Autonomie-Eigenarten der Sachsen und der Szekler
19.03.15
Interview mit dem Historiker Sándor Vogel über die siebenbürgischen Selbstverwaltungssysteme im Mittelalter
Die von Ihnen ins Ungarische übersetzte Siebenbürgische Chronik des sächsischen Schäßburger Stadtschreibers Georg Kraus – deren Erscheinung in den achtziger Jahren in Rumänien nicht erlaubt war – wurde unlängst in Siebenbürgen wieder herausgegeben. Wie funktionierte die Autonomie der Sachsen, die Sächsische Nationsuniversität? Wie sah sie von innen, vom Standpunkt der sächsischen Bürger aus?
In der Entstehung der sächsischen Selbstverwaltung war das von König Andreas II. im Jahre 1224 ausgestellte Andreanum von grundlegender Bedeutung. Die von ihm gewährten Freiheiten, besser gesagt, Sonderrechte oder Privilegien waren in der Hermannstädter Provinz gültig und fassten die dort angesiedelten Sachsen in eine rechtliche Einheit zusammen. So wurden die für das Gebiet dieser Provinz - das später Königsboden (Fundus Regius) genannt wurde - und für seine Bewohner gewährleisteten Privilegien zum Ausgangspunkt der sich herausbildenden sächsischen rechtlichen Einheit und brachten eine Entwicklung in Gange, die den Fortbestand des sächsischen Volkes 800 Jahre lang sicherte. Auf Grund des Andreanums bildeten die Sachsen eine politische Einheit, hatten eine eigene Verwaltung, von ihnen gewählte Richter und eine eigene Gesetzgebung basierend auf das eigene Gewohnheitsrecht. Ihr Recht zum Siegelgebrauch zeigte, dass sie eine eigene Rechtspersönlichkeit hatten. Der König betrachtete das privilegisierte Gebiet als gemeinsames Eigentum der Siedler, wo niemand mit adeligen Vorrechten leben konnte. Das Andreanum kodifizierte das beste und großzügigste Siedlerrecht, worüber westliche Siedler jemals in Mittel- und Osteuropa verfügten. Die von ihm gewährleisteten Privilegien waren organische Teile des ungarischen und siebenbürgischen Landesrechts. Im Jahre 1486 erweiterte König Matthias, auf Bitte der Sachsen, die Privilegien des Andreanums für alle in Siebenbürgen lebenden Sachsen. Der König rief damit das Selbstverwaltungsorgan der Sachsen, die Sächsische Nationsuniversität ins Leben, die den gesetzlichen Rahmen der auf dem privilegisierten Gebiet lebenden Sachsen für Jahrhunderte bestimmte und sie zu einer einzigen Verwaltungs- und rechtlichen Einheit zusammenschmolz. Die Sachsen bestanden während ihrer Geschichte beharrlich auf ihre Privilegien. Das beweist auch die Tatsache, dass die ungarischen Könige und die Fürsten Siebenbürgens die Privilegien der Sachsen zweiundzwanzig Mal bekräftigten. Das Privilegiensystem war gebietsmäßig festgelegt. Es bezog sich ausschließlich auf die Sachsen, die auf dem Königsboden lebten. So gab es Sachsen (z. B. die dreizehn auf dem Gebiet des Komitats Kokel liegenden Dörfer mit sächsischer Bevölkerung) die die Privilegien des Andreanums nicht genießen konnten und als Leibeigenen lebten. Die Universität hatte die folgenden Befugnisse: Verwaltung des Königsbodens, Gesetzgebung, Rechtssprechung, wirtschaftliche und politische Entscheidungen. Die Vertretungskörperschaft der Universität war die Tagung (Conflux), die in jedem Jahr zweimal zusammentrat. In der Zeit zwischen den Tagungen erledigte das Magistrat von Hermannstadt die laufenden Angelegenheiten. In allen Prozessverfahren, die die Sachsen aus dem Königsboden betrafen, urteilte die Universität. Berufung konnte nur beim König, später beim Fürsten Siebenbürgens eingelegt werden. Der Grund des Rechtssystems war das Gesetzbuch Eigenlandrecht der Siebenbürger Sachsen, das als ewig geltende Rechtsvorschriftsystem im Jahre 1583 von dem Fürsten Stephan Báthory bekräftigt wurde ( es war bis 1853 gültig). Die den Sachsen auferlegten Steuern einzunehmen, war die Zuständigkeit der Universität. Sie genehmigte die Gründung von Zünften, regelte sogar das alltägliche Leben. Parallel mit der weltlichen Universität entfaltete die geistliche Universität ihre Tätigkeit, die aber der ersten völlig untergeordnet war und mit der Annahme der Kirchenordnung aller Deutschen in Siebenbürgen ebenfalls die Tätigkeit der sächsischen lutherischen Kirche regelte, die als Folge der Reformation entstand. Die sächsische Selbstbestimmung war so stark, dass das Gesetz vorschrieb: in den sächsischen Städten durften nur Deutsche Häuser kaufen, demzufolge konnten nur sie den Status eines Bürgers erreichen. An der Spitze der Universität standen der Bürgermeister von Hermannstadt und der Königsrichter des Stuhles Hermannstadt. Der Königsrichter war zur gleichen Zeit Sachsengraf (comes Saxonum) und nach außen vertrat er die sächsische „Nation”. Das alles wurde seelisch und geistig von einem besonders starken sächsisch-ständischen Identitätsbewusstsein unterstützt. Die Sachsen lebten, unabhängig davon, ob sie Mitglieder des städtischen Bürgertums oder freie Bauern waren, mit dem Bewusstsein, Mitglieder der sächsischen ständischen Nation und Untertanen des Fürstentums Siebenbürgen zu sein.
