Heimat – Sie spricht durch mich
19.10.17
Heimat – Sie spricht durch mich
INA TARTLER
Ina Tartler ist in Heldsdorf geboren. Heute lebt sie im norditalienischen Bozen/Bolzano wo sie die Abteilung Dramaturgie der „Vereinten Bühnen Bozen“ leitet. Beim im August in Heldsdorf veranstalteten Heimattreffen war sie mit dabei. Im Vorfeld dieser Reise verfasste Ina Tartler einige Aufzeichnungen die Überlegungen zu dem so strapazierten Begriff Heimat enthalten; Fragen aufwerfen aus denen ihre Erwartungen, Wünsche, vielleicht auch Befürchtungen herausklingen zu diesem Wiedersehen in und mit der Heimat. Erinnerungen kommen auf, oft begleitet von einer anderen Perspektive auf die persönliche Vergangenheit. Wie die tatsächliche Begegnung in Heldsdorf von Ina Tartler empfunden und gewertet wurde, schildert die Verfasserin in einem gesonderten Beitrag. Die Beiträge wurden auf deutsch an den angegebenen Tagen vom Bozener Radiosender ausgestrahlt und beim Heldsdorfer Treffen von Ina Tartler vorgelesen. Mit Einverständnis der Verfasserin druckt die KR Auszüge dieser Betrachtungen ab. (R. Sudrigian)
8.8.
Heute ist der 8. August. Ich reise seit den frühen Morgenstunden mit meinem Vater in unsere alte Heimat nach Siebenbürgen in Rumänien. Wir fahren mit dem Auto, langsam, Kilometer für Kilometer. Zwei Tage wird diese Reise dauern. Sie führt mich zurück in die Heimat, in das Dorf meiner Kindheit. Nach Heldsdorf. Hier habe ich einundzwanzig Jahre gelebt, bevor meine Eltern sich entschließen konnten, Rumänien im Jahr 1988 für immer zu verlassen. Sie packten das Wichtigste in Kisten und Koffer, ließen Haus, Hof und Garten zurück. Das Ziel war Deutschland, eine bessere Zukunft für die eigenen drei Kinder. In der damals noch herrschenden Ceausescu-Diktatur hatte man wenig zu hoffen, die deutschsprachige Bevölkerung noch weniger als die rumänische. – Nach vielen Jahren werde ich also den Ort meiner Geburt wiedersehen. Vielleicht sogar das Geburtshaus. Ich bin aufgeregt. Was wird mich erwarten? Was werde ich mit meinem Vater erleben? Wie werden die alten Plätze auf mich wirken? Werden sie fremd sein oder vertraut? Welche Gefühle, welche Erinnerungen werden wachgerufen? Wie wird es sein, wenn die Kirchenglocken läuten? Wenn ich die Straßen entlang spaziere? Wenn ich das Gassentor öffne und in den alten Hof blicke? Wenn ich den knorrigen Birnbaum mit der Steinbank im Garten wieder sehe? Wenn ich den Dorffriedhof besuche und das gerahmte Foto meiner verstorbenen Mutter neben das der Großeltern und Tanten an die Wand hänge? – Es spricht meine Heimat durch meine Worte. Wie schön, dass sich in meiner Wahlheimat Südtirol ein vertrauter Mensch gefunden hat, der meiner Heimat, in den Tagen, da ich unterwegs bin, im Radio eine Stimme schenkt. Dankbar und froh darüber werde ich heute Abend meinen müden Körper in einem ungarischen Ort kurz vor der rumänischen Grenze zur Ruhe legen.
9.8.
(…) Genauso wie Heimat immer die eigene ist, gehört auch die Erinnerung dem Individuum allein. Der Akt des Erinnerns aber ist ein äußerst komplexer. Erinnerungsbilder sind urplötzlich da, sie tauchen unkontrolliert auf. Kein Verstand kann sie bändigen. Durch die Erinnerung erleben wir wieder. Wir erkennen wieder. Erinnerung ist Erkenntnis. Wir erfahren und erkennen, wer wir sind. An dieser Stelle aber beginnt mein Schmerz. Ich war sehr lange nicht mehr in Siebenbürgen, habe mich sehr lange und vehement weggedreht von der eigenen Heimat und den Menschen, so dass mir gegenwärtig die eigene Geschichte nicht mehr glaubwürdig vorkommt. Ich werde mit der Reise nach Heldsdorf die Konturen meines Selbst wieder schärfen.
10.8.
