“Jeden Patient als einen Einzelfall behandeln”
01.04.21
Interview mit Mona Comsa
Die Absolventen des Honterus-Lyzeums arbeiten heute, in der ganzen Welt verstreut, in allen denkbaren Bereichen - unter ihnen sind Star-Musiker, Informatiker, Top-Manager, Politiker, Schriftsteller, anerkannte Ärzte oder Architekten. Ob in London, Abu-Dhabi, Wien, Berlin, New York, Bukarest oder Kronstadt - die meisten von ihnen denken gerne an ihre gemeinsame Schulzeit zurück. In der Karpatenrundschau werden wir in den nächsten Monaten einige der ehemaligen Honterianer vorstellen, die heute eine erfolgreiche Karriere haben. Falls Sie auch jemanden kennen, der das Honterus-Lyzeum absolviert hat und sich in seinem Bereich bemerkbar gemacht hat, können Sie uns gerne ihre Vorschläge auf kronstadt@adz.ro zusenden. Wir freuen uns auf jede Idee!
2004 hat Monica Comsa das Honterus-Lyzeum absolviert. Seit 2013 lebt sie in der Nähe von Newcastle, England und ist im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig. Nach einem sechsjährigen Medizinstudium und zweieinhalb Jahren als Assistenzärztin in Klausenburg zog sie nach England, wo sie ihre Ausbildung weiterführte. 2017 wurde sie Mitglied des Royal College of Psychiatrists, der Organisation der Psychiater in Großbritannien und Nordirland und seit Anfang dieses Jahres ist sie Berater im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie beim Northumbria Healthcare Trust, der Gesundheitsdienste für Krankenhäuser und Gemeinden anbietet. Comsa führt klinische Untersuchungen und Behandlungen bei Kindern zwischen 5 und 18 Jahren mit ernsthaften psychischen Störungen und Erkrankungen durch, beaufsichtigt Assistenzärzte, koordiniert multidisziplinäre Teams und entwickelt medizinische Dienstleistungen. Über die Auswirkung der Pandemie auf junge Leute, über ihre Arbeit und über ihre Erinnerungen an die Schuljahre und an Kronstadt sprach Mona Comsa mit KR-Redakteurin Laura Capatana Juller.
Womit beschäftigst du dich konkret?
Ich arbeite als Kinder- und Jugendpsychiaterin neben Newcastle im Ambulatorium. Dort behandle ich Kinder mit unterschiedlichen Leiden, wie Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Angststörungen, Psychosen. Und meine Rolle ist es, die persönliche Geschichte jedes einzelnen Patienten zu verstehen und auch inwieweit ihn das Leiden bedrückt, um ihm weiterhelfen zu können. Denn jeder Mensch ist verschieden, hat seine eigene Geschichte und man kann ihn nur als Einzelfall behandeln. Manchmal arbeiten wir in multidisziplinären Teams, die aus Psychologen, Psychotherapeuten, Ärzten, Apothekern, Sozialassistenten bestehen, und versuchen die Ursache, den Auslöser des Problems herauszufinden. Hat es mit der Schule zu tun, mit der Familie, mit Außenfaktoren? Nur indem wir dem Problem auf den Grund gehen, können wir dort anpacken, wo es nötig ist und eine Lösung finden. In diesem Sinne nehmen wir Kontakt mit der Familie, der Schule, gegebenenfalls mit der Sozialassistenz auf und arbeiten zusammen. Das Gute ist, dass man psychische Störungen und Erkrankungen behandelt kann. Die Behandlung dauert in der Regel Monate. Emotionale Störungen wie Tics, oder Zwangs- und Angststörungen beispielsweise können durch wöchentliche Psychotherapie vollständig behandelt werden. Wird eine Person allerdings von den Beschwerden sehr gequält, sodass sie monatelang nicht aus dem Zimmer oder aus dem Haus geht, dann verschreiben wir Antidepressiva. Der Genesungsprozess dauert in diesem Fall länger.
