Der Kranz
20.12.12
Aus einer Erzählung von Erwin Wittstock
Der Erzähler und Romanautor Erwin Wittstock (Jahrgang 1899, in Hermannstadt geboren) verbrachte die letzten anderthalb Jahrzehnte seines Lebens in Kronstadt. Hier ist er am 27. Dezember 1962 – vor fünfzig Jahren – gestorben und wurde auf dem Innerstädtischen Friedhof begraben.
Die im Ausgang des Jahres 1957 begonnene, im Frühjahr 1958 abgeschlossene Erzählung „Der Kranz“ erschien ihm bald als zu skizzenhaft, er nahm sie erneut vor und arbeitete (bis 1960) an einer ausführlicheren, stellenweise durch Erörterungen überfrachteten Fassung. Sie abzuschließen war ihm nicht vergönnt. Zwei Bruchstücke dieses längeren Textes wurden veröffentlicht: „Der missglückte Flug“, in „Karpatenrundschau“, 26. November 1971, und „Das Mädchen Maio May“, in „Die Woche“, 25. Dezember 1987.
Das dargestellte Geschehen führt in die Zeit zurück, die der Verfasser vor dem Ersten Weltkrieg als Schüler in Schässburg verbracht hatte. Geschildert werden Erlebnisse des Obergymnasiasten Georg Herberth, Sohn eines Böttchers aus einer Schässburg nahen Landgemeinde, seine Wahrnehmungen und Erfahrungen. Georg wohnt als „Kostkind“ bei zwei alten Schwestern. Er verehrt das ebenfalls vom Land kommende, etliche Jahre ältere Mädchen Maria May, das in untergeordneter Stellung in einem Geschäftsbetrieb arbeitet, er liebt sie aus der Ferne, ohne ihr seine Empfindungen zu offenbaren. Nur einmal – und das wird lediglich in der ersten Fassung berichtet – eröffnet er sich ihr und stößt dabei nicht sogleich auf Verständnis: Zu weit liegen seine und ihre Gefühlswelt sowie, im städtischen Umfeld, auch ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung auseinander.
Maria, genannt Maio, gerät auf die schiefe Ebene, sie lässt sich mit jüngeren wie auch mit älteren Herren ein. Zitate aus der ersten Fassung: „Die Söhne der Stadtbürger, die mir nachstellten, haben weder an ihre noch an meine Würde gedacht. Sie haben ihr Begehren mit Versprechen verbrämt, an die ich glaubte. Als der eine das Versprechen nicht hielt, schimpfte der nächste über die Wankelmütigkeit seines Freundes und hielt es auch nicht…“ „Ich kam vom Dorf. Ich hatte von der Stadt und den Menschen hier eine hohe Vorstellung…“ Maio May stirbt an den Folgen einer abgebrochenen Schwangerschaft.
Das titelgebende Motiv „der Kranz“ wird vom Autor behutsam eingeführt und ist der Handlung beziehungsreich verbunden, es prägt auch den Schluss. Das erste der folgenden Fragmente ist der ausführlichen Fassung, die beiden nächsten Bruchstücke der ersten Fassung entnommen.
Joachim Wittstock
Zuweilen erzählten die Hausfrauen beim Mittagstisch von den Büchern, die sie lasen. Sie waren eifrige Kundinnen der Volksbücherei und hatten an den Tischgästen Krauß und Hommner aufmerksame Zuhörer. Bei der Wiedergabe des Gelesenen kam manchmal der Satz vor: „Er machte ihr eine Liebeserklärung.“ Ihr Blick hatte dabei einen lächelnden Schimmer.
Im Lauf der letzten Jahre hatte Georg, der gerne las, sich immer mehr von der Jugendliteratur entfernt. Der Vater seiner Mutter, der Lehrer gewesen war, hatte viele Bücher besessen, die nach seinem Tod in Georgs Elternhaus gekommen und in einem Bodenraum über der Böttcherwerkstatt in Schränken und auf Stellbrettern untergebracht worden waren, und als vor einiger Zeit der Pfarrer der Gemeinde starb, dessen Kinder in Kalifornien lebten, waren auch die Bücher des Pfarrers hingebracht worden.
