Wenn die Stadt zur Bühne wird
11.08.22
Zu Besuch beim Theaterfestival in Avignon
Hunderte von Zuschauer halten den Atem an, als die Tänzerin Audrey Merlius über die Freilichtbühne im Innenhof des Zölestinerklosters in Avignon schwebt. Ein leichter Wind bläst in dieser Nacht Ende Juli durch die Kronen der zwei Linden, die auf der Bühne stehen und lässt auch die grünen Blätter tanzen. Es scheint so, als ob der Wind in der Tanzvorstellung „Silent Legacy“ mitspielen würde. Plötzlich erscheint einem Lichtstrahl ein kleines Mädchen, das auf die Tänzerin zugeht. Als sie sich berühren, wird es stockdunkel. Einige Sekunden kann man überhaupt nichts sehen und hören. Und dann beginnt ein tosender Applaus.
Das kleine Mädchen heißt Adeline Kerry Cruz und hatte im ersten Teil der Performance einen Solo-Auftritt. Die junge Kanadierin aus Montreal ist mit nur acht Jahren schon eine Meisterin des Tanzstils Krumping. Es handelt sich um einen Tanzstil, der Anfang der 90er Jahre in der armen afro-amerikanischen Gemeinde von Los Angeles entstanden ist, als alternatives Ausdrucksmittel zur Gewalt angeboten wurde und stark auf Glauben und Spiritualität basiert. Es gab viele Tanz-Aufführungen beim diesjährigen Festival aus Avignon, das zwischen dem 7. und dem 30. Juli stattgefunden hat. Für jemanden, der kein Französisch spricht, ist das ideal, weil die meisten Produktionen keine englischen Übertitel haben. Es kann manchmal frustrierend sein, dass es so viele interessante Aufführungen gibt, wo man nicht versteht, was auf der Bühne gesprochen wird. Am Nachmittag hatte ich gerade beschlossen, nicht mehr in das Stück mit dem Namen „Telephone moi“ (Telefoniere mir) zu gehen. Obwohl es sich sehr interessant anhörte: 100 Jahre aus dem Leben einer Familie werden durch verschiedene Telefongespräche wiedergegeben. Doch statt im Theatersaal zu sitzen und nur 50% zu verstehen, beschloss ich lieber, einen überteuerten Eiskaffee in einem der schönsten Hotelgärten, die ich je besucht habe, zu genießen: Mirande. Nicht nur die Theateraufführungen tragen zur unbeschreiblichen Atmosphäre des Festivals bei. Manchmal genügt es, durch die mit bunten Plakaten verzierten Straßen zu schlendern, Aufführungs-Flyer von Leuten, die als Clowns, Nonnen oder Teufel gekleidet sind in die Hand gedrückt zu bekommen und dabei zu denken: „Ich bin zum ersten Mal beim größten Theaterfestival der Welt“. Das muss man unbedingt einmal erleben.
In und Off
41 Grad im Schatten zeigt die Wetter-App an, als ich aus dem Zug von Marseille im Bahnhof von Avignon aussteige. Kaum bin ich aus dem Bahnhof heraus, mache ich schon, was jeder Besucher von Avignon während des Festivals tut, und zwar mit 15 Theater-Flyern in der Hand bei über 40 Grad die Hauptfestivalmeile, die Rue de la République, entlanglaufen. Die Stadt ist über und über plakatiert: Theaterplakate hängen über den Bäumen, sind an Schaufenster und Hausmauern geklebt und man fragt sich, was wohl nach Ende des Festivals damit passieren wird - es sind sicherlich Tonnen von Papier. Die vielen Cafes sind übervoll, und alle Gäste scheinen sich über Theater zu unterhalten. Jedes Jahr in den letzten drei Juli-Wochen verwandelt sich die Stadt in eine riesige Bühne, auf der kein einziger Fleck nicht unter begeistertem Applaus erzittert.
