Zur Tradition des deutschen Schulwesens in Siebenbürgen (I)
04.11.08
Referat beim 18. Siebenbürgischen Lehrertag am 18. Oktober 2008 in Kronstadt in der Aula des Honterusgymnasiums/ Von Prof. Dr. Paul Philippi
Anfang Oktober hatte auch ich die Pflicht, an einer Eröffnungsfeier des Universitätsjahres teilzunehmen. Bei dieser Feier hielt auch der Kulturattaché des deutschen Generalkonsulats eine Begrüßungsrede, in der er hauptsächlich mit dem deutschen Wort Bildung operierte. Er unterstrich, wie wichtig die Bildung für Staat und Gesellschaft ist. Wie würden Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, „Bildung“ ins Rumänische übersetzt haben?
Es gibt im Rumänischen offensichtlich keinen Begriff, der dem deutschen Wort Bildung voll entspricht. Man muss zu umschreiben versuchen, was „Bildung“ meint. Die sehr gute Übersetzerin des Kulturattachés (sie war eine Absolventin des Brukenthalgymnasiums!) dolmetschte „Bildung“ ohne zu zögern mit „educa]ie {i cultur²“. Das ist, meine ich, recht gut getroffen. Aber Bildung meint eben doch mehr als nur eine Addition von Erziehung und Kultur. Dieses „Mehr“ erscheint mir ein guter Aufhänger zu sein, um über die Tradition unserer siebenbürgisch-sächsischen Schulen nachzudenken. Denn diese sächsischen Schulen wollten bilden – „bilden“, im vollen Sinn des Wortes. Was ist dieser volle Sinn von „bilden“? Was bedeutete „Bilden“ in der Tradition der sächsischen Schulen? Was und wie wollten sie „bilden“?
Bilden bedeutet auf alle Fälle mehr als gelingende Wissensvermittlung. Und das ist schon im Blick auf die Erwartung der Eltern, die heute ihre Kinder in unsere deutschsprachigen Staatsschulen schicken, ein Kriterium, das zu überlegen wichtig ist: Die Eltern erwarten, so bekomme ich es mit, dass ihre Kinder die Schule mit guten Noten absolvieren; mit guten Noten, die besonders gute Kenntnisse nachweisen; nützliche Kenntnisse, aufgrund welcher sich gute Studienmöglichkeiten ergeben, worauf sich dann gute berufliche Karrieren aufbauen lassen.
Das ganze Bildungssystem unseres Staates ist, so weit ich das sehe, auf Vermittlung von Wissen, von Kenntnissen ausgerichtet. Je mehr Stoff gewusst wird, desto höher die Wertung des Erfolgs. Gewiss: Zur „educa]ie“ wird auch die „cultur²“ gerechnet. Auch von ihr lernt man und sie kennt man dann. Auch die Kultur ist also weitgehend etwas Gewusstes.
Gute Kenntnisse gehören natürlich auch zur Bildung. Aber die Kenntnisse sind nicht das Ziel der Bildung, sondern ein Mittel zum Ziel. Das Ziel ist: einen Menschen zu formen. Ja, noch mehr als zu formen: „In jedem lebt ein Bild / des, das er werden soll./ So lang er das nicht ist,/ ist nicht sein Friede voll.“ (Friedrich Rückert). Ein Bild ist mehr als eine Form. Nicht umsonst hat Titu Maiorescu unterschieden zwischen form² und fond. Bildung möchte den Menschen in seinem „fond“, in seinem Fundus modellieren, prägen. Und das wollten die Schulen der sächsischen Tradition Siebenbürgens. Sie wollten nicht nur die Menge des Gewussten sicherstellen, sie wollten die Fähigkeit zu selbständigem Denken prägen.
