„Eine monumentale Akte“
14.06.12
Hans Bergels Brief über die Securitate-Dossiers aus dem Korrespondenzband Winkler/Bergel (I)
Die 1956 in Bukarest miteinander bekannt gewordenen Schriftsteller Manfred Winkler, Bukowina, und Hans Bergel, Siebenbürgen, nahmen nach zwangsweiser Unterbrechung von 38 Jahren 1994 den freundschaftlichen Kontakt zueinander wieder auf. Das Ergebnis war u.a. ein intensiver Briefwechsel zwischen dem mittlerweile in Israel lebenden Lyriker Winkler und dem in Deutschland lebenden Erzähler Bergel. Im Sommer d.J. veröffentlichte der Berliner Frank&Timme Verlag 124 aus über 500 Briefen, 61 von Winkler, 63 von Bergel, in denen von Kunst, Literatur, Politik, Philosophie die Rede ist (siehe auch das KR-Interview mit Dr.h.c. Hans Bergel vom 23. Februar 2012). Auf eine Bitte Winklers hin beschäftigte sich Bergel im Brief Nr. 123 mit dem Thema der Aufarbeitung der Securitate-Dossiers. Winkler nannte das umfangreiche Schreiben „eine monumentale Akte“ (Brief 124), da Bergel darin die schwierige Materie methodisch erläutert. Wir veröffentlichen den Brief Nr. 123.
Gröbenzell
1. Dezember 2010
Lieber Manfred,
Du wolltest Genaueres über die Diskussion zum Thema „Securitate-Akten“ wissen. Ich schrieb Dir kurz darüber, diesmal hole ich also weiter aus. In einem Satz: Es geht um die Veröffentlichung mehr oder weniger bekannter Namen aus der sogenannten rumäniendeutschen Literatur, denen während der Zeit des kommunistischen Terrors der Securitate geleistete Zuträgerdienste nachgewiesen werden. Das ist ein Thema mit ungezählt vielen Variationen, was m. E. einige seiner Bearbeiter übersehen. Ich will Dir diesen Vorbehalt erklären:
Nach Durchsicht meiner fast 10.000 Securitate-Schriftstücke erwog ich die Veröffentlichung eines Aufsatzes mit dem Titel „Warum ich aus meinen Securitate-Akten kein Buch mache“ - ich hatte diese Absicht geäußert. Das Motiv meines Verzichts: Die Securitate-Akten erscheinen mir nur teilweise zuverlässig. Das nicht, weil sie falsche Daten/Angaben enthalten - von den persönlich akzentuierten „note informative“ abgesehen -, sondern w e i l s i e L ü c k e n a u f w e i s e n. Falsch sind oft die von der Securitate vorgenommenen Einschätzungen und Interpretationen der genau vermerkten Fakten. Deren lückenhafte Aufzeichnung aber macht die Erstellung wissenschaftlich vertretbarer Porträtierungen einer Person oder einer Situation fragwürdig, zuverlässig erscheint mir allein die punktuell reduzierte Befindung; auch sie bedarf von Fall zu Fall der Relativierung. Dies geschah in der Diskussion bisher, meine ich, nur bedingt. Durchaus nicht nur mir erscheint ebenso allzu erkennbar die Tendenz, einige Securitate-Akten als Mittel der Austragung privater Aversionen, Rachebedürfnisse und des Profilierungsdrangs zu benützen. Auf diese Weise kam leider in die gesamte Diskussion ein Ton des Unguten und Unsauberen, des Eiferertums.
