Apollonia-Hirscher-Preisverleihung 2010
Die erste Kirchenmutter der Honterusgemeinde
Laudatio auf Helene Becker, die Trägerin der Apollonia-Hirscher-Preises für das Jahr 2010/Von Wolfgang Wittstock
Meine Damen und Herren,
der Apollonia-Hirscher-Preis, dessen Stifter das Deutsche Forum Kronstadt sowie die Heimatortsgemeinschaften Kronstadt und Bartholomae in Deutschland sind, wird heute zum 12. Mal vergeben. Bekanntlich soll durch diesen Preis jeweils eine Persönlichkeit geehrt werden, die sich um unsere Kronstädter sächsische Gemeinschaft verdient gemacht hat. Eine zusätzliche Bedingung ist, dass die Person, an die der Preis geht, ihren Wohnsitz in Kronstadt hat. Bisher wurden mit dem Apollonia-Hirscher-Preis sieben Frauen, drei Männer und ein Ehepaar geehrt. Man sieht, die Namenspatronin des Preises, die Stadtrichter- und Kaufmannswitwe Apollonia Hirscher, die im 16. Jahrhundert in unserer Stadt gelebt und segensvoll gewirkt hat, hat auch in unserer Zeit in unserer Gemeinschaft würdige Nachfolger und vor allem Nachfolgerinnen gefunden. In anderen Bereichen, z.B. in der Politik, bemüht man sich über die Einführung von Frauenquoten, dem weiblichen Geschlecht mehr Gewicht und Anerkennung zuteilwerden zu lassen. Bei der Vergabe des Apollonia-Hirscher-Preises ist das, betrachtet man die weiter vorhin angegebenen Daten, momentan nicht vonnöten. Wobei hinzuzufügen ist, dass auch der Apollonia-Hirscher-Preis für das Jahr 2010, der heute vergeben wird, an eine Frau geht. Diese verdienstvolle Frau heißt Helene Becker.
Bekanntlich gibt die Evangelische Stadtpfarrgemeinde A.B. Kronstadt, uns allen bekannt unter dem Namen Honterusgemeinde, seit etlichen Jahren in jeweils mehrmonatigem Abstand einen Gemeindebrief heraus, der den Titel „Lebensräume“ trägt. Im August-Heft des vorigen Jahres, der Nummer 14, erschien in der Rubrik „Ehrenamt“ ein Text mit der Überschrift „Bericht über meine langjährige ehrenamtliche Tätigkeit in der Kronstädter Honterusgemeinde“. Verfasserin dieses Textes ist Frau Helene Becker. Sie schildert darin ihr vom Gebot der Nächstenliebe getragenes Engagement im kirchlichen Leben, sie erwähnt die Ehrenämter im kirchlichen Bereich, die sie im Laufe der Jahre und Jahrzehnte übernahm und gewissenhaft versah. Es fing damit an, in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts - sie war noch berufstätig -, dass Helene Becker in den Blumenauer Kirchenrat gewählt wurde, wobei damals auch ihre ehrenamtliche Tätigkeit als Zehntfrau begann. Die Honterusgemeinde hatte damals noch mehrere Filialen mit eigenen Kirchenräten und eigenen Kuratoren, nämlich Obere Vorstadt, Blumenau und Martinsberg. Das Gebiet, für das die Blumenauer Kirchenfiliale damals zuständig war, umfasste nicht nur das historische Stadtviertel Blumenau, sondern u.a. auch die Neubauviertel des Traktoren- und des Lkw-Werks, das Ragadotal, die Noa, die Dârste und sogar die Siebendörfer (Săcele). Bereits Helene Beckers Mutter war Blumenauer Zehntfrau gewesen, der Vater Mitglied im Blumenauer Kirchenrat. Über ihre eigene Tätigkeit als Blumenauer Zehntfrau schreibt Helene Becker in dem erwähnten autobiographischen Text:
„Dabei lernte ich viele Blumenauer kennen, da ich im Laufe der Jahre in verschiedenen Stadtvierteln, besonders in der Adventszeit - doch nicht nur - immer wieder Hausbesuche machte. Angefangen von der ‚Fundătura Hărmanului‘ über Triaj, Honigberger Straße bis ins alte Astra-Viertel.
