Ohne „elektronische“ Märchen (IV)
17.10.18
Wie ich die Zeit als Grundschulschüler und Gymnasiast von 1933 bis Ende 1946 in Nordsiebenbürgen erlebte/von Dr. Johann Böhm
Der Kriegsalltag in Botsch war weniger lustig. Allenthalben konnte man förmlich inhalieren, dass der Krieg wie Vulkanasche über Siebenbürgen und der deutschen Volksgruppe lag. Mit jedem Tag mehr. Zugleich aber - so scheint es mir heute - war trotz aller dunklen Ahnungen immer noch ein Lichtblick von Seelenstärke präsent, von Mut und kindlicher Hoffnung auf den „Endsieg“. Die Stimmung glich, innerlich intoniert, dem Strophenanfang in Luthers Choral „Und wenn die Welt voll Teufel wär’, es muss uns doch gelingen“. Bis heute unergründlich bleibt mir, wieso sich die Vorstellungskraft dieses friedliebenden Volkes der Siebenbürger Sachsen derart verdunkeln und verengen konnte. Sie schien nur noch aus vergesellschafteten Träumen zu bestehen, die an die Regeln des Verstands nicht mehr gebunden waren.
Was sich bis zum Ende dieses größten Weltkrieges in der Weltgeschichte zutrug, der sich durch den Kriegseintritt Japans auf beiden Seiten der „Achsenmächte“, auch auf dem Südpazifik, den Niederländisch - Indien und den Raum des Indischen Ozeans ausdehnte, all das, was Menschen und Völkern auferlegt war, ist in unzähligen Kriegsbüchern dokumentiert. Ich kann nur ergänzen, was mich ganz persönlich traf und betraf, unsere kleine Familie, mein Umfeld sind nur winzige Fingerabdrücke von Abermillionen Wirklichkeiten.
Wir in Siebenbürgen sammelten Spenden von Pelzen, Wollsachen und Winterschuhen für die Großdeutsche Wehrmacht, die an der Ostfront in Iglus und Hausruinen fror. Die Verluste waren hoch. Jeder Soldat, der dem unvorhergesehenen Feind, dem Frost, entging, bekam später dafür einen Orden, den die Truppe „Gefrierfleischorden“ nannte. Doch es folgte ein noch furchtbarerer Schlag, die Russen brachen im November 1942 bei Stalingrad durch und schlossen die 6. Armee (Paulus) ein. Nach der verzweifelten Abwehr mussten die 90.000 Überlebenden sich vom 31. Januar bis zum 2. Februar 1943 den Russen infolge gänzlicher Erschöpfung und völligen Munitionsmangel ergeben. Ein tiefes Erschrecken durchzuckte das deutsche Volk; die Erkenntnis kam auf, dass der Krieg verloren werde und Hitler auch daran schuld habe. Es hatte etwas mit Überlebenskunst zu tun. Wieder wünschten sich alle „Frohes neues Jahr“, doch jeder wusste, dass die Zukunft nicht mehr froh sein würde. Man misstraute schon der Gegenwart.
Die Menschen in Großdeutschland saßen in der Neujahrsnacht 1942/43 hinter verklebten und verhängten Fenstern an lauwarmen Öfen. Dünnbier, Malzkaffee, Gebäck ohne Backpulver. In Siebenbürgen hatte es eine ruhige Silvesternacht gegeben. Man hörte aber kein lautes Lachen. In Großdeutschland gab es in manchen Landesteilen Fliegeralarm. Statt Silvestersendungen im Radio hörte man im Luftschutzkeller den schauderhaften Drahtfunk, eine örtliche Station, die bei Fliegeralarm mit ständigen Luftlagemeldungen an den Nerven zerrte. Die sachlich - monotonen Durchsagen, die ich ab November 1944 selber erleben musste, machten das Unheimliche noch unheimlicher: „Achtung, Achtung! Starke Bombenverbände über ... im Anflug Richtung Südosten“. Nur noch selten hörte man Hitlers Stimme. Nach Kriegsende wurde - nach Einsicht der Akten - bekannt, er habe sich erst nach entscheidenden Siegen wieder an die Öffentlichkeit wenden wollen. Doch die Siege blieben aus.
In unterirdischen Führerhauptquartieren verkrochen, brütete er jähzornig immer weiteres Unheil aus. So auch die Einberufung wehrfähiger deutscher Männer aus Siebenbürgen und dem Banat zur Waffen-SS. Nach harten Verhandlungen konnte die deutsch-rumänische Vereinbarung über Freiwillenaktionen Volksdeutscher aus Rumänien zur Waffen-SS am Abend des 12. Mai 1943 unterzeichnet werden. Weitere Waffen-SS-Aktionen folgten. So wurden 68.000 bis 70.000 deutsche wehrfähige Männer aus Rumänien zur Waffen-SS und Wehrmacht einberufen, von denen ca. 20 Prozent im Krieg umkamen.
