Sachsen ausgehoben werden, lief auch in Neustadt herum. Trotzdem: Heinrich entschloss sich, nur einen Rucksack zu packen und mitzunehmen. Keine schweren Koffer, wie vor einigen Monaten, als er nach Bukarest zu einem vormilitärischen Vorbereitungslager einberufen worden war und wo er selber spüren musste, wie schwierig es ist, in kilometerlangen Fußmärschen einen schweren Koffer mit sich zu schleppen.
Es folgten die zwölf Tage einer Fahrt in einem Viehwaggon mit allen Unannehmlichkeiten die bereits aus anderen Schilderungen bekannt sind: viele Leute auf engem Raum, notdürftig eingerichtete Pritschen; ein Ofen der die Kälte etwas milderte, Wassermangel, unhygienische Zustände. Kasper war im Zug zusammen mit Neustädtern und Zeidnern. Eine erste Regel die allgemein eingehalten wurde, fasst der heute im Rollstuhl Sitzende wie folgt zusammen: „Jetzt sind wir alle gleich!“ Keine Privilegien, dafür aber Zusammenhalt der Schicksalsgenossen und, so weit wie möglich unter extremen Zuständen, gegenseitige Achtung.
Nach einem ersten Aufenthalt im Lager Parkomuna (heute Perevalsk) folgte im März 1945 bei Schneegestöber die Umsiedlung ins Lager Nikanor (heute heißt die Ortschaft im Donbas Zorynsk), wo die Deportierten selber sich einrichten mussten, da es zunächst z.B. nur einige Bretter aber keine Betten oder ein Bad gab.
Heinrich Kasper, damals 19 Jahre alt, entschied sich schnell für die Zuteilung zum Arbeitsdienst im Kohleschacht. Da wurde in drei Schichten zu je acht Stunden gearbeitet. Obwohl die Arbeitsbedingungen nicht leicht und gefährlich waren, zog es den ehemaligen Zimmermaler-Lehrling der Zeidner Firma Eduard Novi vor, in die Berggrube zu gehen.
Im Schacht war es im Winter warm und im Sommer kühler, begründet Kasper diese Wahl. Und es gab eine Aufbesserung der Essportion die ansonsten hauptsächlich aus 200 g Brot und einer Suppe bestand, die eigentlich mehr einem trüben Wasser ähnelte in dem man ein Stück Gurke und im Frühjahr eine Rübe finden konnte.
„Ich bin auf einer Wanderschaft gewesen“
Seine Flucht aus dem Lager umschreibt Heinrich Kasper bescheiden und selbstironisch: „Ich bin 1946 auf einer Wanderschaft gewesen. Ein Monat war ich weg.“ Der Grund war die Gefahr einer Gasexplosion an seiner Arbeitsstelle in der Mine. Als er wieder an jener Stelle zugeteilt wurde, wo er für die Ventilation der Gase bohren sollte unter dem hohen Risiko, dass die nicht entwichene Gasmenge explodiert, zog er es vor, sich im nahen Wald zu verstecken. Seine Rechnung lautete: „Die suchen nach mir, finden mich und schicken mich in den Strafschacht, wo es dennoch nur besser sein kann.“ Es war im Juni, er trug Arbeitskleidung und Gummigaloschen. Die Rechnung ging nicht auf, denn nach drei Tagen war er immer noch auf freiem Fuß. Kasper nahm sich vor, stets der Richtung Westen zu folgen. Er mied Straßen und folgte einem Zuggleis. Der nahe Streifen von Dickicht und Gebüsch der eigentlich im Winter die Gleise bei Schneeverwehungen schützen sollte, stellte eine gute Versteckmöglichkeit dar im Falle unliebsamer Begegnungen mit Soldaten oder anderen Ordnungshüter. Sein Russisch war spärlich, aber er war nicht auf den ersten Blick als Sträfling erkennbar. In der Nacht, so erinnert sich der ehemalige Flüchtling, trachtete er danach, mit dem Gesicht in Richtung Westen einzuschlafen. Am Morgen war er sich aber nicht immer sicher, ob er sich im Schlaf nicht umgedreht hatte und so in die falsche Richtung losmarschieren würde.