In den 70er, 80er Jahren hatte die Blumenau noch sehr viele Gemeindeglieder. Einige von ihnen besuchte ich regelmäßig, um ihnen ihre monatliche Unterstützung zu bringen, andere nur sporadisch. Dabei schütteten viele ihr Herz aus. Viel Not und Kummer wurden da offenbar. Da war oft viel Weisheit und Takt nötig, um die richtigen tröstenden Worte zu finden. Viele der inzwischen längst Verstorbenen waren mir sehr lieb geworden. Gemeinsam lasen wir die Losung und beteten. Es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen.“
Im ehrenamtlichen kirchlichen Einsatz Helene Beckers folgten weitere Aufgaben, die auf sie zukamen. Sie wurde in die Gemeindevertretung der Honterusgemeinde und nach ein paar weiteren Jahren ins Presbyterium und schließlich zur Kirchenmutter gewählt, wobei unterstrichen werden muss, dass Helene Becker in der jahrhundertelangen Geschichte der Honterusgemeinde die erste Kirchenmutter war. Bis dahin hatte es hier nur Kirchenväter gegeben. Der damalige Stadtpfarrer Mathias Pelger nannte sie aber meistens nicht Kirchenmutter, sondern Armenmutter, weil sie so vielen hilfsbedürftigen Gemeindegliedern regelmäßig Besuche abstattete und sich für deren Belange energisch einsetzte.
Als Armenmutter übernahm Helene Becker auch die Betreuung der Kleiderkammer der Honterusgemeinde, die früher im Stadtpfarrhaus eingerichtet war, heute aber im ehemaligen Obervorstädter Pfarrhaus funktioniert. Die Kleiderkammer verwaltet Sachspenden (Kleider, Schuhe) und gibt sie an Bedürftige weiter.
Als nach der politischen Wende von 1989, nach dem Sturz der Ceauşescu-Diktatur unsere Evangelische Kirche A.B. in Rumänien ihr diakonisches Wirken erweitern und vertiefen konnte, vergrößerte sich logischerweise auch das ehrenamtliche Betätigungsfeld unserer heutigen Preisträgerin. Sie wurde Mitglied im Diakonischen Werk unserer Landeskirche, und sie wirkt von Anfang an gewissenhaft im Diakoniekreis der Honterusgemeinde mit, der einmal pro Monat tagt und für sämtliche soziale Belange in der Kirchengemeinde zuständig ist.
Helene Becker betreut weiterhin die Kleiderkammer, obwohl sie das Amt der Kirchenmutter, wie sie selbst schreibt, im Jahr 2009 aus Altergründen niedergelegt hat. Sie ist auch weiterhin Mitglied der Gemeindevertretung der Honterusgemeinde und der Bezirkskirchenversammlung, wird sich aber, wie sie mir verriet, ein weiteres Mal nicht mehr zur Wahl stellen. Jüngere Gemeindeglieder sollen die Aufgaben, die sie pflichtbewusst versah und versieht, übernehmen.
Bezeichnenderweise erfahren wir in dem in den „Lebensräumen“ erschienenen Text, in dem die Apollonia-Hirscher-Preisträgerin für das Jahr 2010 ihren langjährigen ehrenamtlichen Einsatz im kirchlichen Leben beschreibt, eigentlich nichts über die Privatperson Helene Becker. Das spricht für ihre Bescheidenheit und unterstreicht, welch hohen Stellenwert sie dem gemeinnützigen Wirken in ihren Leben, bei Hintansetzung der eigenen Person und des Privatlebens, stets eingeräumt hat. In unserer Laudatio wollen wir aber die wichtigsten Daten in der privaten Biographie unserer Preisträgerin nicht unerwähnt lassen. Helene Becker wurde am 14. März 1929 in der Burzenländer Gemeinde Wolkendorf geboren. Der Vater, Tischlermeister, war Wolkendorfer, die Mutter stammte aus Zeiden. Die Familie hatte drei Kinder. Helene Beckers älterer Bruder lebt in Deutschland, eine Schwester starb bereits als 11-jähriges Kind. Als Helene Becker sechs Jahre alt war, übersiedelte die Familie nach Kronstadt. Der Vater fand hier Arbeit, nachdem die große Weltwirtschaftskrise seinen Tischlereibetrieb ruiniert hatte. Die ersten vier Schulklassen besuchte Helene Becker in der Blumenauer evangelischen Volksschule, worauf vier weitere Klassen im evangelischen Mädchengymnasium folgten. Nächste Station ihres Bildungsweges war das rumänische Abendlyzeum im Tractorul-Stadtviertel mit abschließendem Bakkalaureat. Als 20-Jährige begann Helene Beckers berufliche Tätigkeit. Sie arbeitete im Büro der Gütekontrolle im Kugellagerwerk „Rulmentul“, zunächst in dessen Ableger im Lkw-Werk, der 1960 ins Mutterwerk an der Petersberger Straße übersiedelte. Nach 34 Arbeitsjahren ging sie im Jahr 1984 in Rente.
