Verlust aber auch Dankbarkeit
16.01.20
Was ich als Kind über die Russlanddeportation mitbekam
In der Sowjetunion, genauer gesagt im Arbeitslager Stalino (heute Donezk, Ukraine gelegen) ist mein Großvater Hans Klöck im Jahre 1947 verstorben. Er hinterließ eine Witwe mit zwei kleinen Kindern: Krista (geb. 1934) und Helmut (geb. 1944). Die Deportation hat es verhindert, dass ich meinen Großvater mütterlicherseits kennenlernen konnte. Im weiteren Sinne war es eigentlich der Zweite Weltkrieg der zu diesem Unglück führte, das auch meine Familie direkt betroffen hat. Deshalb sind für mich, wenn es um konkrete Schuldzuweisungen ginge, die aber heute, nach 75 Jahren, überwunden werden sollten, die Dinge schwer zu benennen. Rumänische und russische Soldaten haben Befehle durchgeführt die von Stalin ausgingen. Der verlangte Wiedergutmachung oder Rache für das von Hitler, den Nazis und deren Verbündeten verursachte Leid im Angriffskrieg gegen die Sowjetunion. Was hatten damit aber mein Großvater und alle anderen verschleppten Männer und Frauen, Zivilisten, zu tun? Ihnen könnte man höchstens vorwerfen, als Deutsche, als Siebenbürger Sachsen, Opfer der Nazipropaganda gewesen zu sein und vielleicht zu gleichgültig und leichtfertig die Entwicklungen zum Ausbruch und zu den Verheerungen eines Weltkrieges in Kauf genommen zu haben. Aber wer kann sich heute zumaßen, über das Verhalten von Leuten zu urteilen, die ja nicht wissen konnten, was folgen sollte und die sicher nicht den Tod, das Leiden anderer Völker verfolgten.
Von den Deportationsjahren konnte ich einiges von meinem Stief-Urgroßvater Adolf Zakel (1899 – 1974) erfahren. Er war auch verschleppt worden, obwohl er zu jener Zeit knapp über 45 Jahre alt war. Mir, als kleinem Jungen, war zunächst unklar, was ein Arbeitslager in Russland bedeutet haben könnte. Ich verband es zunächst mit Abenteuer, Reise in ein fernes Land, weil das Wort Lager mich eher an Ferien als an Gefangenschaft und Zwangsarbeit erinnerte. Der Zakel-Otata spielte mit mir und meinem Bruder gerne, wir unternahmen kleine gemeinsame Ausflüge. Russland war kaum ein Thema für die kleinen Enkel. Aber eine Russland-Geschichte hatte mich dennoch beeindruckt, weil er, Adolf Zakel, eine der Hauptpersonen war.
Es ging um seine Taschenuhr. Die hatte er (zufällig oder nicht) bei sich im Arbeitslager. Und die bedeutete ihm viel, nicht nur weil es eine Schweizer Marke war, Omega oder Doxa, sondern weil es sich um ein Geschenk handelte. Von dieser Uhr trennte er sich aber ohne Zögern, als es um das Leben eines mitverschleppten Freundes ging. Der war schwer erkrankt und benötigte, außer Ruhe und Pflege, auch eine bessere Nahrung als sie im Lager erhältlich war. So wurde die Uhr verkauft und in Milch und zusätzliches Brot umgewandelt. Und der Freund, an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann, konnte langsam wieder genesen. Nichts ist kostbarer als ein Menschenleben, das war die Lehre die mir so bildlich von meinem Urgroßvater vermittelt wurde. Das Ganze hatte auch ein zusätzliches Happy End. Jahrzehnte später, sorgte der inzwischen in die Bundesrepublik ausgewanderte Freund, als Dankeschön für die Hilfe in Not, für einen Ersatz der verkauften Uhr. Er ließ meinem Urgroßvater eine der teuersten damaligen Uhrmodelle zukommen – mit Platin-Elementen und automatischem Aufziehen allein durch die Schüttelbewegung des Armes. Die Uhr sollte ich als Konfirmationsgeschenk erhalten, versprach der Urgroßvater. Konfirmiert wurde ich nur als Erwachsener, der Uropa verstarb und die Uhr ist verschollen.
Kostbarer als die teure Uhr war die Zeit mit dem Urgroßvater. Er war als abgemagerter (Körpergewicht 47 kg ) Mann auf abenteuerlicher Weise aus Deutschland zurückgekehrt, wohin er mit einem Krankentransport aus Russland gelangt war. Meine Urgroßmutter Katharina erzählte später, wie froh sie über diese Rückkehr war, eine Freude die aber auch mit dem leisen Vorwurf verbunden war, er hätte eigentlich in Deutschland bleiben und sie und die Kinder „hinauf ins Reich“ bringen sollen. Sie war sich bewusst, die Zukunft in Rumänien werde schwer sein.
Zakel-Otata war später lange Jahre Küster der Schwarzen Kirche. Er wohnte in einer Dienstwohnung der Kirche im A-Gebäude der Honterusschule, direkt gegenüber dem Seiteneingang zum Pfarrhaus. Die Zeit in Russland hat ihn sicher geprägt, aber, selbst wenn es paradox klingt, auch in positivem Sinn. Er stand der Kirche nah. Mir erläuterte er die Bilder aus der Kinderbibel, führte mich durch die Schwarze Kirche, erklärte mir, wie es mit dem Beten stehe, also dass der liebe Gott auch mich als Kind anhört, wenn ich nur mit ihm sprechen möchte.
Die schwere Zeit in Russland hat ihn nicht gebrochen, nicht verbittert. Wenn er helfen konnte, tat er es gern. Alle Menschen sollten wie Brüder zueinander sein, war seine Überzeugung. Nach den Jahren im Arbeitslager war wohl jeder Tag in Freiheit und zuhause für ihn wie ein Geschenk Gottes. Und dafür wollte er dankbar sein.
Ralf Sudrigian
Katharina und Adolf Zakel, Ende der 1950er Jahre.
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
E-Mail:kronstadt@adz.ro
Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
Aktuell
Karpatenrundschau
01.11.24
Interview mit Edith Schlandt anlässlich ihres 80 jährigen Geburtstags
[mehr...]
25.10.24
Abschluss der Restaurierungsaktion im Rahmen der Vortragsreihe „Kulturerbe hautnah“ öffentlich vorgestellt
[mehr...]