Die jungen Menschen in ihrem Fundus zu prägen war das Ziel des sächsischen Schulwesens in einem doppelten Sinn: Einmal so, dass jeder sich als individuelle Persönlichkeit entfaltet – entfaltet im Rahmen eines Werte-Systems, das zusammengesetzt war aus den Vorstellungen von evangelischem Christentum, humanistischem Denken und aus der deutschen Klassik. Die Werte dieser Gesinnung galten für jeden. Aber jeder sollte, an den Werten dieser Gesinnung gemessen, so gefördert werden, dass er sich als eine Persönlichkeit eigener, individueller Prägung entwickelt. Das war die eine Seite des Bildungsziels. (Philosophiegeschichtlich könnte man sagen, es war, vom 19. Jahrhundert an, die Geisteswelt des sogenannten Deutschen Idealismus. Der „deutsche Idealismus“ wollte die traditionellen Werte der christlichen und humanistischen Überlieferung mit der Aufklärung und dem modernen naturwissenschaftlichen Denken zusammen halten. In diese Welt der Werte hinein wollten die sächsischen Schulen ihre Schüler bilden.) Das die eine Seite.
Die andere Seite der Bildung war die Einübung sozialer Verhaltensweisen, wie sie dem Ethos der genannten idealistischen Wertvorstellungen entsprachen. Albert Huet hatte die Schule, der er selbst, wie später auch Samuel von Brukenthal, sein Vermögen hinterließ, bezeichnet als seminarium rei publicae, als „Aussaatstätte“, als Pflanzstätte der Republik, als eine Saatzucht für das Gedeihen des Staatswesens: Die Schule als Trainingsplatz für eine funktionierende Zivilgesellschaft!
Wenn wir uns an unsere Schulen vor 1941 erinnern, dann erzählen wir Alten gerne vom COETUS. Und es lohnt sich auch, von diesen Coeten auszugehen, denn sie waren das kennzeichnendste Modell des Bildungsziels unserer Schulen. Coetus heißt auf lateinisch eine Versammlung. So nennt die Constitutio scholae Coronensis, die Schulverfassung des Honterus von 1543 die Gemeinchaftsform der Schüler seines Kronstädter Gymnasiums, und diesem Modell folgen alle sächsischen Schulen bis 1941 (und in einem Nachklang sogar von 1945 bis 1948)! In den Dorfgemeinden (wo es nur Volksschulen gab) entsprachen den Coeten die sogenannten Bruderschaften. In die rückte der junge Bauer oder Handwerker nach der Absolvierung der Grundschule ein. Die Bruderschaften und Schwesterschaften waren sozusagen die Obergymnasien des Dorfes. Auch in ihnen wurde unter evangelischem Vorzeichen eingeübt, wie man sich als Glied des Gemeinwesens selbstverständlich zum allgemeinen Nutzen verantwortlich einordnet – also: zivilgesellschaftliches Verhalten.
Der COETUS ist in Deutschland mit den Initiativen der Schülerselbstverwaltung verglichen worden. Er war mehr als das. Er war eine Organisation der Selbstregierung. Gewiss: einer Regierung unter der Oberhoheit des Rektors. Aber eben doch weithin unabhängig. Lesen Sie einmal nach, was der Arbeitskreis für Geschichte und Sozialwissenschaften des Brukenthal-Gymnasiums in seinem neuen Jahrbuch (2008) über die Coetus-Satzungen des Jahres 1913 erarbeitet hat: Hier ist (noch im Beamtenjargon österreich-ungarischer Behörden!) zu spüren, dass die im 16. Jahrhundert konzipierten Coeten einüben sollten, wie das ideale antike Rom, bzw. wie das Ideal des römischen Staates funktioniert. Die Amts- oder Würdenträger dieses Schülerstaates wurden ohne Einmischung der Schulleitung von den Schülern gewählt. Diese „Würdenträger“ hatten Vollmachten der Selbstregierung bis hin zur Erteilung von Geldstrafen! Aber nicht diese Geldstrafen waren charakteristisch. Eher waren das die Rituale dieser Selbstregierung, die von der Elternschaft wie von der Stadtobrigkeit durchaus ernst genommen wurden.
Lassen Sie mich, bevor ich einige Folgerungen zu ziehen versuche, ein wenig aus meiner Erfahrung der 1930er Jahre erzählen, als ich den Coetus dieses Honterusgymnasiums aus der Perspektive des Untergymnasiasten (5.-8. Klasse) erlebte. Zum Coetus gehörte man erst von der 9. bzw. 10. Klasse an. (Als ich dann selbst so weit war, habe ich fast nur noch die Auflösung des Coetus durch die NS-Zeit erlebt.)
