Apollonia-Hirscher-Preisverleihung 2014

Gerhard Rudolf (Mitte) zusammen mit Günther Schromm (links) und Traian Iordache in der oberen Burggasse, während sie ein Fernsehgerät zur Schützenwiese transportieren, weil dort bessere Empfangsbedingungen erhofft wurden. Foto: privat

 

Ein Forumsmitglied, das die Punkte aufs „ö“ setzen kann

Laudatio auf Gerhard Rudolf, Träger des Apollonia-Hirscher-Preises für das Jahr 2013/Von Thomas Şindilariu

Ein weinroter Tico biegt weder schnell noch langsam, aber zur abgemachten Stunde um die Ecke. Das Fahrzeug, das an die Stelle eines alt gedienten Trabants getreten ist, parkt sauber am Straßenrand. Ein etwas gebeugter älterer Herr steigt aus und mustert das Haus an der Zieladresse. Nicht Farbe, nicht Baustil, nicht Größe des Hauses sind von Interesse. Noch ehe man dem Gast das Tor öffnen kann, hat dieser mindestens 2-3 Stellen ausfindig gemacht, an denen man eine TV-Satellitenschüssel so anbringen kann, dass störungsfreier Empfang garantiert ist.
Die Vorstellung des Herrn, um den es hier geht, ist müßig – spätestens beim Wort „Satellitenschüssel“ haben Sie, verehrtes Festpublikum, unseren heutigen Preisträger, Gerhard Rudolf, erkannt. Vielen von uns mag vor dem inneren Auge bereits die weitere Entwicklung der Begegnung zu Ende abgelaufen sein, dennoch möchte ich weiter erzählen, da so vieles, was wir an Gerhard Rudolf schätzen, dabei greifbar wird.
Im Wagen sind noch eine Lattenkonstruktion, die, als Schablone verwendet, den richtigen Einfallswinkel der Satellitensignale vorgibt, sodann Werkzeug und ein vorprogrammierter Receiver – alles hat seinen Platz. Ist die Satellitenschüssel einmal an der Hauswand befestigt und die Verkabelung erledigt, dauert es in der Regel nicht mehr lange - Herr Rudolf weiß nämlich, was er zu tun hat. Sein Tun ist zwar bestimmt, aber nicht aufdringlich, sondern vielmehr auf Erklärung ausgerichtet. Was ich höre, erinnert mich in entfernter Weise an meine Schulzeit, an den Physik- und Werkunterricht. Da es nicht meine Glanzfächer waren, verstehe ich das Gesagte nicht im Detail, es gelingt mir aber mit Nachfragen, das Prinzipielle zu erfassen, und es stellt sich automatisch das beruhigende Gefühl ein, für alle Fälle jemanden nun näher zu kennen, der sich definitiv auskennt.

