Tourist in der eigenen Stadt
10.06.21
Wie man die tägliche Routine mit Abenteuern ersetzen kann
Wenn die Routine überwältigend wirkt, man aber keine Zeit für Urlaub oder Reisen hat, kann manchmal etwas ganz Einfaches und zugleich Abgefahrenes helfen: eine Nacht im Hotel. In der eigenen Stadt. So fühlt man sich wie ein Tourist, kann abschalten und sich bedienen lassen, und am nächsten Tag voll und ganz wieder in den Alltag einsteigen.
Plötzlich Urlaubsgefühl
Der Zeitungsartikel, an dem ich einige Tage lang gearbeitet habe, ist fertig. Die Kinder verbringen den Nachmittag mit den Großeltern. Zuhause scheint alles in Butter zu sein: das Mittagsessen ist vorbereitet, der Hund gefüttert. Ich muss nur noch die Wäsche aufhängen, den Staub wischen, die Winterkleidung auf den Dachboden bringen und dort Ordnung machen. Gleichzeitig müssen aber auch einige Rechnungen online bezahlt werden, ein neuer Filter für den Luftreiniger bestellt und eventuell noch nach einem passenden Modell für Kinder-Rollschuhe gesucht werden. Dabei würde ich gerne einen der vielen Dokumentarfilme anschauen, der seit Tagen auf meiner Festplatte gespeichert ist. Oder mit meinem Mann ein Eis essen gehen, das Wetter ist endlich so schön. Oder ich könnte im Garten lesen oder graben. Oder eine Freundin besuchen, oder Radfahren. Vielleicht sollte ich doch den Kuchen für die Kinder backen, etwas recherchieren, oder vielleicht doch den Hof fegen.
In diesem Moment der Unentschlossenheit und Verwirrtheit hilft mir mein Mann, eine weise Entscheidung zu treffen. „Du gehst ins Hotel und schaltest dort ab!“ Zwei Stunden später bin ich in einem niedlichen Dachbodenzimmer mit Blick auf den Alten Marktplatz. Die Sonne scheint, man sieht die Zinne, den Marktplatz, die Schwarze Kirche, das Alte Rathaus, den Weißen Turm. Eine Erinnerung an einen Aufenthalt in Krakau kommt auf. Damals hatten mein Mann und ich ein Zimmer am Hauptmarkt, konnten die Tuchhallen, die kleine romanische Adalbertskirche, die zahlreichen Cafes, Restaurants und viele Touristen sehen. In Kronstadt sind nicht so viele Touristen, viele Leute tragen Schutzmasken. Wenn man bedenkt, dass im vergangenen Frühling das Stadtzentrum, während des Lockdowns fast reglos dastand, freut man sich über jedes Lebenszeichen.
Madonna und ein Kopfstand
Im Minikühlschrank der Pension finde ich zwei Schokoladenriegel und verputze sie im Nullkommanichts. Eine Stunde telefoniere ich ungestört mit einer Freundin aus Hermannstadt. Währenddessen mache ich Kniebeugen, betrachte den Himmel, schneide Grimassen im Spiegel, mache Gymnastikübungen. Wir lachen, besprechen Projekte, erzählen über Innendekoration. Danach zappe ich zwischen den TV-Programmen (Zuhause haben wir keinen Fernseher): Nachrichten, Talkshows, Tier-Reportagen, Bauarbeiten, Nachrichten, Werbung, Werbung, Werbung, Zeichentrickfilme, Musik. VH1 ist super. Noch toller ist MTV, Music Television. Ich tanze wie ein Rockstar, begebe mich plötzlich in meine Jugend im Hermannstädter Mädcheninternat wo meine Kolleginnen und ich herumalberten. Madonna ist top fit, sie bewegt sich fast wie Nadia Com²neci in Montreal, 1976. Das bringt mich auf eine Idee. Ich schaue mich im Zimmer um, entdecke eine einzige Wand, die sich für meinen Plan eignet: ich mache einen Kopfstand. Während meine Beine wackelig hin und her schaukeln, lache ich mich schief. Madonna singt und hüpft weiterhin in ihrem Videoclip. So fit will ich mit 60 Jahren auch sein!
Die Inspiration boomt
Der Hunger packt mich. Im Menü der kleinen Kronstädter Pension finde ich nichts, das meinen Gaumen verlockt, ich gehe schnell bis in ein Restaurant um die Ecke und besorge gekochtes Essen zum Mitnehmen und mit Metallbesteck. Das Essen schmeckt viel köstlicher wenn man aus dem kleinen Fenster auf den Himmel blickt.