In Kronstadt hatten wir zwei Coeten, den Coetus des Honterusgymnasiums und den Coetus der Handelslyzeums, den Coetus Mercurii (der übrigens, ebenso wie der Coetus Seminarii in Hermannstadt, erst im 20. Jahrhundert gegründet wurde). Zunächst erlebte ich als Kind das Auftreten der beiden Coeten, wenn sich diese in der Öffentlichkeit zeigten: beim Honterusfest oder beim Maifest oder bei den staatlichen Feiertagen oder auch bei feierlichem Kirchgang, im Samtflaus und weißer oder schwarzer Hose. Vorne marschierten die sechs Würdenträger mit breiter blau-roter Schärpe (bei den „Merkurianern“ mit schwarz- grün-goldner Schärpe): Der Präfekt (der, im Marschieren, die applaudierenden Zuschauer durch vornehmes Ziehen der blauen Schulkappe grüßte), der Propräfekt oder Centurio, der Fuchsmajor (das war ein Einsprengsel aus dem Burschenschaftswesen der deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts), die beiden Fahnenträger rechts und links (mit der Staatsfahne rechts und der reich geschmückten Coetusfahne links) und, als Kommandierender des Zuges, der Kantor oder Primus Musicus. Beim Anblick dieser disziplinierten Kolonne klatschten alle Stadtbewohner; mit am meisten die Schülerinnen des rumänischen Mädchenlyzeums „Principesa Elena“. Unsere evangelischen Mädchenschulen waren übrigens auch nach dem Muster der Coeten organisiert und traten öffentlich ähnlich auf. Zum Ritual des Ausmarschierens gehörte auch, dass die Lyzeanerinnen unserer Schulen für den Blumenschmuck der Coetus-Fahnen sorgten, und dass, umgekehrt, die beiden Coeten mit der Blasmusik unsere Mädchenschulen abholten und sie zwischen Handelslyzeum und Honteruslyzeum in die Mitte nahmen. Man übte auf diese Weise auch die Kavalierspflicht gegenüber seinen Damen ein. Und zwar kollektiv: Es waren „unsere“ Mädchen, auf die wir zu sorgen hatten. So bildete sich ein starkes und verantwortliches WIR-Gefühl der sächsischen Schulen, ein Solidaritäts-Effekt, der nicht gegen jemanden gerichtet war, der uns aber bewusst machte, dass wir Schüler der sächsischen Schulen gemeinsam für etwas verantwortlich waren.
Diese von außen sichtbare Seite der Coeten prägte sich der ganzen Stadtbevölkerung ein und also auch schon dem Kinde. Im „Innenleben“ der Coeten wurden die Würdenträger von dessen Vollmitgliedern (10.-12. Klasse) aus Schülern der 12. Klasse gewählt. Die Schüler der 9. Klasse hießen seit dem 19. Jahrhundert „Füchse“ und lernten in „Fuchsstunden“ vom „Fuchsmajor“ in freiwilligem Selbstunterricht die Coetus-Satzungen und daneben z.B. die Geschichte der Siebenbürger Sachsen, um dann nach der Fuchsprüfung, als Zehntklässler, „geburscht“ zu werden, d.h. Vollmitglieder wurden. (Auf den Dörfern lernten die jungen Mitglieder der Bruderschaften übrigens ebenfalls in der – ohne staatliche Vorschrift eingerichteten – kirchlichen Fortbildungsschule die „Sachsengeschichte“.)