Wie hat sich das von Ihnen Geschilderte in die Gesellschaft Siebenbürgens zur Zeit von Kraus (1607 - 1679) eingegliedert?
Die sächsische ständische Nation gliederte sich zu Lebzeiten von Kraus zusammen mit ihren Privilegien in die Gesellschaft Siebenbürgens, politisch in das Fürstentum Siebenbürgen, ein. Zu den schon erwähnten Komponenten ihres Identitätsbewusstseins fügte sich noch das folgende Bewusstsein hinzu: die Sachsen bildeten ein Drittel des Landes dadurch, dass sie im Landtag vertreten waren, wo ihre Stimme mit der des ungarischen Adels und der der Szekler gleichwertig war. Der Sachsengraf war Mitglied des Fürstenrates, folglich bekleidete er eines des angesehensten Ämter des Staates. Die Siebenbürger Sachsen beteiligten sich also an der Staatsgewalt und bildeten innerhalb des Fürstentums einen staatstragenden Stand. Ihre Stimme war für die Wahl des Fürsten geradeso nötig, wie die der Adeligen und die der Szekler. Die verabschiedeten Gesetze mussten auch mit dem Siegel der Sachsen versehen werden.
Was für Ähnlichkeiten und Unterschiede gab es zwischen der Selbstbestimmung der Sachsen und der Autonomie der Szekler?
Sowohl die Szekler als auch die Sachsen waren angesiedelte Volksgruppen. Die Szekler siedelten sich etwas früher, die Sachsen etwas später in Siebenbürgen an. Die beiden Volksgruppen hatten Privilegien und gegenüber dem König, später dem Fürsten, Verpflichtungen. Ihre Verwaltung war ähnlich, beide Volksgruppen organisierten sich in Stühlen. Die szeklerische Gesellschaft gründete sich am Anfang auf das Prinzip der Gleichberechtigung, um jene zu verteidigen gegen die die Szekler sich oft auflehnten. Anlässlich des Aufstandes im Jahre 1506 bekräftigte die szeklerische Nationalversammlung erneut die szeklerische Gleichberechtigung. Die Gesellschaft der Szekler hatte einen starken militärischen Charakter. Bei Aufruf des Königs, später des Fürsten, mussten sie persönlich ins Feld ziehen. Die szeklerische leichte Kavallerie spielte immerfort eine bedeutende Rolle im Heer des Fürsten Siebenbürgens. Im Unterschied dazu bestand die sächsische Gesellschaft aus städtischen Bürgern und freien Bauern. Ihre Identität war gleichfalls von bürgerlichem Charakter. In ihren Reihen gab es weder Adelige noch Leibeigene. Militärische Verpflichtungen aber hatten auch sie. Das Andreanum schrieb vor: Es sollen 500 Bewaffnete gestellt werden, um bei einer Heeresfahrt des Königs innerhalb des Reiches Kriegsdienst zu leisten und 100 außerhalb des Reiches, wenn der König selbst ins Feld zieht. In der Fürstenzeit schickten die sächsischen Städte und Stühle in das Heer des Fürsten eine gewisse Anzahl von Trabanten. Die sächsischen Kirchenburgen und die von Mauern umgebenen Städte bedeuteten ein beträchtliches militärisches Potenzial in der Verteidigung des Landes.
