WALTHER GOTTFRIED SEIDNER
16.07.09
Onkel Petza wurde ins Grab gesenkt und ich stellte mich auf den vorgefertigten Predigthügel. Von dort rief ich die liturgischen Formeln in den Nachmittagshimmel. Die Gemeinde lauschte still und ernst und ergeben.
„Nachdem der allmächtige Gott, der Herr über Leben und Tod unseren Bruder Georg Bolta...“ - Vom Weiher her wird ein unruhiges Geschnatter vernehmlich. Einstweilen höre nur ich es – mit geübtem Ohr. Aber dann wird es immer lauter, und die überreizte Beredsamkeit kommt näher heran. Dann gelange ich an die Stelle: „... und betten seinen Leib in Gottes Acker“.
„Mak - mak - mak - mak“, tönt es zurück.
„Erde zu Erde!“
„Mak - mak - mak - mak!
„Asche zu Asche!“
„Mak - mak - mak - mak!“
„Staub zum Staube in der gewissen Hoffnung des ewigen Lebens!”
„Mak - mak - mak - mak“!
Der Entenchor ist deutlich zu hören. Und damit nicht genug, suchen die Enten sich einen Durchschlupf unter dem Zaun, sie finden ihn – und tatsächlich: sie kommen auf mich zu. Im Gänsemarsch. Unaufhaltsam. Allen voran der Erpel mit bunten Kringeln über dem Schopf. Auch das noch!
Wie soll ich sie umlenken?
Ein etwa zehnjähriger Junge steht unweit, bei den Schaufeln. Ihm mache ich ein Zeichen, er soll die Enten zurück treiben. Er ist aber so sehr in seine Andacht versunken, dass er sich nicht von der Stelle rührt. Und die Enten watscheln näher heran durch das ziemlich hohe Gras. Was wird mein Kurator, was wird die Gemeinde sagen?! Ich selbst hätte die Enten in keiner Weise vertreiben dürfen. Wie hätte das ausgesehen? Der Pfarrer verscheucht seine Enten!?
Da greifen die Adjuvanten zu ihren Blasinstrumenten, denn es gebührte dem verewigten Bläser, das Kameradenlied zu blasen. Kaum erklang der Anfang des Kriegsliedes: „Ich hatt’ einen Kameraden, einen besseren find’st du nitt“..., als die Enten sich auch schon auf der Stelle umwandten und zurück watschelten. Zurück zum Weiher.
Ich konnte aufatmen. Und ich meinte, man habe den Entenchor überhört vor lauter Andacht, wie sie mir bei jenem Jungen aufgefallen war. So dachte ich zumindest. Die Überraschung sollte noch folgen.
Am Abend desselben Tages kam Kurator Michael Roth im Sonntagsstaat zu mir. Es schickte sich nicht, im Arbeitsrock beim Pfarrer vorbeizugehen. Wollte der Kurator als Ordnungs- und Sittenbefugter mich etwa meiner Enten wegen rügen? Ist ihm der Gesang des Entenchors dennoch zu Ohren gekommen, ihm, der mich dauernd ermahnte, möglichst laut und deutlich zu predigen, weil sein Gehör mit fortgeschrittenem Alter nachgelassen habe? Doch dann eröffnete er mir den Grund seines Besuchs – und was er mir mitteilte, geriet zu meiner wahren Verblüffung. Zu einer doppelten, wenn nicht gar zu einer dreifachen Verblüffung. Aber nehmen wir’s der Reihe nach.
„Heute haben Sie mir meinen Großvater Martin Roth in Erinnerung gerufen - mit Ihneren Enten“. Es ging demnach dennoch um die Enten.