Das Abschalten von der täglichen Routine wirkt entspannend auf auf meine meist mit To-Do-Listen überfluteten Gedanken. Die Ruhe im zeitweiligen Quartier wirkt wie eine Erhellung. Das Filmprojekt, an das ich seit Jahren denke und an das ich mich nie so richtig herangetraut habe, fällt mir ein. Ich kann jetzt mit klaren Gedanken ein Konzept entwickeln. Alle Ideen schreibe ich sofort in den Laptop – damit sie nicht verloren gehen. Ich könnte mir gut vorstellen, dieses kurze Abenteuer regelmäßig zu wiederholen, zumindest wenn ein Perspektivwechsel nötig ist.
“Wow! Das ist der totale Wahnsinn. Wie verrückt!” sagt Simona begeistert. “Wann werde ich das wohl auch wagen?” fragt sich die Mutter zweier Jungs, der eine geht in den Kindergarten, der andere in die Grundschule. Es folgt ein lockeres Telefongespräch über unsere Kinder, die so schnell und schön wachsen, über Zeit, Unabhängigkeit und Erziehung. Nach diesem Anruf schicke ich meiner Familie ein Selfie, erhalte gleich mehrere Fotos und Audioaufnahmen aus ihrem Tagesablauf.
Abends gehe ich noch eine Weile auf den leeren Straßen spazieren, freue mich über das wunderschöne Kronstadt, entdecke Fassaden der alten Gebäude, die mir vorher nicht aufgefallen sind, schaue mir alles in Ruhe an und fühle mich sorglos wie ein Tourist.
Frühstück am Fenster
Im Restaurant aus dem Erdgeschoss sitzen bereits mehrere Hotelgäste beim Frühstück. Ich wähle einen abgelegenen Tisch am Fenster, schaue die Passanten an, die wohl zur Arbeit gehen, während ich mich hier verwöhnen lasse. Das Essen ist so lecker: Omelett mit Würstchen und Salat. Danach Croissant mit viel Butter und Konfitüre. Grüner Tee mit Honig. “Mama, Mama”, ruft ein hungriges Kleinkind, es ist nicht meins. Ich genieße einen koffeinfreien Kaffee und schaue minuntenlang auf die Straße. Es ist Zeit, aus der Pension auszucchecken und in die Redaktion zu gehen. Ich blicke noch einmal durch das kleine Fenster des Dachbodenzimmers, der Himmel ist blau wie die Augen eines Babys, die Wolken flauschig wie Schlagsahne. Ich freue mich jetzt schon auf mein nächstes Abenteuer!
Tipps für einen Kurzurlaub zu Hause
Es gibt viele Vorteile, wenn man wählt, Tourist in der eigenen Stadt zu sein. Man unterstützt dabei lokale Unternehmen und erspart sich die Reisekosten. Hier ein paar Tipps, damit der Kurzurlaub in der eigenen Stadt gut gelingt:
1. Einen Stadtführer kaufen. Man glaubt, dass man die eigene Stadt gut kennt und daher keinen Stadtführer braucht. Nichts ist falscher! Oft übersieht man interessante Sachen, weil sie viel zu nahe sind. Den Stadtführer kann man anschließend einem Freund aus dem Ausland schenken.
2. Eine Privattour buchen. Eine private Tour ermöglicht es, die eigene Stadt aus einem anderen Blickwinkel zu genießen. Man wird mit Sicherheit erfahren, was man noch nicht wusste.
3. In ein Restaurant oder Cafe gehen, das man noch nicht besucht hat. Oft bevorzugt man es, in der eigenen Stadt in sein Stammlokal zu gehen. Es gibt aber sicher mehrere Cafes und Restaurants, die man schon länger ausprobieren wollte.
4. Fotografieren. Auf einem Spaziergang durch die eigene Stadt kann man versuchen, bekannte Sehenswürdigkeiten aus anderen Blickwinkeln zu fotografieren.
5. Ein Abend im Theater oder im Kino. Oft versäumt man Veranstaltungen in der eigenen Stadt, und das ist schade. Kinos und Theater sind jetzt offen, und bei einem Kurzurlaub in der eigenen Stadt könnte man einen Abend hier verbringen. Ebenfalls kann man ein Museum besuchen, in dem man längst nicht war oder man kann die neue Kunstszene erkunden.
Laura Capatana Juller
So sehen viele Touristen den Kronstädter Marktplatz. Foto: die Verfasserin
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
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Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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