Mittlerweile sind die auf einem USB-Stick vorprogrammierten Sendereinstellungen überspielt, wir empfangen wie selbstverständlich um die 100 deutsche TV- und Radiosender. Noch einige Hinweise auf bevorstehende mögliche Probleme, wann die nächsten Änderungen in der Ausrichtung und Versorgung der Satelliten anstehen und was dann zu tun ist, und das Geschäft ist erledigt. Schwierig gestaltet sich allein die Frage des Entgelts.
Spätestens bei den Worten „Geschäft“ und „Entgelt“ stutzen Sie, verehrtes Festpublikum, und das ganz zu Recht! Aber auch die 100 Programme sind keine Selbstverständlichkeit, das weiß niemand besser als Gerhard Rudolf. Die Technik modernisiert sich ja laufend, daran haben wir uns gewöhnt. Wie aber genau aus analogem hochauflösendes (HD) Fernsehen wird, was das für die Belegung der verschiedenen ASTRA-Satelliten und ihrer Ausleuchtungszonen und damit für Empfang oder Nichtempfang im östlichen Europa bedeutet, das wissen nur jene, die der Entwicklung auf technischer Grundlage aus nächster Nähe folgen können. Da Gerhard Rudolf genau dies mit Beharrlichkeit und Interesse schon seit einem Menschenleben tut, erkannte er auch früh die heraufziehenden Gefahren am Satellitenhimmel. Allzu oft haben heutzutage Erkennen und Handeln nichts mehr miteinander gemeinsam - bei Gerhard Rudolf ist und war das immer anders. Technische Probleme sind lösbar, darin könnte man sein Credo ausmachen - in unserem Beispiel der Satelliten bedeutete dies in erster Konsequenz eine Korrespondenz mit der „Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland“, kurz ARD, um die Berücksichtigung unserer kleinen Interessentengruppe bei der Satellitenbelegung bzw. beim Zuschnitt der Ausleuchtungszonen zu erreichen. Als ultima ratio schaltete Herr Rudolf Ende vergangenen Jahres auch die Deutsche Botschaft in Bukarest ein. Wie die kausalen Zusammenhänge zur Gewährleistung jener 100 Programme genau sind, entzieht sich selbst der Kenntnis von Gerhard Rudolf. Offensichtlich aber hat es den Verantwortlichen bei der ARD nicht geschadet, auf unser Interesse an ihrem Satellitenangebot hingewiesen zu werden. Mit dem Ergebnis kann man allemal zufrieden sein, nicht nur als deutsche Minderheit, sondern auch unter touristischen und wirtschaftlich-standortpolitischen Gesichtspunkten.
Doch zurück zu den Problembegriffen „Geschäft“ und „Entgelt“. Das typische Ergebnis der Verhandlungen über Letzteres ist jenseits der Sachkosten eine oft in Naturalien zu begleichende Entschädigung für die Transportkosten. Mit einem Schmunzeln und einem neugierigen Blick, der die Vorfreude auf die soeben erhaltene selbst gemachte Sakuska, Marmelade oder Bratwurst verrät, verabschiedet sich Gerhard Rudolf. Von Geschäft im Sinne von Geldmachen kann also keine Rede sein! Dies gilt es zu unterstreichen: Die Beschäftigung mit Fernsehen ist bei Gerhard Rudolf stets selbst auferlegte Fleißarbeit und selbst gewähltes Ehrenamt gewesen. Freilich bestand von Anfang an ein nachhaltiges Interesse an der Fernsehtechnik, die sich auch gut mit dem Berufsleben verbinden ließ. Aber hätte er sich für das Schieben einer ruhigen Kugel und Dienst nach Vorschrift während seiner 38-jährigen Angestelltenzeit bei der Postdirektion Kronstadt entschieden (Rentner seit 1990), so hätte er sich nie näher mit der Fernsehwelt beschäftigen müssen. Sein hauptsächliches Dienstgeschäft war nämlich das Radio, das ihn mit seinen zahlreichen Problemen zur Genüge beanspruchte. Die Entwicklung dahin ist im Wesentlichen die folgende:
Besucht man die Familie Rudolf in der Schwarzgasse, so taucht man, was Atmosphäre und Lebensrhythmus anbelangt, tief in die einstige sächsische Bürgerwelt Kronstadts ein. Dabei ist der Name Rudolf ein, historisch gesehen, junger in unserer Stadt. Sein Urgroßvater Johann Rudolf ist nämlich 1827 katholisch im böhmischen Weberstädtchen Warnsdorf getauft worden. Um die Jahrhundertmitte versuchte er, wohl der sich ausbreitenden industriellen Revolution ausweichend, als Wollenweber, wie man in der Familie weiß, sein Glück am anderen Ende der Habsburgermonarchie. Er fand es offensichtlich auch. Zwar nicht als Weber, sondern in der Person von Anna Schreiber, der Tochter eines in der Drechslerinnung markanten Meisters, des Flaschendrechslers Petrus Schreiber, die er 1856 ehelichte. Zur Familiengeschichte sei nur noch so viel erwähnt, dass die Schreibers in der Drechslerinnung jener Zeit gut vertreten waren und in den Adressbüchern immer wieder in der Sand-, Rahmen- und Mittelgasse auftauchen. Dies mag auch erklären, wieso Gerhard Rudolf am 8. August 1932 in der Mittelgasse Nr. 10 das Licht der Welt erblickte. Die Kindheit verbrachte er v.a. im 1936 neu erbauten elterlichen Haus in der Rahmengasse. Als Schüler machte er alle Umbrüche unseres deutschen Schulwesens in Kronstadt nach dem 23. August 1944 mit. Dadurch dauerte es bis zur Tertia (7. Klasse), ehe sich Gerhard Rudolf zum Vorzugsschüler mauserte. Aus dieser Zeit stammt auch sein erstes selbst gebautes Radiogerät, gebastelt aus Hinterlassenschaften der Roten Armee – bei Schulabschluss schenkte er den Rückkoppelempfänger der Honterusschule als Anschauungsmaterial.
1951-52 folgten zwei Semester Elektrotechnik an der Universität Temeswar. Die Mathematik bereitete einige Schwierigkeiten, aber der eigentliche Grund für den Studienabbruch war die nähere Bekanntschaft mit der proletkultistischen Herrschaftskultur. In einer evaluativen Sitzung der Studentengruppe der UTM (Uniunea Tineretului Muncitoresc) stellte der Gruppenführer Gerhard Rudolf bloß. Der wahre Zweck seiner Bemühungen um aktive Beteiligung an der kommunistischen Jugendarbeit sei die Verschleierung seiner ungesunden sozialen Herkunft, so lautete der Vorwurf. Es ist ein Wesensmerkmal des Totalitarismus, dass es bei der Konstruktion von politischer Schuld in erster Linie um deren Wirkung als Herrschaftsinstrument geht und erst in zweiter oder letzter Linie um die tatsächliche Begründbarkeit der Schuldvorwürfe. Dies trifft auch im Fall von Gerhard Rudolf zu. Seine Beschuldigung fußte auf einem Recherchefehler, der die Familie des Besitzes von zwei Häusern bezichtigte. Die Familie hatte aber schon seit gut einem Jahrzehnt kein zweites Haus im Besitz, aber was zählte das schon? Vielleicht hätte man mit Hartnäckigkeit das Studienhindernis der ungesunden sozialen Herkunft noch ausräumen können. Bei einer auf Unfehlbarkeit aufgebauten Parteiherrschaft aber ein Unterfangen mit fraglichem Ausgang. Die Fähigkeit, sich klug bescheiden zu können, eröffnete Gerhard Rudolf einen alternativen Weg, um der Elektrotechnik treu bleiben zu können - schließlich müssen ja nicht alle Ingenieure sein… In Kronstadt stößt er auf ein Plakat der Bukarester Schule für Fernmeldemechanik und gehört bei der Aufnahmeprüfung für die Radiotechnikerausbildung unter den 50 Aufgenommenen zu den drei besten.
Im Anschluss daran ist er vor allem für die technische Betreuung des Drahtfunknetzes in der Region Stalin, später dem heutigen Kreis Kronstadt zuständig. Über einen Kabelanschluss und ein kostengünstiges Empfängergerät konnte man damals das erste Programm des Staatsrundfunks vergleichsweise gut empfangen. Die Qualität der Dienstleistung lag Gerhard Rudolf schon damals am Herzen. Mittels etlicher Verbesserungen und Neuerungen konnte er die Übertragungssicherheit steigern, etwa mithilfe eines selbst gebauten Detektors die Störungsquellen im Drahtfunknetz ermitteln. Zudem gelang es ihm, auch einen zweiten Kanal in den zunächst auf einen Radioposten ausgelegten Drahtfunk einzuspeisen, wovon auch unsere Minderheit profitierte, da nun mehr deutschsprachige Sendungen von Radio Bukarest im Drahtfunknetz empfangen werden konnten. Für sein weit überdurchschnittliches berufliches Engagement erhielt Gerhard Rudolf zahlreiche Anerkennungen des Arbeitgebers (zahlreiche Bestarbeitermedaillen), aber auch internationale Fachzeitschriften beachteten seine Eingaben („Radio“, Moskau 1985/86, „Funkschau“, München 1984, „Tehnium“, Bukarest 1972-73).