Das vierte Kriegsjahr. Noch im Nachhinein bestaune ich die Gelassenheit, mit der sich die Deutschen in Rumänien bewegten und begegneten. Obwohl über allen Städten und Gemeinden Siebenbürgens und dem Banat Beklommenheit lag und der Krieg sich bis ins letzte Dorf festgekrallt hatte, funktionierten die Menschen in gewohnter Weise: mit Zähigkeit und Methode und bis zuletzt mit geduldiger Arbeitsamkeit. Fast jeder blieb in dem Naturell, das ihm angeboren war. Bauer, Arbeiter, Sammler, Träumer, Egoist. So wach oder dumpf, emsig oder bequem, offen oder unzugänglich wie immer. Doch es gab einen gemeinsamen Nenner, der die deutsche Masse kennzeichnete: Trotz fehlender Anhaltspunkte hoffte insgeheim jeder, dass es doch noch gut gehen könnte. „Es wird schon werden“ war die gängige Selbsttäuschung.
Ein weiteres Phänomen ist mir erst später bewusst geworden. Niemand ließ die tatsächliche Mischung seines Blutes erkennen. Außerhalb des engsten Kreises sprach man zwar über die Kriegslasten, die jeder zu tragen hatte, aber keiner über seine persönlichen Befürchtungen und Lebensängste, nicht der Bauer während seiner Feldarbeit, nicht der Zahnarzt beim Bohren, nicht der Friseur, nicht mal die älteren Lehrer: Der Krieg spielte sich im Nebel des Ungewissen ab. Man hatte ihn angenommen wie eine unabwendbare Krankheit bis hin zum Verlust der Heimat.
Dass in jedem Augenblick deutsche Soldaten ihr Leben verloren, erregte die Gemüter weniger als vor dem Krieg der Mord an einem einzelnen. In endloser Unruhe und Sorgen jedoch waren die Eltern, Frauen, Bräute und Geschwister der Frontsoldaten. Jeder Morgen, wenn die Post kam, war für meine Großmutter eine Tortur, weil ihr Sohn Michael an der Ostfront war. Immer musste sie gegenwärtig sein, dass diesmal der Feldpostbrief mit fremder Handschrift dabei war, der die Todesnachricht in ungelenker Schrift, auf einem zufälligen Briefbogen brächte. Da die langwierige Feldpost die einzige Verbindung mit den Feldpostnummern an der Front war, lag der Sohn oder Mann meist schon längst unter der Erde, als die Nachricht eintraf. Als die Zahl der Todesnachrichten immer größer und die Verlassenheit und der Aufschrei der Angehörigen immer bedrängender wurde, ordnete die Volksgruppenführung unter Andreas Schmidt an, diese Briefe nicht mehr direkt zuzustellen. Künftig wurden sie, zur Weitergabe, an die Ortsgruppenleiter der NSDAP der Deutschen Volksgruppe in Rumänien adressiert. Dadurch bekam die Katastrophe ein Gesicht. Vor allem auf dem Land, wo jeder jeden kannte, führte es zu Panik, wenn sich der Ortsgruppenleiter einem Haus näherte.
Noch unerträglicher wurde der Umgang mit Menschenleben und Menschensterben in der Turbulenz der Rückzüge, als die Feldpost die nummerierten Truppenteile nicht mehr fand: die Briefe an die Söhne - so wie im Falle meiner Großmutter - kamen „zurück“, manche mit dem gedankenlosen, lapidaren Stempel „Gefallen für Großdeutschland“. Für manche Mütter und Frauen in Botsch - und anderswo - blieb diese Nachricht in zermürbender Erinnerung.
Als 14jähriger Gymnasiast habe ich das vierte Kriegsjahr 1943 im Gedächtnis als den Anfang eines endlosen Wegs zu einem sinnlosen Endzweck. Heute kann ich es selbst kaum glauben, dass dieses Bürschchen das ich war, dass in dieser Schauergeschichte eine kleine Rolle spielte, zweimal quer durch drei Länder fliehen musste. Und immer angespannt. Es war mehr, als manchem im ganzen Leben zugedacht ist.
(Schluss folgt)
Foto: Dr. phil. Johann Böhm wurde am 25. September 1929 in der Gemeinde Botsch/Batos in Nordsiebenbürgen geboren. Nach dem Besuch des Lehrerseminars in Schäßburg (1948 – 1952) war er bis 1960 als Lehrer in seiner Heimatgemeinde und Hermannstadt tätig. Zwischen 1960 – 1965 studierte er Geschichte in Klausenburg, zwischen 1971 – 1975 Politikwissenschaft, Geschichte und Pädagogik an den Unis in Bochum und Köln. 1984 verteidigte er seine Dissertation an der Uni Köln zum Thema „Das Nationalsozialistische Deutschland und die Deutsche Volksgruppe in Rumänien 1936 – 1944“. Dr. Johann Böhm ist Herausgeber der „Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik. Mehrere Ehrungen wurden ihm erteilt. 2006 erhielt er die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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