Grützewasser und etwa 500-800 g Brot pro Tag
15.01.09
Ottilie Gross: Erlebnisbericht über die Russlanddeportation
Die Zahl der letzten überlebenden Rußlanddeportierten wird leider immer geringer. Obwohl es Studien über die Deportation gibt, sind viele Einzelschicksale kaum zur Kenntnis genommen worden. Es wurde vielleicht noch immer nicht genug gesagt. Den Kampf ums Überleben unter unmenschlichen Bedingungen, die Stunden voller Schmerz und Kummer, die Demütigungen kann doch nur schildern, wer wirklich dabei war. Den Außenstehenden überkommt ein Schauer bei der Begegnung mit solch leidvollen Erinnerungen.
In der Bartholomäer Gemeinde aus Kronstadt, deren Mitglied Ottilie Gross ist, ist sie jetzt die einzige Überlebende der Zwangsarbeit in Rußland. Im Januar 1945 war sie 18 Jahre alt. Sie erinnert sich sehr genau an den eiskalten Winter. „Ich hatte damals gesehen, wie schon ab dem 11. Januar vor unserem Haus in der Mittelgasse immer mehr Leute zusammen gekommen waren, mit Gepäck und Koffern. Ich wusste noch nicht, worum es ging, aber die Spannung in der Stadt wuchs immer mehr", sagt Frau Gross. An einem Abend kam ihr Vater nach Hause und erzählte, die Anzeigen in der Stadt machten bekannt, dass alle im Jahr 1926 geborenen Jugendlichen sich auch zur Aushebung melden sollten. Der Vater wollte sich an ihrer Stelle melden, aber Ottilie sagte entschlossen „Nein, ich gehe! Ich bin jung, ich schlag' mich durch!".
Sie erinnert sich noch heute genau: „Am 15. Januar 1945 wurden wir mit Lastwagen in die Petersberger Strasse geführt und dort in Viehwaggons verladen, unter der stetigen Überwachung bewaffneter Soldaten. Niemand wusste, wohin die Züge fuhren, niemand wusste, wie lange die Verbannung dauern sollte. Außerdem waren die Transportbedingungen so elend, dass viele erkrankten". Der Weg dauerte etwa zehn Tage, in den schmutzigen Waggons, mit den primitivsten hygienischen Verhältnissen und der notdürftigen Versorgung. Als man Trinkwasser verlangte, wurden die Fenster zugenagelt.
Ottilie Gross verbrachte dreieinhalb Jahre in der ehemaligen Sowjetunion. Zu Beginn arbeitete sie in Mateewka (in der heutigen Ukraine), dann in Trudowskaja und in Stalino. Der Winter war noch eisiger als zu Hause - minus 40 Grad -, „so dass die Kleider an uns einfroren", erzählt Frau Gross. „In den isolierten Lagern mußten die Baracken erst gebaut werden, die Männer stellten Öfen aus Blechstücken zusammen. Die Räume waren voller Wanzen und Läuse, Wasser zum Waschen gab es kaum. Wir schliefen auf unbequemen Holzpritschen, und es dauerte lange, bis jeder einen Strohsack und eine Decke bekam. Manchmal mussten mitten in der Nacht Züge ausgeladen werden, stets mit bewaffneten Soldaten zur Seite". Nach der Arbeit im Bauwesen, folgte ein noch schwierigeres Jahr in einem Kohlenbergwerk, das durch Bombenangriffe im Krieg zerstört worden war. Die Schächte waren über 160 m tief, voll Schlamm und gefährlichem Erdgas. Es gab Stellen, wo man nur im Kriechen weiterkommen konnte. Am elendsten aber war das Essen: Gurken- und Krautsuppe oder Grützewasser mit etwa 500-800 g Brot pro Tag. Kein Wunder, dass manche sich zur Flucht entschieden. Die Vielen, denen es misslang, wurden entweder erschossen oder totgeschlagen; wenige kamen noch durch.
Ottilie kam geschwächt und krank heim. An den Tag erinnert sie sich genau: es war der 29. Juni 1948. Nur ihre Mutter war noch am Leben, ihr Vater war ein Jahr zuvor gestorben.
Die menschenverachtende Zeit in Rußland hat Frau Gross nie vergessen können, aber ihre optimistische Natur, ihre Energie, ihre Entschlossenheit und ihr ansteckendes Lachen sind auch heute ein Schutz gegen Not und Jammer. „Ich laß' mich nicht!", sagt sie lächelnd, ob es um einen bedürftigen Mitmenschen geht, der ihre Hilfe braucht, oder um einen Kampf mit der Bürokratie, wegen der zwölf kostenlosen Bahnfahrten, die sie als Rußlanddeportierte gesetzmäßig bekommen müsste. In ihrem Haus in der Mittelgasse stehen auf einem gestickten Tuch die Wörter, die sie so gut beschreiben: „Ein fröhlich Herz, ein friedlich Haus, das macht das Glück des Lebens aus!".
Christine Chiriac
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