Im Jahr 1937 war ihre Familie in ein Häuschen im Gärtnergässchen, auf dem Anwesen des Blumenauer Pfarrhofes, übersiedelt. Hier wohnt Helene Becker auch heute noch, in unmittelbarer Nähe des Altenheims Blumenau, des ehemaligen Blumenauer Pfarrhauses, in dem neuerdings ein Heim für betreutes Wohnen funktioniert, und der Blumenauer Kirche. Drei Pfarrer hatte die Blumenau in den mehr als 70 Jahren, seit Helene Becker auf dem Blumenauer Pfarrhof zu Hause ist: Hans Lienert, der auch als Schriftsteller, insbesondere als Dramatiker hervorgetreten ist, anschließend Waldemar Keintzel, der später, nach der willkürlichen Verhaftung Konrad Möckels durch die kommunistischen Behörden und dessen Verurteilung zu lebenslänglicher Kerkerhaft, Kronstädter Stadtpfarrer wurde, und schließlich Burghard Morscher, der letzte Pfarrer, der das Blumenauer Pfarrhaus, bis zu seiner krankheitsbedingten Auswanderung Anfang der 90er Jahre, bewohnt hat. Seither, in der Regel vor allem am ersten und letzten Sonntag des Monats und auch sonst immer, wenn kein Pfarrer zur Verfügung steht, wird der Gottesdienst in der Blumenauer Kirche von Lektoren gestaltet, zu denen auch Helene Becker gehört.
Nicht unerwähnt bleiben darf in dieser Laudatio, dass Helene Becker sich auch um das Deutsche Forum Kronstadt verdient gemacht hat. Ihre Mitgliedskarte hat die Nummer 235, das heißt, sie ist ziemlich bald nach der Gründung dem Forum beigetreten. Mehrere Jahre hat sie im Sekretariat der Forums-Geschäftsstelle in Teilzeit gearbeitet: Mitgliedsbeiträge eingesammelt, dann auch bei der Vermittlung von Touristenvisa für die Einreise nach Deutschland. „Damals wollte jeder Deutscher sein“, erinnert sich Helene Becker an jene Zeit, bevor der Visumzwang für Reisen nach Deutschland abgeschafft wurde. Die Arbeit im Forum hat ihr offensichtlich Freude bereitet, denn sie sagte mir: „Man kam mit vielen Leuten zusammen. Es hat mir Spaß gemacht. Die Atmosphäre war angenehm.“ Helene Becker hat aber im Forum lange Zeit beispielgebend auch ehrenamtlich gewirkt, als Mitglied in der Vertreterversammlung des Kreisforums und als Mitglied der Zensorenkommission. Doch damit ist die Aufzählung der ehrenamtlichen Aufgaben, die sie im Laufe ihres Lebens wahrgenommen hat, noch nicht erschöpft. Gern erinnert sich Helene Becker nämlich auch an ihr laienkünstlerisches Wirken - in den 50er Jahren, als Kronstadt offiziell Stalinstadt hieß, in der Deutschen Spielgruppe für Lieder und Tänze, später dann im Paul-Richter-Chor.
Unsere heutige Preisträgerin deutete im Gespräch an, ihr ehrenamtliches, gemeinnütziges Wirken konnte derart intensiv, vielseitig und lang andauernd sein, weil sie unverheiratet blieb und keinen familiären Pflichten nachkommen musste. Dieser Sachverhalt schmälert aber in keiner Weise die großen Verdienste, die sie sich um unsere Gemeinschaft erworben hat. Es ist uns eine Freude, ihr heute für all ihre guten Taten herzlich Dank sagen zu können. Für ihren weiteren Lebensweg wünschen wir ihr Gesundheit, Glück und Zufriedenheit!
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