Die szeklerische und die sächsische Gesellschaft entwickelten sich im 16. und 17. Jahrhundert unterschiedlich. In der szeklerischen begann ein gewisser Prozess der Feudalisierung. Die Vornehmen unter den Szeklern wurden zu Adeligen, während ein Teil der gemeinen Szekler zu Leibeigenen wurde. Dies verursachte Spannungen und die gemeinen Szekler lehnten sich im Jahre 1562 auf. Im 17. Jahrhundert versuchten die Fürsten den oben erwähnten Prozess zu verhindern, um das wertvolle Heer der Szekler zu retten und ihren militärischen Dienst aufrechtzuerhalten. Die sächsische Gesellschaft war ebenfalls nicht einheitlich und demokratisch, wie sich das die sächsische romantische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts vorstellte. Obwohl die führenden Beamten gewählt wurden, war das nicht eine Wahl im heutigen demokratischen Sinne und die führenden Ämter wurden vom Patriziat bekleidet. Zur gleichen Zeit wurde die Herrschaft der führenden Städte der Stühle über die anderen Ortschaften, Dörfer und Marktflecken immer erdrückender. Diese Lage führte zu Aufständen der Plebejer. Ein solcher brach 1645 in Hermannstadt aus, und 1673 lehnte sich der Marktflecken Keisd gegen Schäßburg auf. Die beiden Aufstände beschrieb Kraus: den ersten in der Siebenbürgischen Chronik, den zweiten in dem Gerichtsprotokoll des Schäßburger Stadtrats. Sowohl die Szekler als auch die Sachsen legten großen Wert auf das Verwaltungssystem der Stühle und die unabhängige Erledigung ihrer inneren Angelegenheiten. Diese innere Unabhängigkeit erlebten aber die Szekler und die Sachsen in unterschiedlichem Maße. Die Unabhängigkeit der Sachsen war stärker als die der Szekler. Der grundlegende Unterschied offenbarte sich dadurch, dass der sächsische Stand das Privilegiensystem besser, vollkommener, unangefochtener als die Szekler aufrechterhalten konnte.
In welchem Maße kann diese geschichtliche traditionelle Form der Autonomie der Sachsen und der Szekler heute eine minderheitenrechtliche territoriale Selbstbestimmung der Szekler beeinflussen?
Die Vergangenheit beeinflusst immer die Gegenwart, wobei diese als Ausgangspunkt für die Zukunft betrachtet werden kann. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche szeklerische Autonomie kann als Faktor des Bewusstseins, als Vorgeschichte einer heutigen territorialen Autonomie betrachtet werden. Dafür können wir Beispiele aus dem heutigen Europa anführen. Katalonien ist heute eine autonome Provinz Spaniens. Wir können davon ausgehen, dass die historischen Ereignisse in Bezug auf den Prozess des Erringens der Autonomie der Szekler eine ähnliche Rolle spielen werden. Jedoch muss dieser Umgestaltungsprozess den heutigen Umständen, Anforderungen und Eigentümlichkeiten gerecht werden, so wie dies in Süd-Tirol und auf den Aland Inseln der Fall war.
Im Falle der Sachsen ist es nicht mehr möglich über ihre heutige Autonomie zu sprechen. Als Vertreter der siebenbürgischen Identität lebten sie 800 Jahre lang in Siebenbürgen im Rahmen des Königreiches Ungarn, des Fürstentums Siebenbürgen, der Habsburgischen Herrschaft, der österreichisch-ungarischen Monarchie und zwischen den zwei Weltkriegen in Rumänien. Von dem Staat unterstützt oder wenigstens nicht gestört (ausgenommen die Herrschaft von Gabriel Báthory 1608-1613, die Zeit von Josef II. 1780-1790 und die rumänische Herrschaft) konnten sie ihre Identität bewahren. Der 50 Jahre währende rumänische Kommunismus aber hat die Sachsen in ihrem Lebensnerv getroffen. Die große Mehrheit der Sachsen wählte den Weg der Auswanderung nach Deutschland und damit wurde die Zukunft des siebenbürgisch- sächsischen Volkes in Frage gestellt. Die Eigentümlichkeit Siebenbürgens lag gerade in seinem vielvölkerstaatlichen Charakter und diesem wurde jetzt eine unheilbare Wunde beigebracht. Während der vielen Jahrhunderten brachte die Treue zum Heimatland die Sachsen, die im Ausland studierten, immer zurück nach Hause. Jetzt aber kehren sie nicht mehr zurück. Bisher konnte keine Erschütterung der Geschichte (Mongolensturm 1241, Verwüstung seitens des Woiwoden Michael von der Walachei und Basta gegen 1600, türkisch-tatarischer Angriff 1658-1662, den gerade Kraus am ausführlichsten beschrieb) das Verschwinden einer der drei Ethnien Siebenbürgens (Ungarn, Sachsen, Rumänen) verursachen. Mit der fast gesamten Auswanderung, das heißt mit dem Verschwinden des sächsischen Volkes, ist ein Stück Siebenbürgens verloren gegangen und das kann niemals ersetzt werden.
Die Fragen stellte
András B. Kovács
Dr. Sándor Vogel. Foto: www.krónika.ro
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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