In diesem saalartig ausgebauten, sauberen Dachgeschoss, in dem zwar niemand wohnte, das aber doch mit einem Tisch und Stühlen und elektrischem Licht versehen war, hatte Georg an den Ferienabenden geweilt und hatte sich, von atembeklemmender Wissbegier ergriffen, in die Betrachtung des mannigfaltigen Strandgutes versenkt, das, von den Sammelpunkten der Welt kommend, im Wege der fruchtbaren geistigen Überschwemmung bis unter das schützende Dach der Böttcherstube herangetrieben worden war. Dem Auflesen hingegeben, war er oft von der Strömung erfasst und für ganze Tage von den Seinen gleichsam weggeführt worden und hatte manches Gestade und manches Eiland, auf dem die Menschen ihre Gedankengebäude errichten, kennen gelernt, obgleich nur bei flüchtiger Fahrt und in ziellosem Vertrauen auf immer lohnendere Entdeckung.
Bei dieser Art frohgemuten Vorwärtsdrängens hatte es wenig verschlagen, wenn Georg aus einem Kapitel der „Römischen Geschichte“ Theodor Mommsens etwa zu einem naturkundlichen oder sozialwissenschaftlichen Werk, von einem Buch über den deutschen Volksaberglauben etwa zu einer Schrift über die hohe Jagd hinüberwechselte und bei aller Anregung seiner geistigen Entwicklung schließlich doch nur das seinem Alter Gemäße behielt.
Beim Worte „Liebeserklärung“ sank er in kindliche Unwissenheit zurück. In seinen Büchern war dies Wort nicht vorgekommen, oder er hatte unbeteiligt darüber hinweg gelesen. Aus den Erzählungen der alten Damen erhielt er den Eindruck, dass eine Liebeserklärung an bestimmte Formen gebunden sei, die bloß die Eingeweihten beherrschten und, wegen der Zartheit und wegen der ganzen Glückseligkeit, die dabei auf dem Spiele standen, in schwer berührbarer Verschwiegenheit bewahrten.
Auf dem Nähtischchen der Schwestern lag seit einiger Zeit der Roman „Frau Marie Grubbe“ von Jens Peter Jacobsen. Der Band war mit Federzeichnungen von H. Vogeler geschmückt, die in der Form von Zierleisten vor jedem Kapitelbeginn den oberen Rand der Druckseite einnahmen.
Georg hatte den Namen des dänischen Schriftstellers noch nie vernommen, auch war ihm nicht bekannt, dass Heinrich Vogeler ein namhafter Buchkünstler war. Nach den Erzählungen der alten Damen hatte er nur eine geringe Kenntnis vom Inhalt des Romans, dessen Handlung im 17. Jahrhundert spielte. Er hatte auch nicht den Wunsch, das Buch zu lesen. Von der Liebe zu Maria bestürmt, dazu fortwährend von dem unsicheren Gefühl beunruhigt, verbergen zu müssen, was in seinem Empfinden vielleicht mit der Rechtschaffenheit des Ehrenmannes nicht in Einklang gebracht werden könne, war ihm das Erleben einer Frauengestalt der Vergangenheit gleichgültig. Er begnügte sich damit, seine vage Vorstellung vom Lebensgang der Marie Grubbe durch die Zeichnungen zu ergänzen.
Die Art, in der die kleinen Bilder gezeichnet waren, die Art, in der die feinen Striche und Punkte eine bis in die Einzelheit greifende Eindringlichkeit zum Sprechen brachten oder vortäuschten, dazu die Verbindung von Menschen und Blumengerank – es gab kaum ein Bild, das nicht von Rosengirlanden oder anderem Blumenwerk eingefasst gewesen wäre – muteten ihn mit dem Reiz des Neuen und Seltsamen an und ließen ihn den inneren Widerspruch erkennen, der zwischen dem eigentlichen Gehalt des Dargestellten und den Blüten bestand, da Mensch und Landschaft ausschließlich in der Stimmung von Schwermut und Verlassenheit wiedergegeben waren.
Georg fühlte das eigentümliche, bittere Verschmelzen der Blumen mit dem beschwingten Glück des Aufstiegs und mit dem entsagungsvollen Sichbescheiden in der Not. Auf dem Abstieg von der Pracht des königlichen Palastes zum ärmlichen Einkehrhaus an der Fähre empfand er den Namen von Marie Grubbe als Sinnbild für das reine Herz, das in lauterem Streben an Gott und die Menschen, an die Kraft der Liebe und alle edlen Regungen glaubt, dann aber von der Enttäuschung getroffen und in eine rohe Wirklichkeit versetzt wird, in der die Rosen tatsächlich nur am Rande blühen.
