„Nichts ist vergessen, niemand ist vergessen“
16.01.20
In Bartholomä wurde der Opfer der Russlanddeportation gedacht
75 Jahre sind es seitdem auch in Kronstadt, in Bartholomä, Siebenbürger Sachsen, Männer und Frauen, nach Russland in Arbeitslager verschleppt wurden. Ein Menschenalter ist also seit jenen tragischen Ereignissen vergangen; die jüngsten damals Verschleppten sind heute über 90 Jahre alt. Bei der Gedenkfeier von Sonntag, 12. Januar, am Bartholomäer Kirchhof war diesmal kein(e) Deportierte(r) vertreten. Die direkt Betroffenen werden immer weniger. Die Deportation bleibt aber „das Nachkriegsereignis, das sich dem kollektiven Gedächtnis am tiefsten eingeprägt hat“. An dieses Zitat der Journalistin und Geschichtsforscherin Hannelore Baier erinnerte der Kronstädter Altdechant Klaus Daniel in seiner Predigt die er am Sonntag in der ehemaligen Sakristei der Bartholomäer Kirche hielt. 445 Bartholomäer aus der damals 1946 Seelen umfassende Kirchengemeinde wurden aus ihren Familien entrissen. Mit fast einem Viertel Verschleppten waren die Bartholomäer einer der von diesem Verbrechen am härtesten getroffenen Gemeinden. Ihre Namen sind bekannt; Ingeborg Klein hat sie in Listen mit Anschrift und Geburtsjahr zusammengefasst. Pfarrer Daniel umriss in ergreifenden Worten das damalige Leid: außer Hunger, Kälte, Freiheitsentzug, Krankheit quälten die Verschleppten genauso schmerzhaft die Ungewissheit über das Schicksal ihrer zurückgelassenen Kinder, Geschwister, Eltern sowie das ständige Heimweh. Das war ein weiterer Grund für die vor allem in den ersten zwei Deportationsjahren hohe Sterbeziffer. Klaus Daniel erwähnte auch das Leid der nun Alleinstehenden von zu Hause - vor allem Kinder und ältere Leute. Er selbst erlebte in seinem Heimatdorf, wie nach der Enteignung fremde Leute Ställe, Scheunen, ganze Haushalte leerräumten, wie immer wieder Todesnachrichten eintrafen. Dieses Leiden, in der Ferne und zu Hause, bleibt für uns unverständlich, obwohl es gottgewollt sein muss. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ - die Worte des Apostels Paulus (Römer 12) brachte Altdechant Daniel in Erinnerung. Der Drang nach Rache, Vergeltung, die Feindschaft selber werden so überwunden.
Nach dem Gottesdienst begaben sich die Teilnehmer (unter ihnen Wolfgang Wittstock und Arnold Ungar, Vertreter des deutschen Kreisforums im Kronstädter Kreisrat bzw. Stadtrat sowie Unterstaatssekretär Octav Bjoza, Vorsitzender des Landesverbandes der ehemaligen politischen Häftlinge -AFDPR - und Vorstandsmitglieder der Kronstädter Kreisfiliale dieses Verbandes) geschlossen zum Gedenkmal am Bartholomäer Kirchhof. Eingeleitet wurde dieser feierliche Moment durch das von Josef Mich gebotene Trompetensolo mit der Melodie „Ich hatt‘ einen Kameraden“. Nach der von Pfarrer Klaus Daniel gehaltenen Andacht sowie nach den kurzen Ansprachen von Octav Bjoza und dem Bartholomäer Kurator Albrecht Klein, beendete der ebenfalls als Trompetensolo dargebotene Choral „Näher, mein Gott, zu Dir“ diese schlichte aber ergreifende Feierlichkeit.
In der Predigt, in den Ansprachen, in den anschließenden Gesprächen bei Kaffee und Kuchen im Gemeindesaal des Bartholomäer Pfarrhaus wurde wiederholt das angesprochen, was wohl allen Anwesenden am wichtigsten war. Die Opfer der Deportation vor nun 75 Jahren dürfen nicht vergessen werden. Die Deportation war in der Öffentlichkeit in den Jahren des kommunistischen Regimes ein Tabuthema. Klaus Daniel konnte vor einigen Jahren zusammen mit anderen Mitgliedern einer Reisegruppe an den Orten der Deportation in der Ukraine keine Spuren der ehemaligen Arbeitslagern vorfinden. Selbst die Gräber der fern der Heimat Verstorbenen bleiben der Öffentlichkeit, den Nachkommen unbekannt. Das sowjetische Regime hat alles getan, um die Spuren dieser tragischen Episode zu verwischen. „Nichts ist vergessen, niemand ist vergessen.“ Das müsste z.B. an einem der wenigen, großen, noch vorhandenen Grundsteinen der ehemaligen Baracken auf einer Tafel zu lesen sein, forderte Daniel.
„Vergeben ja, aber nie vergessen“ - war die Botschaft von Octav Bjoza an dem Bartholomäer Gedenkmal das an die Opfer von Krieg und Deportation in den Jahren 1940-1950 erinnert. Außer den Bartholomäern legte auch die Kronstädter AFDP-Kreisfiliale einen Kranz nieder mit der Botschaft „In ewiger Dankbarkeit – Den Opfern der sowjetischen Besatzung“. Solche Verbrechen dürfen nie vergessen werden, denn sie dürfen sich niemals und nirgendwo wiederholen, sagte Bjoza. Er selber freue sich immer, wenn er bei solchen Gedenkfeiern auch die junge Generation begrüßen könne, meinte der AFDPR-Vorsitzende nachträglich im Gemeindesaal. Manchmal habe er den Eindruck, das heute jüngere Leute solche tragische Ereignisse der jüngeren Geschichte nicht in ihrer ganzen Tragweite erfassen können und sogar manches als Übertreibungen anzweifeln.
Kurator Albrecht Klein dankte am Denkmal den Anwesenden für ihre Teilnahme und erinnerte einige der Kernsätze aus der Predigt, für jene der Gäste die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Er unterstrich auch seine Ansicht, dass die Deportation eigentlich einen geschichtlichen Prozess einleitete, der das Schicksal der Siebenbürger Sachsen für immer geprägt habe. Für die beeindruckende nachbarschaftliche Hilfe, für den Zusammenhalt der so stark betroffenen Gemeinschaft nannte Klein auch ein vielsagendes Beispiel: in jenen schweren Zeiten, wo manche Höfe wie verlassen waren, wurde einem nun alleinstehendem Kind täglich bei verschiedenen Familien ein warmes Mittagessen gesichert. Die Russlanddeportation hatte Familien getrennt, aber die Gemeinde enger zusammengebracht.
Ralf Sudrigian
Altdechant Klaus Daniel und Kirchenkurator Albrecht Klein an der Spitze des Zugs zum Bartholomäer Gedenkmal. Foto: Ralf Sudrigian
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