Als Untergymnasiast erlebte man dann den Coetus zunächst daran, dass an den Tafeln für die Große Pause (10.50-11.10) oft eine „CV“ angekündigt wurde. Coetusversammlung! Da wurden jeweils anfallende Aufgaben besprochen. Dann aber trat der Coetus auch an die Öffentlichkeit, und dies besonders durch seine vier Arbeitsgemeinschaften. Zu mindestens einer von ihnen musste jeder Coetist gehören:
Da war der Euphorion – so hieß die literarische Arbeitsgemeinschaft. Der Euphorion arbeitete in (Vor-)Lesezirkeln und coetus-internen Vortragsabenden. (Gemeinschaftsaktivitäten waren nicht nur als Vorführungen für andere gedacht!) In jedem Schuljahr aber wurde ein großes Theaterstück aufgeführt. In meiner Untergymnasiastenzeit waren das: von Hebbel: Siegfrieds Tod; von Schiller: Die Räuber; von Goethe: Egmont; von Gogol: Der Revisor. Das Stück wählte man im Euphorion jeweils selber aus. Dann erst wurde ein Lehrer ausgesucht und feierlich eingeladen, die Regie zu übernehmen. Wer von den Coetisten nicht als Schauspieler beteiligt war, zimmerte Kulissen oder fertigte Kostüme. Das ganze Obergymnasium war so mit eingebunden. Der finanzielle Ertrag der Theater-Aufführung ging an den Schulreisefond der 12. Klasse für die große Schulreise nach dem Bakkalaureat – nach Italien oder Griechenland oder nach Norwegen.
Die zweite Arbeitsgemeinschaft des Coetus hieß Lyra. Das war ein komplettes kleines Symphonieorchester: 8 Erste Geigen, 6 Zweite Geigen, 2-4 Bratschen, 2-4 Celli, 1 Kontrabass und alle Blasinstrumente plus Schlagzeug. Ich habe mitgehört und selbst mitgespielt bei zwei Haydn-Symphonien (Die Uhr, Mit dem Paukenschlag), bei Johann Christian Bachs D-Dur Symphonie, bei von Mozarts 1. Pariser Symphonie und den ersten der drei Sätzen der Jupiter-Symphonie, bei den Ouvertüren zu den Opern Titus, Der Schauspieldirektor, Figaros Hochzeit, Entführung aus dem Serail; einem Mozart-Hornkonzert; bei Glucks Alceste-Ouvertüre, Beethovens Egmont- und Coriolan Ouvertüren, der F-Dur-Romanze, und der Musik zu einem Ritterbalett u.a.m. Einstudiert und geleitet wurde die „Lyra“ nicht von einem Lehrer, sondern von dem frei gewählten Kantor, der den Musikprofessor höchstens ein- zwei- dreimal zur Beratung in die Probe bat. Auch hier also „Selbstregierung“ – und freie Zusammenarbeit mit dem Lehrkörper.
Drittens gab es auch die Gesangsgruppe „Saxonia“, die zu meiner Zeit allerdings schwächelte, weil der Honterus-Chor des Musiklehrers überaus aktiv und populär war. Und schließlich gab es die Turn- und Sport-Arbeitsgemeinschaft , die, dem Zeitgeist (schon der Vornazizeit!) entsprechend, „Germania“ hieß. Wie gut die war, können Sie vielleicht daraus ermessen, dass in einem Wettkampf etwa des Jahres 1933, der zwischen den beiden Coeten Honteri und Mercurii ausgetragen wurde, der Landesjugendrekord im Weitsprung dreimal hintereinander gebrochen, d.h. hinaufgeschraubt wurde. Beim Leichtathletik Sportfest aller 9 Kronstädter Gymnasien (Lyzeen), den sogenannte „Inter{colare“, hat das Honterusgymnasium in den 1930er Jahren regelmäßig haushoch gewonnen. (Den Handball gewannen meist die „Merkurianer“, das Volleyball-Turnier eines der rumänischen Gymnasien [aguna oder Me{ota.)
Wesentlich an diesen Geschichten ist nun: Nicht (nur) die Schulleitung organisierte, sondern die Schüler; in eigener, aber geordneter Verantwortung; d.h. freiwillig, aber in zuverlässiger Selbstverpflichtung. Der Beitritt in den Coetus war nicht verpflichtend. Aber für den, der beigetreten war – und es schloss sich schon aus Prestige-Gründen keiner aus –, für den war das Mittun verbindlich; und das bildete, nicht durch Schulaufsicht, sondern durch die Schüler-Selbstregierung. Dieses korporative Zugehörigkeitsbewusstsein prägte Lehrkörper und Schüler.
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
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