Ohne „elektronische“ Märchen (II)
04.10.18
Wie ich die Zeit als Grundschulschüler und Gymnasiast von 1933 bis Ende 1946 in Nordsiebenbürgen erlebte/von Dr. Johann Böhm
Auch 1933 sollte eine Jahreszahl sein, die noch in 1000 Jahren zitiert werden wird. Niemand konnte ahnen, dass der Stichtag 30. Januar 1933 auch für die Siebenbürger Sachsen der Anfang vom Ende der damaligen Weltordnung sein würde. Keiner konnte es für möglich halten. Es kam wie eine todbringende Lawine, ausgelöst durch die Gründung der NS-Bewegung unter Fritz Fabritius und Dr. Alfred Bonfert. Keiner der Deutschen in Siebenbürgen und im Banat verstand das Ganze der damaligen Zeit. Ich war vier Jahre alt und hörte mir nur Geschichten an, die meine Mutter mir erzählte. Das schicksalhafte Ereignis, Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, lasen die meisten Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben in den Tageszeitungen. Im Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatt vom 1. Februar 1933 schrieb Hans Plattner (H.P.) unter anderem: „Was schon früher hätte geschehen sollen, ist nun Tatsache geworden: Reichspräsident von Hindenburg hat Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt“. Wir im Gässchen erfuhren die Neuigkeit durch ein Exemplar des Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatts, das mein Vater vom Markt aus Sächsisch Reen mitbrachte. Nach der Lektüre der Nachricht, hatte meine Mutter so ängstliche Augen, als sei im nächsten Moment etwas Schreckliches zu erwarten. Es kam über Deutschland wie ein Gewitter, das sich auch im deutschen Siedlungsraum von Rumänien ausbreitete, und die betreffenden Generationen ahnungslos und ausweglos, sowie ermüdet vom Schicksal dastanden.
Von Protesten Widerstand oder dem Auftrumpfen einer Opposition konnte man weder in Deutschland noch in Siebenbürgen sehen oder hören. Den Siebenbürger Sachsen schien - wie ich später erfuhr -, als würde die „nationale Sache“, wie Hitler und auch Fabritius ihr Vorhaben nannten, von den Deutschen gutgeheißen. Das hatte viel zu tun mit Hitlers erster Ansprache, die nach seiner Wahl über alle deutschen Sender übertragen wurde. Da saßen viele Botscher vor den wenigen Radios, und hörten zum ersten Mal Hitlers Stimme. Er sprach als Reichskanzler vor dem „Deutschen Reichstag“. Auch meine Mutter, zusammen mit mir, Freunden, Nachbarn und Bekannten, die kein Radiogerät besaßen, verfolgten atemlos vor dem schwarzen Kasten im Wohnzimmer bei Familie Lienerth die Übertragung. Hitlers unheimliches Sprechorgan klang wie wütendes Bellen, aber was er sagte, war Baldrian für die Hörer. Mit den Worten: „Deutsches Volk, gib uns die Zeit von vier Jahren, dann richte und urteile über uns“ danach verkündete er den ersten „Vierjahresplan“. Er verhieß die Lösung aller Probleme, die Rettung der Wirtschaft, der Bauern, der Arbeiter. Auch Fritz Fabritius, der Hitler 1922 kennen gelernt hatte, gab ein Kampfblatt mit der Überschrift „Selbsthilfe, Kampfblatt für das ehrlich arbeitende Volk“ heraus, in dem er unter anderem für ein „artgemäßes“ deutsches Denken und Handeln, für die Anerkennung des Grundsatzes „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ warb. Hitler sprach von „Volksgemeinschaft“ von „Brüderlichkeit“ und „Kameradschaft“, was bei Fabritius flammende Begeisterung für