Beim ersten Bahnhof wartete er in der Nacht auf einen Zug der nach Westen fuhr um auf ihn aufzuspringen. Es war ein Lastzug mit Kohlen. „Ich hab mich auf die Kohlen gelegt und geschlafen“. Bei einem Halt lief er zu einem nahen Bach und stillte dort seinen Durst. Als er den Pfiff der Lokomotive hörte, lief er schnell zum Zug zurück … und wurde dort von einem Wachposten erwartet, der wissen wollte, wer er sei und was er treibe. Bis zuletzt sollten andre Soldaten ihn in Empfang nehmen und zu einer „Kaserne“ bringen. Er landete aber auf einen Milizposten wo er auch auf einen Russen stieß, der ebenfalls zu erklären hatte, was er vorhabe. Beide Flüchtlinge gaben zu erkennen, dass sie Hunger haben. Die Antwort des Ordnungshüter war eindeutig: „Zuerst arbeiten, dann essen!“ So mussten die Beiden zunächst den Schutt aus einem Zimmer wegschaufeln bevor sie was zu Essen bekamen. Letztendlich entschied ein Offizier, der wohl nicht viel Papierkram und andere Komplikationen haben wollte: „Geht zurück, von wo ihr gekommen seid!“
Für Kasper war das der Bahnhof. Und diesmal entschied er sich für einen Personenzug. Er hatte bemerkt, dass jeder Schaffner für je einen Waggon zuständig war, sich aber nur für die Fahrgäste im Waggon kümmerte und nicht um jene die an den Treppen mitreisten. Für solche Schwarzfahrer war die Bahnhofpolizei zuständig die sie einfach vom Zug herunterzog und in Empfang nahm.
Kasper kam in Gespräch mit einem Russen der wohl gemerkt hatte, dass er es mit einem Flüchtling zu tun hatte. Der gab ihm folgenden Ratschlag: „Hör her, so kommst du nicht nach Hause. Fahr ein Stück, geh arbeiten auf einem Kollektiv. Dort erholst du dich, bekommst zu essen, verdienst etwas Geld. Und dann geht es weiter.“ „So wird‘s sein“, leuchtete es Kasper ein.
„Ich hatte Glück“
Er hatte bereits einige hundert Kilometer hinter sich und versuchte nun eine Arbeitsstelle bei einem landwirtschaftlichen Betrieb zu finden. In einem Büro meldete er sich zur Arbeit: „Brauchen Sie Arbeiter?“ „Ja, Traktoristen.“ „Bin nicht“. „Dokumente dawai!“ Dieser Aufforderung konnte er nur ein „Njet“ entgegenbringen. „Da war ich am Ende“, erinnert sich der Deportierte von einst sieben Jahrzehnte später, im Altenheim. Denn der Mann vor ihm wackelte damals mit dem Kopf, entfernte sich kurz und kam mit einem Gewehr zurück.
Es folgten zwei Tage auf der Polizeistation im Dorf in einem Stall, wo es Gras für Pferde gab. Auch von da wäre es noch möglich gewesen zu flüchten, wäre nicht ein Wolfshund vor dem Eingang gewesen der so ein Versuch sicher vereitelt hätte.
Am dritten Tag ging es nach Poltawa. Ins Gefängnis wurde er nicht aufgenommen, da er kein Soldat war. Er kam in ein Arbeitslager wo er auf Deutsche stieß. Zunächst war Heinrich froh, wieder deutsch sprechen zu können. Später wurde er eines Besseren belehrt. Der einfache Wunsch nach Wasser führte ihn direkt in den Karzer.
Bald wurde er gerufen um einigen Soldaten vorgezeigt zu werden. Er erkannte sie weil sie aus Nikanor kamen. So begann sein Rückweg zu seinem sowjetischen Zuhause – Nikanor. Die Verpflegung für drei Tage die er mitbekam, war derart knapp, dass er sie bereits am ersten Tag aufaß. Es folgte eine Übernachtung im Gefängnis aus Charkow und dann die letzte Etappe bis zum Lager.
„Ich hatte Glück!“, sagt Heinrich Kasper. Denn beim Verhör im Lager durch einen GPU-Offizier in Anwesenheit einer Frau musste er nun erklären, warum er ausgerissen sei. Nach seiner Antwort, wiederholte der Offizier dieselbe Frage zur Empörung der Frau die dem Sicherheitsoffizier nervös entgegnete, die Antwort habe er eben zu hören bekommen. Da wusste der GPU-Mann keine weitere Fragen zu stellen und beendete mit einer Ohrfeige das Verhör. Es folgten drei Tage Karzer. Nachher kam der Arbeits-Natschalnik mit der Frage an Kasper, wo er denn nun arbeiten wolle. „Nur im Schacht!“ war die Antwort. Das wurde ihm gewährt und nachher, als ein Kamerad einen Arbeitsunfall hatte, ersetzte ihn Kasper im Bergwerk auf Dauer. Die letzten Jahre waren leichter zu ertragen. Die Lebensbedingungen im Lager hatten sich verbessert. Trotz eines Arbeitsunfalls im Bergwerk konnte Kasper dann doch gesund am 25. Oktober 1949, nach fast fünf Jahren Zwangsaufenthalt wieder in seinen Heimatort zurückkehren.
Es war eine kurze Stunde, in der Heinrich Kasper über seine Russland-Deportation sprach. An manches Detail kann er sich nicht mehr genau erinnern. Seine Schilderung reiht sich ein in andere Aussagen über die Deportation. Was sich damals ereignete, ist Teil unserer Geschichte geworden, die durch solche Berichte eine konkrete, persönliche und menschliche Dimension erlangt.
Ralf Sudrigian
Heinrich Kasper im Kronstädter Altenheim Blumenau. Foto: der Verfasser
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
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