Mit Wahrscheinlichkeit bin ich der aus Rumänien stammende deutsche Autor mit dem umfangreichsten Securitate-Dossier. Daher meine ich, mir von allen Betroffenen anhand der Akten das komplexeste Bild von deren Wert oder Unwert machen zu können. Ich bin nämlich dank der Masse am ausgiebigsten in der Lage, ihren Wahrheitsgehalt durch Vergleiche mit der Realität zu prüfen. Hinzu kommt mein Plus an empirischer Kenntnis des allmächtigen Überwachungs- und allpräsenten Drahtzieher-Organs Securitate. Soweit meine Information reicht, hat keiner der derzeitigen Publizisten meine praktische Erfahrung in puncto Begegnungen mit der Securitate (ich gäbe viel darum, verhielte es sich anders): Als dreimaliger Polithäftling und -verbannter, dreimal in der Vorhö11e endloser Verhöre - bei denen mir brennende Zigaretten auf der Brust zerdrückt, das Nasenbein gebrochen, ein Ohr halb abgerissen und Sonstiges angetan wurden - erschloss sich mir vermutlich mehr aus dem Laboratorium jener Geheimpolizei. Man wird es mir deshalb zugutehalten müssen, wenn ich manches am öffentlichen Disput für dilettantisch erachte; den Disputanten fehlt der letzte Einblick in die Materie. Sie kamen alle, Gott sei Dank, ungeschoren und auf relativ guten Posten durch die Kommunismusjahre hindurch. Keiner von ihnen lernte auch nur annähernd den nackten Terror kennen, dem Hunderttausende Eingekerkerter Jahre, sogar Jahrzehnte lang ausgesetzt waren, sah die Toten neben sich: die Erschlagenen und Verhungerten. Mutet es nicht irgendwo missstimmend an, dass nun sie die Aufarbeitung der unseligen Zeiten betreiben? Kein böses Wort über einen von ihnen! Doch sie merken nicht, dass sie über Dinge sprechen, deren Hinter- und Abgründe sie niemals an sich selbst erfuhren, dass sie zwar über Papiere, nicht aber über den Menschen in jener ungeheuerlichen Situation Bescheid wissen. Ihre Glaubwürdigkeit wird mittlerweile von vielen angezweifelt. Wen wundert's. Ich bedauere diese Entwicklung.
Konkret zur veranschaulichenden Einzelheit:
Bei vier Besuchen in den Bukarester Archiven wurden mir sowohl quantitativ als auch qualitativ vier Varianten meiner Akten vorgelegt. Zum ersten Mal erhielt ich Papiere im Umfang etwa dreier Leitz-Ordner. Zum zweiten Mal einen Stoß, der von der Tischplatte bis über meinen Kopf reichte. Zum dritten Mal ein zugeschnürtes Bündel von der Dicke einer Spanne.
Ich bat um ein Gespräch mit dem Direktor, Dr. Oni{oru (der Posten wurde seither drei- oder viermal neu besetzt), und erfuhr von ihm Folgendes: Da die Bukarester Aufbewahrungsräume zu wenig Platz für die Unterbringung der landesweiten Aktenbestände böten, sei die Archivleitung gezwungen, erhebliche Teile der Akten in den ehemaligen Provinzhauptstädten (capitale de regiuni) zu belassen. Dorther würden sie von Fall zu Fall angefordert (die für mich zuständige Stadt war Kronstadt/Bra{ov), die Archivleitung habe keine Kontrolle über die außerhalb Bukarests gelagerten Akten. Vielsagend fügte er hinzu: Wer in den Provinzhauptstädten „die Nase in die Akten stecke“, wisse er nicht. Im Klartext: Er wusste sehr wohl, dass sich dort Interessierte Zugang zu den Akten verschafften, vor allem Leute, denen am Verschwinden von Akten gelegen sein musste.
(Fortsetzung folgt)
Die Titelseite des Bandes: Manfred Winkler/Hans Bergel - „Wir setzen das Gespräch fort. Briefwechsel eines Juden aus der Bukowina mit einem Deutschen aus Siebenbürgen.“ Herausgegeben und mit einem Nachwort von Renate Windisch-Middendorf. Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur, Berlin, 350 Seiten, ISBN 978-3-86596-381-9, 28 Euro
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
E-Mail:kronstadt@adz.ro
Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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