seine NS-Bewegung entfachte. Die Siebenbürger Sachsen sollten vom wirtschaftlichen und sozialen Druck der rumänischen Regierung befreit werden. Insgeheim waren auch meine Eltern davon erfasst, auch unsere Nachbarn sowie viele parteilose Siebenbürger Sachsen. War es nicht naheliegend? Seit den Karlsburger Beschlüssen vom 1. Dezember 1918 kannten die Deutschen in Rumänien nichts anderes als die Missachtung dieser Beschlüsse durch die Regierung in Bukarest. Es waren trostlose Zeiten, die keinen Lichtblick boten. Kein Wunder also, dass die Leser der Gazetten dieser Zeit zu der Meinung kamen: Alles ist wohlgeordnet, die „neudeutschen“ Bemühungen und Verhaltensmuster sind die edelsten der Welt und die nordische Rasse sowieso. Alles wurde blitzsauber präsentiert. Und fiel einmal ein Russkörnchen auf eine der wunderbaren „neudeutschen Errungenschaften“, so sagten diese Leser: „Wenn das der Führer wüsste!“
Und tatsächlich, die nationalsozialistische Ideologie wurde „gut verkauft“. Da „denken lassen“ viel risikoloser ist als „selbst denken“, bildete sich erstaunlich schnell das so genannte „gesunde Volksempfinden“ dieser Zeit und übte seinen Sog auf alle Zauderer aus, deren Gehirn dann auch „gebräunt“ wurden. Nur hinter vorgehaltener Hand sprach man von Missständen des NS-Regimes. Das mit den Juden konnten wir als Heranwachsende am wenigsten verstehen, lernten aber später, dass Judenverfolgungen so alt wie diese Religion war und immer emotional bedingt. Verstanden haben wir das nicht, weil doch unsere wenigen, inzwischen von den Schulen verbannten jüdischen Mitschüler uns nie verdammenswert vorgekommen waren. Wohl aber hatten wir durchweg festgestellt, dass sie etwas anders waren als wir. Auch vor der NS-Zeit wussten wir deshalb immer, welcher Junge jüdisch war. Ausnahmen waren ganz selten. Niemand aber wäre auf die Idee gekommen, die von den Nazis eingeführten offensichtlichen Fortschritte des Volkswohls wegen der „NS-Marotte“ des Judenhasses weniger zu achten. Das Verbot, bei den Juden zu kaufen, war unserem jugendlichen Rechtsempfinden unzugänglich. Es wurde leider irgendwie hingenommen, wenn auch widerstrebend. Dass die Mehrheit der Siebenbürger Sachsen skeptisch blieb und den NS-Parolen Fabritius’ keineswegs blind vertrauten, lässt sich beweisen.
Meine Eltern und die Nachbarn tanzten albern im Gässchen herum und umarmten sich. Was war geschehen? Am 20. Dezember 1937 fanden die Parlamentswahlen ins rumänische Parlament statt. Die Luft in Siebenbürgen zitterte förmlich durch das Spektakel, die die radikal nazistische Deutsche Volksparte Rumäniens (DVR) und der gemäßigte Verband (Volksgemeinschaft) der Deutschen in Rumänien (VDR) veranstalteten. Bis ins letzte deutsche Dorf drang die radikale DVR mit ihrer eigenen Wahlliste, mit Umzügen und Kundgebungen, mit Appellen, Erpressungen ein, jedoch ohne Erfolg. Das Entsetzen im deutschen Volk von Rumänien und die auf die VDR-Führung gelenkte Abscheu der radikal nazistischen DVR, waren groß. Es zeigte sich wieder einmal, dass die DVR in enger Verbindung mit der rumänischen Eisernen Garde stand und keine Einigung mit der VDR anstrebte, obwohl die Volksdeutsche Mittelstelle (VoMi) darauf drängte. Da die DVR keinen eigenen Kandidaten für das rumänische Parlament durchsetzen konnte, war ihre Führung frustriert.
