Gedanken zur siebenbürgisch-sächsischen Erinnerungskultur
23.06.11
Aus der Ansprache an der Gedenkstätte in Dinkelsbühl, gehalten anlässlich des Heimattags der Siebenbürger Sachsen 2011/ Von Wolfgang Wittstock
Beim Heimattag der Siebenbürger Sachsen, der am Pfingstwochenende in Dinkelsbühl (Deutschland) stattfand, war Kronstadt gut vertreten, was sich auch dadurch erklärt, dass das Jubiläum „800 Jahre seit der ersten urkundlichen Erwähnung des Burzenlandes“ im Mittelpunkt zahlreicher Veranstaltungen stand. Der Kronstädter Jugendbachchor (Dirigent: Steffen Schlandt) erregte anlässlich seiner Auftritte Aufsehen und erntete stets langanhaltenden Applaus. Ingeborg Acker, der Leiterin des Kronstädter Vokal- und Instrumentalensembles „Canzonetta“, wurde (ex aequo mit Bettina Ganzert) der Siebenbürgisch-Sächsische Jugendpreis 2011 verliehen. Wolfgang Wittstock, Vorsitzender des Deutschen Kreisforums Kronstadt, hielt die Ansprache bei der traditionellen Feierstunde an der im Jahr 1967 errichteten Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen, die an die Opfer zweier Weltkriege und der schweren Nachkriegszeit gemahnt. Aus dieser Ansprache veröffentlichen wir im Folgenden deren ersten Teil, der Überlegungen zur Erinnerungskultur bei den Siebenbürger Sachsen enthält. Im zweiten Teil seiner Ansprache ging Wittstock auf die Bemühungen zur Ausgestaltung einer burzenländerisch-sächsischen Erinnerungskultur im Rahmen der jährlich in Marienburg/Feldioara/Földvár stattfindenden Michael-Weiß-Gedenkfeiern ein. Der vollständige Text der Ansprache kann auf der DFDKK-Internetseite unter http://forumkronstadt.ro/home/dokumente gelesen werden.
Liebe Landsleute, meine Damen und Herren,
jedes Volk hat seine eigene, seine spezifische Erinnerungskultur. Die Formen, in denen sich diese Erinnerungskultur manifestiert, widerspiegeln die Höhen und Tiefen, die Sternstunden, aber auch die Schicksalsschläge, die nationalen Katastrophen in der Geschichte des jeweiligen Volkes. Heutzutage haben die meisten Völker und Länder zumindest einen Nationalfeiertag, durch den ein wichtiges geschichtliches Ereignis in der jeweiligen Nationalgeschichte gewürdigt wird. Die Kehrseite der Medaille ist der Volkstrauertag. Als gesellschaftlicher Ritus der Mahnung und Erinnerung ist er eine Erfindung jüngeren Datums als der Nationalfeiertag, eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, das mit seinen verheerenden Weltkriegen, mit seinen totalitaristischen, antidemokratischen Ideologien und Gesellschaftssystemen hundertmillionenfach Menschen in Unglück und Not gestürzt, in bis dahin unvorstellbaren Ausmaßen die Verletzung der Menschenwürde, den Verlust von Leben, von Hab und Gut, von Heimat, nicht zuletzt auch das Auseinanderbrechen unserer innerhalb des Karpatenbogens beheimateten siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft verursacht hat. In Deutschland zum Beispiel gibt es den Volkstrauertag als staatlichen, also nicht kirchlichen Gedenktag. Er wird jährlich zwei Sonntage vor den Ersten Advent begangen und erinnert an die Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen. Auch in anderen Ländern gibt es derartige Totengedenktage. In Belgien und in Frankreich ist der 11. November ein arbeitsfreier Gedenktag. Man weiß: Mit dem Waffenstillstandsabkommen von Compiègne, einer Stadt in Nordfrankreich, wurde am 11. November 1918 der Erste Weltkrieg beendet. Auch in vielen Ländern des ehemaligen britischen Weltreichs, des heutigen British Commonwealth of Nations, ist der 11. November ein nationaler Gedenktag.
Die Siebenbürger Sachsen begreifen sich bekanntlich als Volk, das stolz ist auf das, was es zivilisatorisch und kulturell, als Teil der deutschen Kulturnation, in seiner 850-jährigen südosteuropäischen Geschichte geleistet hat. Über weite Strecken dieser Geschichte bestimmten sie als eine der drei anerkannten ständischen Nationen das politische Geschehen im Fürstentum Siebenbürgen mit. Die Siebenbürger Sachsen haben ihre Nationalfarben blau und rot, und sie singen bei festlichen Anlässen ihre Nationalhymne „Siebenbürgen, Land des Segens“. Was die Siebenbürger Sachsen nicht bzw. noch nicht haben, sind ein Nationalfeiertag und auch ein eigener Volkstrauertag, wiewohl der Heimattag der Siebenbürger Sachsen, der alljährlich zu Pfingsten hier in Dinkelsbühl begangen wird, die Essenz sowohl des einen wie auch des anderen, in letzterem Fall durch die Zeremonie an dieser Totengedenkstätte, in sich birgt und damit eine wichtige Rolle bei der Ausgestaltung unserer eigenen siebenbürgisch-sächsischen Erinnerungskultur spielt.