Gerhard Rudolf gehört zu den Fernsehpionieren Kronstadts. 1957/58 unternahm die Postdirektion erste Versuche mit TV-Geräten. Zu diesem Zweck wurde ein Rahmen zwischen zwei Fahrräder geschraubt, um einen der damals sehr schweren Röhrenfernseher aus dem vor Funkwellen recht abgeschirmten Zinnental ein stückweit hinaus befördern zu können. Zusammen mit den Kollegen Traian Iordache und dem als Blaskapellenleiter bekannten Günther Schromm empfing Gerhard Rudolf die ersten Fernsehbilder in Kronstadt - auf der Schützenwiese wurde dann das Regelbild des schwedischen Fernsehens aufgrund des Phänomens des Überreichweitenempfangs sichtbar.
Die Anschaffung eines ersten eigenen Fernsehers war nur noch eine Frage von Monaten. Dieses Gerät sollte für die familiäre Zukunft von zentraler Bedeutung werden. Bei einer Vorführung berührte die junge Ingrid Schadt das Gerät, und der Funken sprang wortwörtlich über. 1959 wurde geheiratet, und binnen neun Jahren folgten die 4 Kinder Helmut, Ortwin, Gerhild und Helga, die auf unsere Gemeinschaft und die evangelische Kirche orientiert großgezogen worden sind.
Als langjähriges Mitglied der Gemeindevertretung (seit den 1960er Jahren) und des Presbyteriums der Honterusgmeinde (1974-1990) konnte Gerhard Rudolf mit dem um sich greifenden Drang zur Auswanderung nach Deutschland nichts anfangen. Der Schmerz über das Weggehen vieler ist im Gespräch auch heute noch zu spüren, aber auch die Freude an unserem Gemeinschaftsleben. Seine aktive Beteiligung daran lässt sich jüngst etwa an dem selbstlosen Einsatz für die Einspeisung von ARD und ZDF in das Kabelfernsehnetz unseres Altenheims in der Blumenau ablesen. Ein Einsatz, der notwendig geworden ist, da trotz aller Bemühungen die Anzahl der deutschen Sender im TV-Kabelnetz von Kronstadt in stetem Sinken begriffen ist (1999: 15 Programme, 2014: 2 Programme). Auch die Dotation des heutigen Preises wird teils der Verbesserung des deutschsprachigen Fernsehangebots im Blumenauer Altenheim zugute kommen, wofür an dieser Stelle bereits ein herzlicher Dank ausgesprochen sei.
Vieles, vor allem Technisches wurde nicht erwähnt, etwa seine Bemühungen, sich auf den für die sozialistischen Länder zu erwartenden SECAM-Farbfernsehstandard vorzubereiten. 1983 führte Rumänien jedoch einen verborgenen PAL-Standard ein, der in den westlichen Ländern mit Ausnahme Frankreichs die Regel war - der Umbau des eigenen Fernsehers war die logische Konsequenz.
Trotz dieser Auslassungen sollte das Gesagte aber ausreichen, um erkennbar zu machen, was wir heute an Gerhard Rudolf in besonderer Weise ehren wollen. Es ist die bescheidene, freundliche Hilfsbereitschaft eines Mitgliedes unserer Gemeinschaft, das sein Wissen und Können mit der natürlichsten Selbstverständlichkeit der Allgemeinheit zur Verfügung stellt, dem Geltungsdrang und Eitelkeit völlig fremd sind und dem die Wichtigkeit der Details sowie ihres Zusammenspiels vollends bewusst sind. Hinzu kommt das Handeln als logische Konsequenz des Erkennens.
So gingen etwa die erfolgreichen Bemühungen unseres Forums und der Deutschen Sendung des rumänischen Staatsfernsehens bezüglich der inhaltlichen und sprachlichen Verbesserung der touristischen Tafeln an den Wehranlagen Kronstadts im letzten Jahr auf Hinweise von Gerhard Rudolf zurück. Und wenn es sein muss, wird schon mal zu Leiter und Klebestreifen gegriffen, wenn auf dem Straßenschild statt „Johann Gött“ nur „Johann Gott“ steht - es ist ja schließlich schlimm genug, dass das Pub vis-à-vis der Redoute sich dem falschen Straßennamen folgend für Gott persönlich hält.
Als Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Kronstadt kann ich nur sagen, dass ich mir Mitglieder wie Gerhard Rudolf, die es verstehen, die Punkte aufs „ö“ zu setzen, nur wünschen kann, weil Demokratie nur auf diese Weise lebendig sein kann.
Herzlichen Glückwunsch!
Und da Sie, verehrtes Publikum, bei dem so oft gehörten Namen „Gerhard Rudolf“ sich „Ingrid“ dazudenken möchten, überreiche ich hiermit auch ihr erst den Blumenstrauß.

19. Mai 2014