Die VOMI unternahm einen letzten Versuch, die Führung der DVR von der Notwendigkeit eines inneren Friedens in der deutschen Minderheit Rumäniens zu überzeugen. Fast einhellig akzeptierten die Führungen der Deutschen Volkspartei in Rumänien und die Volksgemeinschaft der Deutschen in Rumänien im Herbst 1938 die von der VoMi angestrebte Wiedervereinigung, die jedoch im Juli 1939 wegen unsauberen Machenschaften der Nazis um Alfred Bonfert endete. Die VoMi zitierte Alfred Bonfert ( Präsident der radikal nazistischen DVR bis November 1938, 1938 bis Juni 1939 Landesleiter der VDR), Waldemar Gust (bis November 1938 Vizepresident und Theoretiker der radikal-nazistischen DVR, November 1938 bis Juni 1939 im Beraterstab des Labdesobmanns Fritz Fabritius) und Friedrich Cloos (1934 Gaujugendführer, 1935 Landesjugendführer der radikal-nazistische DVR, Juni 1939-1940 Zentralstelle des DAF in Berlin, SD-Mitglied) wegen ihren aufwieglerischen Aktivitäten gegen die gemäßigten Nazis um Fabritius ins Reich und bot ihnen angemessene Posten an. Bonfert meldete sich als Wehrmachttierarzt, Cloos nahm ein Angebot bei der Arbeitsfront an, Dr. Waldemar Gust kam nach Kronstadt zurück und nahm seinen Buchdruckerberuf wieder auf.
Die Siebenbürger Sachsen seit Jahrhunderten gewohnt, friedlich auf ihren Höfen zu sitzen und von Zeit zu Zeit die Ochsen, Kühe und Schweine abzutasten, ob sie fett genug seien, diese Bauern, die politisch kaum aktiv gewesen waren, sahen sich plötzlich gezwungen, ganz andere Dinge zu tun als die üblichen, nämlich, sich mit Politik zu beschäftigen.
Die Klassenunterschiede schmolzen in dieser Zeit zusammen, was niemand als Nachteil empfand. Man benötigte einen schärferen Blick, um aus dem Äußeren des Menschen die Klassenzugehörigkeit zu erkennen – solange er seinen Mund nicht aufmachte. Das ist heute auch nicht anders. Die schwarzen Uniformen oder Teile davon wurden zumindest bei den Heranwachsenden im Alltag so benutzt, wie es heute die Bluejeans sind. Nur wurde damals viel mehr darauf geachtet, dass die Körperpflege nicht zu kurz kam. Der Haarschnitt war ein Steckenpferd der NS-Organisationen.
Die Siebenbürger Nazis versprachen eine Stärkung der deutschen Volksgruppe, eine wirksame Vertretung ihrer Interessen gegenüber der rumänischen Regierung und sie versprachen Gleichheit und Brüderlichkeit. Das alles klang sehr verlockend. Die Siebenbürger Sachsen glaubten, es lohne sich, die Nazi-Bewegung, die so überzeugend Verbesserungen und Vorteile auf allen Gebieten versprach, zu unterstützen
„Heil Hitler!“ nach Germanart, war nun auch in Siebenbürgen - unter den Nazis - zum neuen deutschen Gruß geworden. Anfangs lachten sich die demokratisch denkenden Sachsen halb tot über diese Freiübung mit ausgestrecktem, rechtem Arm. Aber bald fand man es nicht mehr komisch. Später wurde mir bewusst, dass alle Deutschen in Rumänien, auch diejenigen, die den Gruß nur zynisch über die Lippen brachten, Kinder ihrer Zeit waren, die kindisch auf ein kleines Glück, auf eine bessere Zukunft hofften. Mütter, Väter Händler und Bauern, alle wollten endlich mal leben. Ohne Existenzangst und Fürchtegründe, sowie ohne Angst vor den rumänischen Finanzbehörden.
Vielleicht ging es ja gut, vielleicht war der „Nationalsozialismus“ und „Hitler“ wirklich ein Glücksfall, dachten viele. Gab es nicht einige Lichtblicke, gute Zeichen eingelöster Versprechungen der rumänischen Regierung. Verschob die „NS-Erneuerungsbewegung“ nicht alles zum Besseren? Sie zupfte an den Saiten aller Herzen. Die NS-Parole: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Einer für alle, alle für Einen“ gab der NS-Selbsthilfe neuen Antrieb. Ein Großteil der Siebenbürger Sachsen träumte ohne Wecker. Keiner konnte hellsehen, niemand die Nähe zwischen Schönem und Hässlichem, zwischen Chancen und Schrecken, zwischen Höhen und Absturz, zwischen Erfolg und Erfrierung erkennen. Die Herzen der deutschen Bevölkerung brausten wie Wasserfälle. Und unsere kindlichen mit.
(Fortsetzung folgt)
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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