Auf einem der Bilder war das junge Weib, das in fast allen Zeichnungen wiederkehrte, in einprägsamer Haltung bis zur Brust dargestellt. Sein Haupt, von dem das offene Haar, wie vom Winde erfasst, über die entblößte Schulter und Brust flatterte, war rückwärts geneigt, das Gesicht von Schmerz bewegt, der Mund wie bei Ruf oder Aufschrei geöffnet. Vom Haupt sank ein Kranz hinab, der sich soeben vom Haar löste. Niemand und nichts war zu sehen, der das Sinken des Kranzes bewirkt hätte. Keine Hand griff nach ihm.
Auf einem späteren Bild, gegen Ende des Buchs, kniete dieselbe weibliche Gestalt unter Bäumen, die sich ihr entgegen neigten, und bedeckte die Augen mit den Händen, während ihr langes volles Haar zu Boden floss. (…)
„Maio, ich habe ein Buch gesehen. Mit merkwürdigen Zeichnungen. Da sinkt einem Mädchen der Kranz vom Kopf. Ist es denn nur die Unehrlichkeit der Männer, die dazu führt, dass ein Mädchen den Kranz verliert?“
Wie von tiefer Müdigkeit befallen, setzte sich Maria auf das Sofa nieder. Seine Hand hielt die ihre umschlossen, er saß nun neben ihr.
„Es sind auch die Umstände. Es ist das Leben, ist das Schicksal. Du müsstest wissen, wie es bei uns zu Hause war. Mit Mutter, Vater und Geschwistern… Aber heute kann ich dir davon nicht erzählen… Und du musst mir versprechen, dass du dir nach der Lektion siehst und dass du mir auch in den Ferien nicht schreibst. Einmal… im September… wenn du wieder kommst, könnte ich dir erzählen und könnte dir wieder zuhören. Aber ich weiß nicht, ob dein Charakter fest genug ist, bis dahin möglichst wenig an mich zu denken…“ (…)
Im September, nach den Ferien, fuhr Georg mit demselben Zug nach Schässburg, mit dem er vor einem Jahr gefahren war. Freude, Sonne, Licht, Himmel, Reife und Ernte vereinigten sich in ihm zu ungestümer Sehnsucht. Er dachte an Maio. Er freute sich, dass er sie wiedersehen würde. (…)
Um die Mittagsstunde traf Georg bei seinen Hausfrauen ein, als sie mit den Herren Krauß und Hommner schon bei Tisch saßen. Georg gesellte sich zu ihnen. Rauchend standen die Herren nach dem Mittagessen beim Fenster.
Da ging drüben im Wirkwarengeschäft von Herrn Haberpursch die Tür auf. Eine Anzahl von schwarz gekleideten Männern trat heraus. Sie hatten Zylinderhüte auf, und einer trug einen großen grünen Kranz, der mit weißen Blüten besetzt und von einer weißen Seidenschleife umwunden war.
„Der Kranz der Kollegen…“ sagte Herr Hommner.
„Der Kranz der Kollegen…“ wiederholte Herr Krauß, und Georg, dessen Auge die Männergruppe jetzt erst genauer erfasste, fühlte das Anzügliche, Doppeldeutige der Bemerkung wie einen brennenden Stich.
„Ich verstehe nicht, wie der Arzt die Sache hat angehen können, wenn es schon dermaßen fortgeschritten war.“
„Das soll auch bei einem guten Arzt vorkommen. Das Gewebe ist sehr weich und leicht zu durchstoßen.“
Auf der oberen Marktzeile kamen etliche Landleute in feierlichem Schritt einher. Unter ihnen ging der alte May, hoch aufgerichtet und doch nach vorne geneigt, ein Mann mit dem Merkmal des Besonderen, des Persönlichen.
Georg erfasste ein dunkler Schwindel. Wortlos öffnete er die Tür und ging in sein Zimmer hinüber. Wie ein Baum niederfällt, fiel er auf sein Bett. Es war ihm, als ob er wieder die Stimme des alten Bauern vernehme: „Was hast du getan!“
Foto: Erwin Wittstock (1899-1962) - Kohlezeichnung von Juliana Fabritius-Dancu (1954)
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