Es ist ein Ros`entsprungen
19.12.19
oder mein schönstes Weihnachtsgeschenk
Die Kirche in unserem kleinen Dorf ist Heiligabend voll, bis auf den letzten Platz.
Links die Männer, rechts die Frauen. Auf beiden Seiten viele in der sehr schönen, ansehnlichen Tracht der Nordsiebenbürger.
Ich, noch keine zehn, sitze ganz vorne, links neben meiner Mutter, die ihre herrliche Tracht nur zu sehr feierlichen Anlässen trägt. Ich sitze direkt am Gang, um gleich vorne ans Taufbecken neben den Weihnachtsbaum zu flitzen und wie jedes Jahr ein langes
Weihnachtsgedicht vorzutragen.
Zuerst aber wird gesungen.
Meine Tante ist nur etwa elf Jahre älter als ich. Sie steht, auch in Tracht, oben auf der Empore neben der notdürftig reparierten Orgel.
Und welche Anstrengungen hat die kleine Dorfgemeinschaft unternommen, um die kurz nach dem Krieg arg mitgenommene Kirche wieder herzurichten!
Meine Familie hatte einen Blitzableiter spendiert, andere hatten das Dach repariert oder für einen neuen Innenanstrich gesorgt.
Alles war blitzblank geputzt. Kerzen brannten, die Gesichter strahlten andächtig.
Meine Tante hat nur die deutsche Grundschule besucht, danach vor Ort die rumänischen Klassen.
Ihre Mutter war mit den vier Kindern allein geblieben. Ihr Mann war noch jung verstorben, ein Sohn im Krieg gefallen, einer in Gefangenschaft. Das Elend nach dem Krieg war groß.
Als Stadtkind beauftragte mich meine Mutter mit meiner jungen Tante Sofia, die wir Fiddy nannten, den Text zu üben. Fiddy konnte vielleicht nicht so gut Deutsch, aber wunderbar singen.
Also übten wir. Es war das Lied: "Es ist ein Ros` entsprungen aus einer Wurzel zart...". Der junge Sproß, das Jesuskind.
Ich als kleiner Taugenichts erlaubte mir das kurz umzudichten und Fiddy meine Version beizubringen.
Die war: "Es ist ein Roß`entsprungen...". Mit kurzem "o" und scharf ausgesprochem "s".
Keinem fällt das bei ihrem Gesang mit leiser Orgelbegleitung auf.
Meiner Mutter ja. Das hätte ich mir gleich denken können, denn ich weiß ihr entgeht nichts. Niemals.
Noch während des Gesanges wendet sich ihr Kopf ganz langsam zu mir.
Ich blicke stur und heilig nach vorne, um den Blitzen aus Mutters Augen zu entgehen.
Es gibt Momente, da freut sich einer besonders darüber, dass die Kirche einen neuen Blitzableiter bekommen hat.
Ich bin mit meinem Gedicht "Knecht Rupprecht" von Th. Storm dran.
Trage es mit lauter, klarer Stimme vor.
Das Gedicht schließt mit den Worten: " Sind`s gute Kind, sind`s böse Kind?"
Ich gehe schnell die paar Schritte auf meine Mutter zu, stehe vor ihr, ergänze das Gedicht mit meinen eigenen Worten und frage schallend laut:
"Liebste Mutter, sag`s uns geschwind
Ist`s gutes Kind, ist`s böses Kind?"
Mutter reagiert nicht, aber iht Blick sagt mir, sie weiß es als einzige genau. Sie weiß, ich bin um Wiedergutmachung bemüht, kämpfe sozusagen darum.
Ich wiederhole die Frage laut und deutlich:
"Sag`s uns allen hier, liebste Mutter,
Ist`s gutes Kind, ist`s böses Kind?"
Mutter antwortet mit lauter Stimme:
"Ist gutes Kind!" und nach einer kleinen Kunstpause "Fast immer!"
Nach dem Gottesdienst erwartet uns alle der alte Pfarrer Herr Weniger vor der Kirche und reicht jedem die Hand.Er ist ein kleiner rundlicher Mann, streng, aber herzensgut, betrachtet mich durch seine alte, runde Nickelbrille.
"War das zuletzt deine Idee?"
"Ja, ganz allein meine!" antworte ich sehr bestimmt.
"Schön, sehr schön!"
Plötzlich hält er mir mit beiden Händen sein Buch mit den Weihnachtsliedern entgegen. Es ist ein altes Buch mit versilbertem Rand und mit riesigen Lettern, denn unser Herr Pfarrer ist ziemlich kurzsichtig.
"Das gehört ab heute dir".
Ich bin sprachlos und stelle mich schnell neben meine Mutter.
Sie flüstert mir zu: "Geh` und bedank dich schön!".
Ich aber renne zur Fiddy, halte ihr meine Lammfellmütze hin, sie begreift sofort was ich möchte.
Sie hat ein kleines Sträußchen aus Trockenblumen und Tannenzweiglein auf meine Mütze angenäht, das entfernt sie nun geschickt.
Mit der Mütze in meiner linken Hand und mit dem Sträußchen in der rechten gehe ich mit gesetztem Schritt auf unseren Pfarrer zu und sage:"Herzlichen Dank, Herr Pfarrer und Frohe Weihnachten!"
Er schüttelt mir die Hand.
Hat er eine Träne im Auge, wie vorhin meine Mutter auch?
Ich sehe mich um, viele haben den Tränern nun freien Lauf gelassen.
Die Rührseligkeit ist ein Wesenszug bei uns Siebenbürgern, aber sie kommt von Herzen.
Auf dem Weg nach Hause, stecke ich die Handschuhe in die Tasche und suche die Hand meiner Mutter. Sie versetzt mir einen ganz leichten Klaps und droht mir lächelnd mit dem Zeigefinger. Nur wir beide wissen für immer warum.
Fiddy trägt mein Päckchen von der Bescherung, meine Mutter das herrrliche Buch. Ich halte beide an den Händen und Fiddy und ich singen pausenlos und übermütig "Kling Glöckchen klingelingeling!" bis wir zu Hause sind.
Es gibt Bescherung, dann unser übliches Weihnachtsessen mit Nudelsuppe, Bratwurst mit gestampften Kartoffeln und Krautknödel, dann Kipferl, Nuss- und Mohnkuchen.
Auf einem Stuhl neben mir ist das Buchgeschenk.
Wir singen einige Male mehrstimmig "Oh, du fröhliche" - unser Lieblingslied zu Weihnachten, unsere Familie ist sicherlich kein stilles Völkchen.
Ich lege mich spätabends müde neben den geschmückten Weihnachtsbaum hin und schlafe ein. Mutter läßt mich dort weiterschlafen, sie legt mir ein Kissen unter den Kopf und deckt mich zu.
Im Halbschlaf höre, sie summt noch ein leises "Oh, du fröhliche!"
Am Morgen ist sie als erste wach. Ich erwache und habe das Buch im Arm. Mutter lächelt.
Wir blättern es zusammen durch, ein wunderbares Buch.
Plötzlich sehe ich das Lied da drin "Es is ein Ros`entsprungen aus einer Wurzel zart".
Ich sehe sie an. Sie fängt plötzlich an leise das Lied zu singen. Nickt mir zu, ich soll mitsingen.
Und ich singe gerne mit und betone alles goldrichtig.
Georg Rehner
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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