Eine literarische Wiedergutmachung auf hohem europäischen Niveau
08.10.09
Zu Herta Mülles Deportationsroman „Atemschaukel“, Hanser Verlag 2009, 304 Seiten, 19,90 Euro, ISBN978-3-446-23391-1
„Atemschaukel“ steht auf der Kurzliste (sechs Titel) für den diesjährigen Deutschen Buchpreis der zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse am 12. Oktober im Kaisersaal des Frankfurter Römers verliehen wird. Mit dem Deutschen Buchpreis 2009 zeichnet der Börsenverein des Deutschen Buchhandels den besten deutschsprachigen Roman des Jahres aus. (RS)
Herta Müller ist die bekannteste rumäniendeutsche Autorin der Nachkriegszeit. 1953 geboren in Nitzkydorf im rumänischen Banat, seit 1987 in der Bundesrepublik lebend, setzt sie sich von Anfang an mit ihrer multiethnischen Region Banat sehr kritisch auseinander. Dabei gilt ihrer banatschwäbischen Volksgruppe ihre kritische Hauptaufmerksamkeit. Nach ihrer Spätaussiedlung in die Bundesrepublik 1987, nun auch eine bundesdeutsche Autorin geworden, nimmt sie ihre banatschwäbische Volksgruppe weiterhin sehr kritisch unter die Lupe. Dieser Roman ist somit eine Fortsetzung ihres bisherigen Schreibens, indem sie über ihre rumäniendeutsche Minderheit weiterhin berichtet, aber diesmal auf eine unerwartet einfühlsame, stellenweise lyrische Art. Ein Grund dafür ist sicherlich auch, dass das zur Sprache gebrachte Innenleben ihres Haupthelden Leo Auberg de facto die seelische Befindlichkeit des bedeutendsten rumäniendeutschen Lyrikers nach dem Zweiten Weltkrieg, Oskar Pastior, zurzeit seiner Deportation 1945-1950 zur Zwangswiederaufbauarbeit in der Sowjetunion behandelt.
Oskar Pastior (Hermannstadt/Sibiu 1927 – 2006 Frankfurt am Main) hat unter vielen anderen literarischen Auszeichnungen auch den Georg Büchner-Preis 2006 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtkunst aus Darmstadt erhalten. Seine dramatischen Erlebnisse als im Zuge des Kollektivschuldvorwurfes Deportierter zur Zwangswiederaufbauarbeit in die Sowjetunion sollten als Gemeinschaftsarbeit von ihm und Herta Müller in einem Roman verarbeitet werden.
Oskar Pastior starb aber unerwartet 2006 kurz vor der Entgegennahme des Büchner-Preises und das gemeinsam begonnene Projekt musste nun von Herta Müller allein zu Ende gebracht werden. Dazu benötigte sie nach einer Zeit der Trauerverarbeitung weitere drei Jahre, so dass nun seit dem Frühjahr 2009 endlich der vollendete Roman vorliegt.
Er ist gerade für diejenigen Kritiker, die Herta Müller vorwerfen, zu hart mit ihren rumäniendeutschen Landsleuten, speziell den Banaterschwaben, zu scharf ins Gericht zu gehen, schlichtweg eine Sensation.
Ein durchwegs sympathischer Protagonist
In keinem ihrer bisherigen Bücher kommen die Rumäniendeutschen so „gut“ weg, wie hier, wo sie als lebendige Wiedergutmachungsarbeitsmaschinen für den verbrecherischen Totalitarismus des Dritten Reiches in den stalinistischen Totalitarismus der Arbeitskonzentrationslager gelangen. So gut wie alle jungen Männer und Frauen der rumäniendeutschen Minderheit – etwa 80.000 – zwischen 17 und 45 Jahren die Männer und 17 und 35 Jahren die Frauen, wobei in der Regel „großzügig“ drunter und drüber verhaftet wurde, wurden in Viehwaggons Tausende von Kilometern aus dem heimatlichen Siebenbürgen und Banat tagelang ins Innere der Sowjetunion transportiert. Der Hauptheld und seine Schicksalsgefährten gelangen so in die ukrainische Steppe in die Kohlengruben, Zementfabriken und Kolchose von Nowo-Gorlowska.