„Mein Großvater selig war Stallknecht beim Pfarrer Michael Stephani. Vor etwa hundert Jahren. Pfarrer Stephani stammte aus Gerjeschdorf, war zuerst Predigerlehrer in unserer Gemeinde, dann wurde er zum Pfarrer gewählt. Er diente der Gemeinde sechzig (!) Jahre lang. Im Alter von neunzig Jahren nahm er seinen Abschied, zog nach Hermannstadt, kaufte einen Meierhof in der Elisabethgasse und starb im Alter von dreiundneunzig Jahren an den Folgen des Huftritts, den ihm sein Lieblingshengst launischer Weise versetzt hatte. Das war so um die Zeit des Ersten Weltkriegs“.
Solche Geschichten fesselten schon darum, weil sie eine Fundgrube an Einzelheiten aufdeckten. Die Spieluhren der Vergangenheit können ohne ein solches Räderwerk nicht werkeln. Kurator Roth fuhr jedenfalls fort:
„Ihnere Natur ist dieselbe wie die Natur des Pfarrers Stephani. Überall, wohin er ging, verfolgten ihn seine Tiere. Zudem auch sein Fohlen, das ihm später als ausgewachsener Hengst den Tod bringen sollte. Er sperrte seine Hühner, Enten und Gänse auch nicht ein. Am Morgen bevölkerten sie den Treppenaufgang von unten bis oben hin. Einmal kam er mit dem leeren Melkeimer aus dem Obergeschoss gelaufen und er „sturkelte“1 über das Federvieh die Treppen hinab. Er hat bloß einige blaue Flecken davongetragen - und die Federn wirbelten nur so durch das Treppenhaus. Jocki, der Hund war ständig hinter ihm her, Die Stute Frieda jedoch und die drei Büffelkühe Ambra, Indra und Cosima gehorchten nur meinem Großvater, dem pfarrerischen Stallknecht, wie ihn die Leute nannten. Und weil das Fohlen ständig hinter Pfarrer Stephani einherlief lief, nannten ihn die Rumänen „Popa Mânzu“2
Und dann erzählte Kurator Roth eine echte Geschichte aus der „guten alten Zeit“. Ich will versuchen, sie mit eignen Worten wiederzugeben.
Wenn jemand sich bei einem Pfarrer zum Dienstknecht dingen ließ, setzten beide Seiten einen Vertrag auf, in dem die Pflichten und Gerechtsamen des Anzustellenden festgehalten wurden. Der ganze Tagesablauf sollte danach geregelt werden: wann aufzustehen sei, wie lang man an Sonn- und Feiertagen der Bettruhe pflegen dürfe und wie man mit den Tieren umzugehen habe. Freilich stand auch fest, dass dem Knecht fernerhin zusätzliche Einkünfte freistünden: wenn man etwa in der Nachbargemeinde unterwegs war, vom Jahrmarkt nach Hause kam, oder zu den Pfarrversammlungen als Kutscher mitfuhr. Zu den Gerechtsamen gehörten Geldbeträge aber auch volle Weinkrüge.
Für eine Fahrt nach Großau, mitten im Februar, zu einem Pfarrkonvent, um ein Beispiel zu bemühen, wären Martin, dem Stallknecht, dem späteren Großvater meines Kurators, zwei Krüge Wein und dreißig Kreuzer zugestanden. Er bekam sie aber nicht. Bis zum Abend hin wartete Martin auf seinen Herrn, eingeschlagen in eine Pferdedecke auf dem Kutscherbock des Schlittens. Das Fohlen bekam die andere Decke, die Stute sollte sich mit dem mitgeführten Heu begnügen.
Endlich erfolgte der Aufbruch.