Ich bin heute früh im Dorf meiner Kindheit in Siebenbürgen erwacht. Bei meiner Tante Sigrid. Sie hat sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Zurückgebliebenen im Dorf zu pflegen und zu verpflegen. Meine Tante kennt sich aus mit Krankheit und Tod. Sie arbeitet atemlos für andere, kümmert sich gemeinsam mit ihrem Mann Karl darum, das einst traditionsreiche Dorfleben irgendwie weiter am Leben zu erhalten. Heute hat sie alle Hände voll zu tun, da am Freitag das große Treffen beginnt. Für drei Tage kehren an die 300 Dorfbewohner aus Deutschland heim. Sie quartieren sich ein in den alten Höfen mit ihren neuen rumänischen Eigentümern, sie begrüßen sich, feiern Wiedersehen im Gemeindesaal. Die Blasmusik spielt, geprobt wurde vor allem in Deutschland. Es kommen alte Mitglieder der Gemeinschaft, aber auch junge, die schon in Deutschland geboren sind und ihre Wurzeln kennenlernen möchten. Sie machen Ausflüge in die Natur, zu umliegenden Sehenswürdigkeiten oder in die ehemals deutschen Städte. Es wird ein Fest werden. Sogar meine Jugendfreundin aus Tokyo trifft ein. Gemeinsam mit ihr werde ich die Dorfstraßen entlang spazieren und bereitwillig feinste Erinnerungen in Empfang nehmen. Wir werden unseren uralten deutschen Dialekt sprechen, der aus dem Luxemburgischen stammt und zuweilen eine Schweizer Sprachmelodie hat: Mår wardån iwår dåt Liewån riedån / Wir werden über das Leben sprechen. Wir werden die Spuren des Alters in unseren Gesichtern entziffern. – Als ich mit einundzwanzig Jahren mit der Familie ausreiste, war ich jung und wild. Ich hasste das Dorfleben, das viele Reden und Urteilen über andere, den Starrsinn so mancher Menschen, den Alkohol. Ich empfand alles zum Ersticken eng, das Dorf kam mir in der Jugendzeit vor wie ein mittelalterliches Gefängnis.
11.8.
(…) Mit dem Kommunismus ging nach dem Zweiten Weltkrieg die Verstaatlichung der Betriebe und damit die Enteignung der Siebenbürger Sachsen einher. Doch nicht genug. Es wurden viele Siebenbürger zur Zwangsarbeit nach Russland deportiert. Aus unserer Familie wurde die Schwester meiner Mutter „ausgehoben“, auch der Großvater väterlicherseits. Beide haben das Arbeitslager überlebt. Der Großvater kehrte bis zur Unkenntlichkeit abgemagert heim ins Dorf, der Tante gelang beim zweiten Mal die Flucht nach Österreich. Auch überlebende siebenbürgische Soldaten des Zweiten Weltkriegs konnten nicht oder hatten Angst aus der Gefangenschaft nach Rumänien zurückzukehren, sie blieben in Deutschland und forderten ihre Familien in die neue Heimat. So begann in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts die sogenannte Familienzusammenführung. Ein Prozess, der zu einem knallharten Ausreisegeschäft führte, zum „Ausverkauf“ der Siebenbürger Sachsen. Deutschland hat in den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts Kopfgeld - damals D-Mark - in Milliardenhöhe für die Freilassung der Rumäniendeutschen gezahlt. Hinzu kamen fette Summen privater Schmiergelder. Unsere Familie zahlte 30.000 D-Mark Schwarzgeld für den Pass. Mein Vater hat mir versprochen, sich an das Geschäft unserer persönlichen Ausreise genau zu erinnern, er wird mir erzählen, wie er die D-Mark in einer Konditorei in Kronstadt unterm Tisch überreichte, selbstverständlich ohne Quittung. Am 27. Mai 1988 stieg unsere Familie in den Zug Richtung Deutschland.
12.8.
(… ) Selbst wenn die Erinnerung an das, was als Heimat aus mir spricht nicht immer süß klingt wie die Lieder der Vorfahren, gehört sie zu mir. In den letzten Jahren wurde mir dies mehr und mehr bewusst. Zuerst war Abgrenzung notwendig, um als junger Mensch im Westen Neues, Anderes für mich zu entdecken. Jetzt holt mich die Zeit zurück, die Erinnerung, das Leben. Ich bin versöhnlicher geworden, glaube ich, auch mutiger, da die zum Teil dunklen Erinnerungen an meine Jugendzeit mich nicht mehr in den Grundfesten meiner Identität erschüttern können. Ich bin bereit für ALLE Schattierungen meiner Lebensgeschichte. Neugierig und kritisch, sensibel und zur Hingabe bereit stehe ich gemeinsam mit meinem bald achtzigjährigen Vater drei Tage lang inmitten der einstigen Dorfbewohner/innen. Sie sind in der alten Heimat zusammengekommen, um großes Wiedersehen zu feiern. (…)
München, den 3. August
Ina Tartler vor dem Bozener Stadttheater. Foto: Othmar Seehauser
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
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Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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