Unlängst las ich, dass hier in Deutschland die Diskussionen über die Einführung eines nationalen Gedenktages, an dem der Opfer von Flucht und Vertreibung gedacht werden soll, recht fortgeschritten sind. Einem Beschluss des Bundestages zufolge kann dies der 5. August sein, der Tag, an dem im Jahr 1950 in Stuttgart die Charta der Heimatvertriebenen unterzeichnet wurde. Als Siebenbürger Sachsen können wir uns aber außerdem die Frage stellen, welche Daten unserer eigenen Geschichte sich gegebenenfalls für die Einführung eines siebenbürgisch-sächsischen Nationalfeiertages wie auch eines siebenbürgisch-sächsischen Volkstrauertages eignen würden. Die Schlussfolgerung, zu der mich dieses Gedankenspiel geführt hat, ist keine Überraschung. Als siebenbürgisch-sächsischer Nationalfeiertag kommt vermutlich nur ein Datum unserer frühen Geschichte im Karpatenbogen in Frage: eventuell der Tag, an dem der ungarische König Andreas II. im Jahr 1224 den Freibrief der Siebenbürger Sachsen, das sogenannte Andreanum, unterzeichnete (der aber meines Wissens nicht überliefert ist, weil das Andreanum selbst nur in einer späteren Abschrift erhalten ist); oder jener Tag im Jahr 1550, an dem die Nationsuniversität, die oberste Verwaltungs- und Gerichtsbehörde der Siebenbürger Sachsen, die nach dem Vorbild des Reformationsbüchleins des Honterus verfasste „Kirchenordnung aller Deutschen in Siebenbürgen“ anerkennt, die für die Sachsen sowohl auf Königs- als auch auf Komitatsboden einigendes Kirchenrecht wird; oder eventuell der 18. Februar, der Tag, an dem im Jahr 1583 Stephan Bathory, König von Polen und Fürst von Siebenbürgen, das Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen bestätigt, das auf dem Königsboden geltende Grundgesetz, das erst knapp drei Jahrhunderte später (1853) durch das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch ersetzt wurde.
Bei der Frage nach einem geeigneten Datum für einen siebenbürgisch-sächsischen Volkstrauertag sind es aber vor allem die Desaster unserer jüngeren Geschichte, die sich in unserem kollektiven Gedächtnis Raum verschafft haben. Gewiss, es gab auch an den Anfängen unserer Geschichte nationale Katastrophen, z.B. den Mongoleneinfall von 1241, der wie ein Orkan oder Tsunami über Siebenbürgen hinwegfegte und für dessen Beginn ein genaues Datum, der 31. März, zugleich Ostersonntag, vorliegt. Auch andere Tage in der Geschichte unseres Volkes könnten für einen möglichen Volkstrauertag zumindest in Erwägung gezogen werden, etwa der 11. Mai des Jahres 1849, als Pfarrer Stephan Ludwig Roth, Märtyrer der Völkerverständigung, in Klausenburg standrechtlich erschossen wurde, der 2. April 1876, als der ungarische Reichstag die Aufhebung der sächsischen Selbstverwaltung auf dem Königsboden verkündete, oder der 30. Juli 1921, als das erste rumänische Bodenreformgesetz in Kraft trat, das unserer Gemeinschaft nicht nur durch die Enteignung der Sieben-Richter-Waldungen schweren Schaden zufügte. Keines dieser Ereignisse hat aber unser heutiges kollektives Gedächtnis derart gezeichnet und geprägt wie das, was den Siebenbürger Sachsen während der letzten Monate des Zweiten Weltkrieges und in den Nachkriegsjahren zugestoßen ist. Auf den Schlachtfeldern dieses verheerenden Weltbrandes ließen auch viele junge Siebenbürger Sachsen, Angehörige der rumänischen Armee oder deutscher Militärverbände, ihr Leben. Die Aufgabe der politischen Mündigkeit, die Orientierung an großdeutsch-nationalsozialistischem Gedankengut hatte, als sich das Blatt wendete, bittere Folgen, nämlich die kollektive Stigmatisierung unserer Gemeinschaft. Die Aushebungen für die Russlanddeportation, die in Siebenbürgen am 11. Januar 1945 einsetzten (Weber, I, S. 259), und die Enteignungen durch das zweite rumänische Bodenreformgesetz, das am 23. März des gleichen Jahres veröffentlicht wurde, waren Maßnahmen, die gezielt gegen die Rumäniendeutschen, Banater Schwaben wie Siebenbürger Sachsen, gerichtet waren, die die Mehrheit unserer Landsleute in Mitleidenschaft zogen, ihnen heute kaum noch vorstellbare Demütigungen und Erniedrigungen, Leid, Not und Tod bescherten und letztendlich katastrophale Folgen für den Fortbestand unserer Gemeinschaft in der angestammten Heimat haben sollten. Diese beiden Tage des Schicksalsjahres 1945, der 11. Januar oder der 23. März, könnten meines Erachtens bei der Suche eines geeigneten Datums für einen siebenbürgisch-sächsischen Volkstrauertag als Inspirationsquelle dienen.
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Foto: Höhepunkte des Heimattages in Dinkelsbühl waren auch in diesem Jahr der Trachtenumzug und die Kundgebung vor der Schranne. Auf dem Foto, das bei dieser Gelegenheit entstand, sind in der ersten Reihe (v.r.n.l.) Christoph Hammer, Oberbürgermeister von Dinkelsbühl, mit Frau, der Rockstar Peter Maffay, Lazar Comanescu, rumänischer Botschafter in Berlin, der rumänische Außenminister Teodor Baconschi, Bernd Fabritius, Bundesvorsitzender des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, Hans-Peter Friedrich, deutscher Bundesminister des Innern, und Reinhart Guib, Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien, zu sehen.
Foto: Konrad Klein
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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