Der Knecht Martin hatte die Stute so erzogen, dass er die Peitsche nur schwingen musste, ohne zuzuschlagen, und die Frieda zog an. Diesmal jedoch stellte sie sich auf die Hinterfüße, tänzelte einige Schritte nach vorn, dann drückte sie den Schlitten nach rückwärts. Sie war nicht dazu zu bewegen, nach vorne anzuziehen. Pfarrer Stephani hatte gleich heraus, was vorgefallen war. Er griff unter den gefederten Sitz und holte zwei Flaschen hervor. „Diese zwei Achtel Wein gehören dir.“ Martin stieg ab, nestelte am ledernen Geschirr der Stute, entfernte einen Nagel, den er wohl mit Absicht in das Zaumzeug getrieben hatte – und die Stute zog an. Den Weg nach Hause flog sie unangetrieben wie von selbst, wie das bei Pferden so vorkommt. Als es vom Kuckucksberg abwärts ging, näher der Gemeinde zu, ließ Martin die Peitsche wiederholt durch die Lüfte schwirren. Frieda lief nun im Galopp und das Fohlen konnte kaum Schritt halten.
„Martin, warum lässt du die Stute dermaßen ausgreifen?“
„Nun, Väterchen, die Wölfe kommen hinter uns her; ich sehe ihre glühenden Kohlenaugen.“
„Na gut, dann müssen wir die Wölfe halt vertreiben, indem wir beide wie Wölfe so richtig losheulen.“ Und er richtete sich im Schlitten auf, stützte sich umständlich auf Martins Pelzkappe und legte die Hände trichterförmig an den Mund. Dann fing er an zu heulen, während Frieda tüchtig anzog. Martin tat es Väterchen Stephani gleich; er heulte ebenfalls los: aus voller Brust, aus voller Kehle. Das zweistimmige Gejaule muss sich sehr schauerlich angehört haben, zumal es andauerte und andauerte. Und Väterchen Stephani meinte wohl, die Wölfe abgehängt zu haben. Dabei sammelte sich eine beträchtliche Anzahl an Dorfbewohnern am Rand des Dorfes, allesamt mit Fackeln, Äxten und Heugabeln gewappnet, die dem heranziehenden Rudel einen geziemenden Empfang bereiten wollten. Einige derer, die sich am Dorfrand versammelt hatten, meinten nun, sie müssten ebenfalls aufheulen, um die beiden Wölfe durch wolfseigenes Heulen zu verscheuchen. Diese Vorgehensweise soll angelegentlich bei solch heiklen Begegnungen geholfen haben.
Und die ganze Gemeinde fing an zu jaulen. Jetzt überkam den verwegenen Kutscher die Angst. Wieso kamen die Wölfe nun von vorn? Und für glühende Wolfsaugen waren die Fackeln dann doch zu Aufsehen erregend, und er gebot, das Heulen einzustellen. Kurz darauf hielt er den Schlitten an. Um so lauter wurde nun das Geheul der Fackelträger am Rand der Gemeinde. Es verstummte aber nach und nach, weil es in der Ebene still geworden war. Der Kutscher begann zu frieren, während sich Väterchen Stephani umso sicherer in seinen Pelz einkauerte. Wohl oder übel musste Martin die Stute wieder antreiben. Die Fackeln waren ja dann doch größer als Wolfsaugen, musste er sich schließlich eingestehen.
Unter denen, die den vermeintlichen Wölfen entgegen gezogen waren, befand sich auch der Bürgermeister Michael Thiess, der erst im vergangenen Herbst durchgesetzt hatte, dass für das Regenwasser in der ganzen Gemeinde Straßengraben ausgehoben wurden, die dann mit Katzkopfpflaster ausgelegt worden waren. Er war nicht nur Bürgermeister, er war auch der musikalische Leiter der Adjuvanten.2 Sein musikalisches Wissen bezog er aus Wien; denn er war während der Militärzeit Kapellmeister bei einer Regimentsmusik. Sein gutes Gehör wurde sogar in Kleinscheuern und Neppendorf gebührend gewürdigt. An den Glocken und Schellen, die am Hals der Frieda hingen, erkannte er sofort: das muss der Schlitten des Pfarrers sein! Er hätte das Läuten der Schlitten nach Hausnummern feststellen können, sogar die Pferde der Rumänen konnte er nach ihrem Geläute bestimmen.