Ist die Behandlung in England kostenlos?
Hier ist alles kostenlos für den Patienten, allerdings gibt es lange Wartelisten. Je schlimmer die Situation des Patienten, desto schneller erhält er einen Termin: wer selbstmordgefährdet ist oder an einer schweren Depression leidet, erhält einen Termin am nächsten Tag, für Magersucht wird man in höchstens zwei Wochen empfangen, wenn es um Hyperaktivitätsstörung geht, dann kann es auch ein Jahr dauern, bis ein Platz frei wird. Es gibt auch Privatkliniken, sich dort behandeln zu lassen ist allerdings sehr teuer.
Wie kommt es zu geistigen und seelischen Störungen und Erkrankungen bei Minderjährigen?
Man muss verstehen, was eine psychische Krankheit ist. Jeder kann schlechte Tage haben und sich unwohl fühlen. Aber sobald das Leben davon beeinflusst wird und die alltäglichen, sozialen und schulischen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden, geht es um eine psychiatrische Störung oder Erkrankung. Diese kann nicht direkt auf eine Ursache zurückgeführt werden. Für ihre Entstehung werden allerdings zwei Faktoren in Betracht gezogen: die Außenfaktoren, wie Erziehung, Lebensbedingungen, belastende Lebenserfahrungen in der Vergangenheit, sowie auch die biologischen Faktoren (genetische Belastung oder Stoffwechselveränderungen im Gehirn) oder familiäre Bedingungen. Wenn jemand einen Großvater mit einer psychiatrischen Störung hat und in der Schule gemobbt wird, kann es ihn stärker beeinflussen, als Kinder, die diese Vulnerabilität nicht haben. Um sich harmonisch zu entwickeln brauchen Kinder Liebe, Sicherheit, regelmäßige Aufmerksamkeit, ein Gefühl der Wertschätzung. All diese sind bedeutend für die Entwicklung eines guten Selbstwertgefühls und unterstützen seine Selbständigkeit. Wenn es an diesen stark mangelt, kann es manche negativ beeinflussen und das kann zu geistigen Problemen führen.
Wie wird die psychische Krankheit in England gesehen? Ist es ein Tabu-Thema, so wie in Rumänien?
In England arbeiten wir viel mit den Angehörigen der Patienten zusammen und erklären ihnen, dass es jeden von uns treffen kann und dass es keine Schande ist, geistig oder seelisch krank zu sein. Diese Situation anzunehmen ist allerdings ein Prozess. Wir (anm. d. Red. Mitglieder multidisziplinärer Teams) wie auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, Wohltätigkeits- und Elternvereine, oder Gruppen, die sich für geistige Gesundheit einsetzen, informieren darüber. Solche Störungen oder Krankheiten müssen wie die körperlichen Erkrankungen betrachtet werde, wie beispielsweise Magengeschwür. Warum ist es in Ordnung an Magengeschwür zu leiden und es mit Medikamenten zu behandeln, aber nicht in Ordnung psychiatrische Beschwerden zu haben und Antidepressiva zu schlucken?
In Rumänien gibt es leider ein sehr großes Stigma-Problem diesbezüglich.
Auch in England schämen sich manche Leute geistig Kranke in der Familie zu haben oder selbst erkrankt zu sein. Dennoch kommen sie in die Therapie, zu Kontrollen und befolgen die Angaben der Ärzte. Wenn der Patient seine Probleme wahrnimmt, dann wird er sich selbst helfen, oder Hilfe suchen.
Du arbeitest mit Kindern. Bindest du dich an sie, leidest du mit ihnen?