Auf den ersten Blick scheint es ein Rätsel zu sein, dass Herta Müller mit diesem Einfühlungsvermögen den 17-jährigen Oskar Pastior, im Roman Leo Auberg, über die fünf Jahre seiner Zwangsarbeit begleitet, so dass er dem Leser richtig ans Herz wächst, was sonst kaum bei einem ihrer rumäniendeutschen Helden bisher der Fall war. Ihre sonstigen Helden sind meistens, immer mehr als weniger, in die Verbrechen des Faschismus oder in oft schon ausgesprochen kriminelle Überlebensstrategien des stalinistischen Ostblocksozialismus verstrickt.
Auch der literarisierte eigene Vater kommt in der Regel ausgesprochen schlecht weg. Die Mutter findet ebenfalls kaum Gnade vor dem erbarmungslos kritischen Auge ihrer späten Tochter, die nach der Deportation der Eltern in die Sowjetunion in einer ausgesprochen traumatisierten Familie und größtenteils auch Umwelt aufwachsen musste und eine mehr als harte Kindheit hinter sich zu bringen hatte. Leo Auberg/Oskar Pastior hingegen bleibt trotz aller seiner Winkelzüge und listigen Arrangements ein durchwegs sympathischer Protagonist im wahrsten Sinne des altgriechischen Wortes: Sympathie aus dem Griechischen - das deutsche Mitleiden. Man fühlt und leidet buchstäblich mit ihm, zumal seine Sprache einen direkt, gerade auch wegen ihrer Bildhaftigkeit, anspricht.
Der 1927 geborene Oskar Pastior könnte ohne Weiteres für die 1953 geborene Herta Müller als positive Literaturvaterfigur angesehen werden im Gegensatz zu ihrem überwiegend negativ literarisierten Vater.
Ähnlich wie Günter Grass, der in seiner Novelle „Im Krebsgang“ entgegen aller Erwartungen Partei ergriff, nicht gegen die Vertriebenen, sondern für die Vertriebenen und deren erschütterndes Schicksal am Beispiel des Untergangs der Gustloff, bei dem mehr als 10.000 Menschen, vom frisch geborenen Säugling bis zum Greis den Tod fanden – bisher die größte Schiffskatastrophe der Menschheit überhaupt -, hat auch Herta Müller in ihrem Roman „Atemschaukel“ eindeutig für die Deportierten und deren schweres Schicksalslos Partei ergriffen. In ihrer eigenwilligen metaphernreichen, mitunter unglaublich verdichteten Sprache verleiht sie dem Lebens- und Sterbensgefühl der Deportierten Ausdruck, ohne den üblichen wohlmeinenden, aber leider banalen Sprachklischees Tribut zu zollen. So wächst sie in diesem Roman zur „Günter Grassin“ der rumäniendeutschen Literatur, und man geht sicherlich nicht fehl, wenn man den Roman Herta Müllers „Atemschaukel“ an die Seite von Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ stellt.
Der Widerhall in der Presse ist enorm. Alle großen Zeitungen der Bundesrepublik berichteten über dieses „Event“ des deutschen Bücherherbstes 2009 und der Hanser-Verlag hat 18 große Auftritte innerhalb einer Lesetournee der Autorin bis zum Jahreswechsel 2009/2010 geplant, so dass zum ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit das Schicksal der rumäniendeutschen Zwangswiederaufbauarbeit bekannt gemacht wird. Bisher wussten nur Kenner und Eingeweihte davon und auch unter diesen gab es und gibt es leider nicht wenige Spezialisten für Osteuropakunde, die noch nie was davon gehört haben.
Bilder von unerwartet harter Verdichtung
Herta Müllers Roman hat hier im wahrsten Sinne des Wortes beredt Abhilfe geschafft und dieses dramatische Ereignis in das europäische Bewusstsein gehoben, indem sie das Trauma des Unaussprechlichen einer in einer Diktatur erfolgten totalen Verlorenheit und Verkümmerung unter dem Diktat eines unbeschreibbaren Hungers und einer erbarmungslosen Kälte in harte Bildhaftigkeit fasst, die zumindest das Abgründige dieser unbeschreibbaren Befindlichkeit andeutet.
Auch hier kommt Herta Müller ihre literarische Gestaltungskraft aus der alten Heimat Rumänien zugute, als sie entgegen der vulgärmarxistischen Sicht der Aktionsgruppe Banat, der sie trotz anderslautender Behauptungen nicht angehörte, ihren gewissermaßen existenzialistischen Weg der Wahrheitsfindung entgegensetzt. Das heißt Auseinandersetzung mit der Geworfenheit in die Abgründigkeiten der in vielen Hinsichten – historischen, räumlichen, sprachlichen, mentalitätsmäßigen – Grenzregion des rumänischen Banats als unausweichliches Schicksal, dem man sich zu stellen hat.