Als der Pfarrschlitten immer näher herankam und es erwiesen war, dass das Wolfsgeheul aus Menschenkehlen kam, wendete sich das Geheul von vorhin in ein allgemeines Gelächter.
Wer hatte sich nun vor wem bloßgestellt?
Wie sich mittlerweile herausstellte, wollte Martin, der Pfarrknecht, mit dem Märchen von den Wölfen, seinen Brotgeber daran erinnern, dass er ihm ja noch dreißig Kreuzer schulde! Als Pfarrer Stephani die Fackeln derer sah, die ihn beim Einzug in die Gemeinde fast wie mit einem Spalier empfingen, ging ihm ein Licht auf und er reichte dem Knecht die 30 „Silberlinge“ in Münzen. Zugegeben, diese Art der umständlichen, eher schelmischen Rechtsforderung kann man sich heute nicht gut vorstellen.
Man wollte allenfalls den Pfarrer nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Das forderte auch der Bürgermeister – und so musste halt der pfarrerische Stallknecht den Prügelknaben abgeben. Er bekam von Stund an den Dorfnamen Úrletu Lupului, Wolfsgeheul. Übrig blieb bis auf den Sohn, den Vater des Kurators, der Zuname Urlétzu.
Die Dorfnamen kamen meist aus dem Rumänischen: Honz peschte Ulitz, Jura V?doaiei, Honzu lu’ Grecu, Trenya lu’ Haika (Su)Sanei, Mischu lu’ Krontoschitz usw. In den aufgerufenen Namen klingt die bulgarisch-bogumilische Vergangenheit der Gemeinde nach. Im 13ten Jahrhundert kamen Siedler aus der mazedonischen Gegend hierher. Sie gehörten zur Freikirche der Bogumilen, und man nannte sie Zyrfen (Serben). Sie kamen aus einem orthodoxen Umfeld, aus dem Süden, wurden hier röm. katholisch und im Zuge der Reformation evangelisch. Aus allen drei Konfessionen haben sie wohl das Beste behalten. Sie sind auch durch das Flussbett dreier Sprachen geschwemmt worden. Das Bulgarische bildete wohl die erste, und darum die Muttersprache. Dann wurde die Mittelssprache, das Rumänische, aufgenommen, angelehnt an einen arumänischen Dialekt. Schließlich wurde auf Anraten des Pfarrers Stephani das Deutsche als Kirchen- und Schulsprache angenommen.
Zur Zeit des Ersten Weltkriegs gab es noch einige Wenige, die das Vaterunser in slawischer Sprache aufsagen konnten. Die ganz Alten verkehrten miteinander im Gebetston der Bogumilen; das hörte sich an, als wären sie Quäker. Das durfte aber nicht öffentlich geschehen. Aus einer Scheu, die ich nie begriffen habe, hielt man diese Art des geselligen Umgangs geheim. Ich selbst hab an den Türen lauschen müssen, um dahinter zu kommen, wie das zuging: Man brachte das Zwerchfell zum Zittern; dadurch beeinflusste man den Brustkorb. Das Wort kam in Schwingungen zum Vorschein; es hörte sich an, als würde es zerkleinert oder zermahlen - dann wurde es kraftvoll ausgestoßen. Sobald ich auftauchte, verlief jede Art des Gesprächs in üblicher Weise. Was es mit dieser Scham auf sich hatte, konnte mir niemand erklären, auch der Kurator nicht. Er selbst sei mit elf Jahren zu seinem Lehrmeister Leopold Reisenauer nach Neppendorf gekommen; dort habe er sich des Landlerischen annehmen müssen, des österreichischen Idioms der Neppendorfer. Seine Großmutter hätte ihm wohl das bogumilische Zittersprechen beibringen können, aber sie hat es unterlassen. Auch bei seinen jüngeren Geschwistern.
(Fortsetzung folgt)
Foto: In den Reihen deutschsprachiger Autoren des Landes hat sich Walther Gottfried Seidner einen besonderen Platz gesichert.
Foto: Hans Butmaloiu
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Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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