1947 vom legendären französischen Theaterregisseur Jean Vilar (1912-1971) gegründet, war das Festival von dem Gedanken getragen, Kunstfestivals nicht (wie damals üblich) alleine für gesellschaftliche Eliten, sondern für alle zu veranstalten und Hoch- und Volkskultur ohne Qualitätsverlust für einander zu öffnen. Das Theaterfestival besteht aus zwei Sektionen: dem "In"-Festival, dessen Programm jährlich von einem weltbekannten Künstler kuratiert wird und dem "Off"-Teil, das Fringe-Produktionen aus der ganzen Welt zeigt. Das Off, 1966 von André Benedetto in seinem Theater an der Place de Carmes gegründet, entstand aus dem Wunsch, neben dem etablierten Programm das Theater auch einem weiter gefassten Publikum nahezubringen. Und die wahre Vielfalt des Theaters wird erst in der Off-Sektion bemerkt: es sind hunderte von Ensembles aus der ganzen Welt, die auf den vielen Bühnen der Stadt auftreten. Von 10 Uhr morgens bis Mitternacht wird an hunderten Orten der Stadt gespielt, getanzt, gesungen und erzählt.
Eine riesige Konkurrenz
Das Verlangen, nach 2 Jahren Corona-Einschränkungen wieder Kunst und Kultur unbeschwert genießen zu können, war groß: es scheint, dass die Besucherzahlen in diesem Jahr fast genau so hoch waren wie im Rekordjahr 2019. Und für jeden Geschmack ist etwas dabei: Das Off-Programm mit seinen 1500 Stücken macht es möglich. Die Zahl ist richtig: 1500. Als ich mir aus einem Cafe den Katalog des Off-Festivals hole, bemerke ich dass er so dick ist wie ein Telefonbuch von einst. Normalerweise spielen Off-Ensembles sechs Tage pro der Woche (also 18 Mal während des Festivals). Und wenn sie nicht spielen, versuchen die Schauspieler, mit Werbeflyern potentielle Theaterbesucher anzuziehen. Doch was soll man auswählen in so einer Vielfalt? Experimentierte Avignon-Besucher raten dazu, auf die Tipps anderer Leute zu hören. Das war und bleibt immer die beste Werbung.
Weltbekannte Brücke, imposanter Papstpalast und wilde Natur
Nicht nur die Gassen der Altstadt mit ihren vielen Cafes und Restaurants sind schön. Auch für ihre Sehenswürdigkeiten ist Avignon bekannt. Die von 4 km Stadtmauern umgebene Stadt wurde im 14. Jahrhundert Residenz der Päpste. Diese errichteten dort den größten gotischen Palast der Welt, den Papstpalast. Die Brücke Saint-Bénézet, besser bekannt als die Brücke von Avignon, von der vier Bögen über die Rhone erhalten geblieben sind, ist eine wunderbare Terrasse, von der aus man die Stadt betrachten kann, ein grandioses Ensemble, das seit 1995 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Bei der Hitze, die jedes Jahr während des Festivals den Besuchern zu schaffen gibt, ist es auch eine gute Idee, sich abzukühlen. In Collias, nur ein paar Kilometer entfernt von Avignon, gibt es die Möglichkeit, im Gardon-Fluss zu schwimmen. Das Wasser ist sehr kalt, seine Temperatur beträgt höchstens 17-18 Grad, aber nach kurzer Zeit gewöhnt man sich.
Doch bald sehnt man sich, zurückzukehren in die Stadt und auf der Rue des Teinturiers die Schauspieler zu treffen, die man in einer Aufführung bewundert hat, ein leckeres Thunfisch- Tartar mit Avocado und Minze auf einer kleinen Terrasse zu genießen, im Kuriositäten-Kabinett von Veronique Dominici (ja, das gibt es auch!) vergoldete Hirsch-Köpfe oder Affen-Statuetten zu bewundern und in den vielen Theaterbuchhandlungen herumstöbern. Viele meinen, dass Avignon außerhalb des Festivals ein eher verschlafenes Städtchen ist, wo kaum etwas passiert. Sicherlich hat der 31. Juli, der erste Tag nach dem Festival, traurig ausgesehen. Womöglich wurden die Plakate von den Mauern, Türen und Schaufenster wieder beseitigt. Und die Stille ist wieder in den großen Platz neben dem Papstpalast zurückgekehrt. Bis im nächsten Jahr Anfang Juli, wo es wieder von vorne beginnt.
Elise Wilk
Jugendliche auf dem Platz des Papst-Palastes. Foto: die Verfasserin
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