In der Kurzprosa im ganzen deutschen Sprachraum Furore machenden Debüts, dem Erzählband „Niederungen“ (1982), dokumentiert sie ihre diesbezüglichen dramatischen Erfahrungen. Dabei entwickelte sie eine besondere Fähigkeit, traumatische Erfahrungen in Bilder von unerwarteter harter Verdichtung zu gießen.
Der rumänische Ostblock-Totalitarismus erlebte nur eine kurze liberale Phase von 1965-1971 bis zur Juli-Kulturrevolution Ceau{escus 1971. Danach restalinisierte Ceau{escu sein Land wieder zur absolut härtesten Ostblockdiktatur.
Zunächst vom Ceau{escu-Regime gefördert und hochdekoriert mit dem Preis des kommunistischen Jugendverbandes, dem Preis des Pionierverbandes und dem Debütpreis des Schriftstellerverbandes, aufgenommen in das Reisekader auch für wiederholte Westreisen, änderte sich für Herta Müller auf dramatische Weise schlagartig diese Privilegierung in eine systematische Benachteiligung und Schikanierung nach ihrer Weigerung als Dank für die erhaltenen Privilegien für den Geheimdienst tätig zu werden.
Erst nach nervenaufreibenden Auseinandersetzungen und engagierten Interventionen aus dem In- und Ausland gelang ihr dann 1987 die Ausreise in den Westen, wo sie begeistert empfangen wurde. Hier thematisierte sie ihre traumatischen Erfahrungen in einer ganzen Reihe von vielfach ausgezeichneten Büchern wie „Reisende auf einem Bein“, „Der Fuchs war damals schon der Jäger“, „Herztier“, „Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet“, „Der König verbeugt sich und tötet“ und wurde dadurch zum Inbegriff des rumäniendeutschen Minderheitenautors in seinem couragierten Kampf gegen den Totalitarismus der Ceau{escu-Diktatur und den gewissermaßen unvermeidlichen Verstrickungen auch einiger ihrer Landsleute darin, in ihrem Entwickeln von Überlebensstrategien in diesen äußerst harten Bedingungen.
Es trifft nicht zu, dass, wie behauptet, die Deportation der Rumäniendeutschen von 1945-1989 durchgehend tabuisiert wurde. In der kurzen liberalen Phase Ceau{escus von 1965 bis zur Juli-Kulturrevolution 1971, wurde darauf hingewiesen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Fehler in der Minderheitenpolitik begangen worden waren. Mit der Deportation der Rumäniendeutschen zur Zwangswiederaufbauarbeit hatte man auch Nordsiebenbürgen zurückgeholt. Ein zu hoher Preis unter Brüdern, auch sozialistischen Brüdern, wie man in der liberalen Phase andeutungsweise befand. Dies ließ auch die Hoffnung keimen, das Deportationsdrama der Rumäniendeutschen im Ostblock vor Ort literarisch gestalten zu dürfen. Paul Schuster hatte vor, in dem dritten Teil seiner Siebenbürgensaga der Trilogie „Fünf Liter Tzuika“ die Deportation zu behandeln. Wegen Ceau{escus Kulturrevolution 1971 und der Beendigung seiner liberalen Phase kam es nicht mehr dazu, und Paul Schuster verblieb verbittert und enttäuscht danach 1971 im Westen. Erst nach dem Umbruch konnte der schon viel früher verfasste Roman von Erwin Wittstock (1899-1962) „Januar 1945 oder die höhere Pflicht“ erscheinen, der die Deportation der Siebenbürgersachsen in die Sowjetunion zur Zwangswiederaufbauarbeit behandelt. Auch Joachim Wittstock (1939 geboren) konnte nach dem Umbruch in Rumänien in seinem Roman „Bestätigt und besiegelt“ 2003 die Tragik dieser Deportation zu seinem Thema machen. Herta Müllers „Atemschaukel“ ist der dritte wichtige rumäniendeutsche Roman mit dieser Thematik nach dem Umbruch und hat außerdem das zusätzliche Verdienst, dass er beide großen rumäniendeutschen Minderheitengruppen. die katholischen Banater Schwaben, wie auch die evangelischen Siebenbürger Sachsen, wie auch die übrigen Rumäniendeutschen in seine Gesamtbetrachtungen als Betroffene einbezieht.
Ingmar Brantsch
(Fortsetzung folgt)
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