Ich liebe es, mit Kindern und deren Familien zu arbeiten und finde, es ist ein Vorrecht gemeinsam mit deren Angehörigen Methoden umzusetzen, die auf lange Sicht von Vorteil sind. In manchen Fällen entsteht eine Bindung... wir sind Menschen. Die Erfahrung lehrt mich aber, mir der eigenen Emotionen bewusst zu werden. Es ist in Ordnung von ihnen bewegt zu sein, aber man muss sich dessen bewusst bleiben. Ich finde, man kann seinen Beruf nicht gut ausüben, wenn man sich nicht mit einbringt; die größte Freude ist es, wenn die Patienten wieder gesund sind.
Welche Auswirkungen hat die Coronavirus-Pandemie auf Kinder und Jugendliche?
Der Lockdown und die Pandemie an sich haben sehr viele Leute betroffen. Man muss keine psychische Störung oder Erkrankung haben, um deswegen Schwierigkeiten, depressive Zustände, Symptome von Angststörungen zu empfinden. Psychische Störungen und Erkrankungen sind immer häufiger.
Vor allem auf Jugendliche hat sie sehr negative Auswirkungen. Schüler erleben viel Stress wegen der Online-Schule, machen sich Sorgen, empfinden Angst, sie sozialisieren nicht ausreichend, sodass die Anzahl der Depressionen, wie auch der Krankenhausaufenthalte zugenommen hat. In Großbritannien leidet einer von acht jungen Leuten an psychischen Störungen, besonders in benachteiligten Familien ist die Gefahr höher.
Was kann man dagegen tun?
Wir müssen darauf vertrauen, dass wir darüber hinweg kommen! Physische Tätigkeiten zu verrichten, wie Sport, Tanz, Spaziergänge an der frischen Luft, aber auch Aufräumen oder Ausmisten, ein festes Erholungsprogramm können helfen. Man sollte alles mit kleinen Schritten angehen, sich Pausen gönnen und Hobbys verrichten. Kinder und auch Jugendliche brauchen eine klare Routine um sich in Sicherheit zu fühlen, da hilft es einen Stundenplan zu gestalten mit den täglichen Aktivitäten, einschließlich gemeinsamen Tätigkeiten mit der Familie. Und man sollte offen mit größeren Kindern und jungen Leuten über die aktuelle Situation und über ihre Probleme sprechen.
Welches sind deine Zukunftspläne?
Auf kurzer Sicht will ich die Pandemie überleben. Auf lange Sicht wünsche ich mir, eine Familie zu gründen. Beruflich wünsche mir eine Brücke zwischen Pädiatrie, Krankenhäusern und Arztpraxen zu schaffen, um Kinderärzten zu helfen psychiatrische Störungen und Erkrankungen besser zu verstehen und Krankenschwestern und Helferinnen den Umgang mit Kindern, die beispielsweise an ADHS leiden, zu erleichtern.
Wendest du deine Deutschkenntnisse noch an?
Wenn ich meine Schwester in Deutschland besuche, dann ja. Aber sonst habe ich keine Gelegenheit, Deutsch zu sprechen und vergesse es. Das tut mir sehr leid.
Planst du nach Rumänien zurück zu ziehen und dein Wissen hier einzusetzen?
Ich habe mich hier niedergelassen, mein Ehemann ist Engländer, wir sind hier tätig.
Wie oft besuchst du deine Heimatstadt?
Vor der Pandemie kam ich zweimal im Jahr zu Besuch.
Erzähl uns eine nette Erinnerung aus der Schulzeit.
Es gibt sehr viele. Mir fällt spontan das Honterusfest in der Schulerau ein, der Fasching, der etwas ganz besonders war, das Skipokal. Ich erinnere mich an die vereinte Gemeinschaft, die es gab. Die Lehrer waren sehr toll. Ich denke gerne an die Zeit zurück. Das Wichtigste ist, dass wir die Verbindung zu den Kollegen aufrechterhalten haben, meine allerbeste Freundin ist eine ehemalige Schulkollegin.
Vielen Dank für das Gespräch!
Mona Comsa bei der Mitgliederzeremonie beim Royal College of Psychiatrists. Foto: privat
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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