„Mein Jahresgehalt betrug 240 Gulden…“
07.11.25
Kronstädter Musikerinnen (XXIII): Musiklehrerin Luise Stenner (1861-1952) – 2. Teil
(Fortsetzung aus KR Nr. 42/23.10.2025)
In Szegedin gab es auch ein Konservatorium für Musik, welches nach Budapest die beste Musikschule in Ungarn war. In mir regte sich nun der Wunsch, dieses Konservatorium zu besuchen und zu absolvieren. Da der Direktor des Konservatoriums in unserem Institut wöchentlich zwei Klavierstunden erteilte, wurde ich mit ihm bekannt und konnte ihm meinen Wunsch vorbringen und ihn um Rat bitten. Zuvorkommend beriet er mich dahin, mich als Privatschülerin am Konservatorium einschreiben zu lassen, da ich meiner Anstellung wegen den ganzen Konservatoriumsbetrieb ja doch nicht mitmachen könne. Die Prüfung am Schluss des Jahres könne ich auch als Privatschülerin ablegen. So ließ ich mich am Konservatorium als Privatschülerin einschreiben, und der Direktor selber übernahm den Unterricht dreimal wöchentlich an freien Abenden, da wir ja beide tagsüber nicht frei waren. Am Nachmittag hatte ich nach 5 Uhr frei, und meine freie Zeit benützte ich zum Üben. Die theoretischen Aufgaben machte ich nachts. Es war nicht leicht, aber Mut und guter Wille halfen mir über alle Schwierigkeiten hinweg, und so konnte ich am Schluss des Schuljahres die Prüfung ablegen und erhielt ein Abgangszeugnis, auf welches ich stolz war.
Während meiner Lehrtätigkeit in Szegedin hatte ich öfters öffentliche Aufführungen mit meinen Schülerinnen. Es gab eine Pósa-Feier, bei der der Kinder-Dichter von Budapest (9) den Elementarschülerinnen einen Vortrag hielt und die Kinder ihrerseits ihrem Lieblingsdichter kleine Gedichte aufsagten und unter meiner Leitung Lieder sangen. Etwa 200 Kinder wirkten mit, da auch die städtischen Volksschulklassen zu dieser Feier zugezogen worden waren. Schülerinnen der Oberklassen wirkten bei einer Jókai–Feier (10) mit und sangen unter meiner Leitung Lieder. Die Aufführungen hatten immer vollen Erfolg.
In Szegedin lernte ich einige sächsische Familien kennen, in denen gute Musik gemacht wurde und wo ich oft Gelegenheit fand, Sängerinnen und auch vorzügliche Violinspieler zu begleiten. In der Familie Schnell fand ich eine gute Freundin, Auguste Schnell, mit der mich auch heute noch die innigsten Freundschaftbande verknüpfen.
Gesanglehrerin in Aszód bei Budapest
Im Jahre 1893 folgte ich einem Rufe nach Aszód (11) bei Budapest, in das vom evangelischen Pfarrerverein neugegründete evangelische Mädchen-Institut. Hier waren weit größere Verhältnisse als in Szegedin. Die Anzahl der internen Schülerinnen betrug 80, und außerdem kamen noch viele Schülerinnen aus dem Dorf in diese Schule, die im Baron Podmaniczkyschen Schloss (12) untergebracht war, welches der Pfarrerbezirk von Budapest käuflich erworben hatte. Unter den internen Schülerinnen befanden sich 40 Pfarrertöchter, Kinder aus adligen Familien, viele Kinder aus Budapest, deren Väter Professoren, Ministerialbeamte usw. waren. Ich hatte den Gesangunterricht zu leiten und hatte mehrere Klavierschülerinnen. Auch hier wurden öffentliche Aufführungen veranstaltet, die im großen Festsaal des Institutes stattfanden.
Hier in Aszód fasste ich den Plan, mich für die Staatsprüfung vorzubereiten. Eine Kollegin, die auf diesem Gebiete Erfahrung hatte, ging mir zur Hand und führte mich in Budapest zu Professor Bartalus (13), der an der Ofener Präparandie (Lehrerinnenbildungsanstalt) als Musik-Pädagoge angestellt war. Erst nachdem ich ihm vorgespielt hatte, willigte er ein, mir sonntags, da ich an Wochentagen von der Schule nicht fortkommen konnte, Privatstunden zu geben in Klavier, Theorie, Pädagogik und Harmonielehre. So fuhr ich von da an jeden Sonntag von Aszód nach Budapest zur Stunde und lernte und übte mit großem Fleiß. Als das Schuljahr um war und die Prüfung abgehalten werden sollte, erschien ein neuer Gesetzartikel, demzufolge nur diejenigen die Staatsprüfung ablegen durften, die eine Präparandie oder sonst eine höhere Schule absolviert hatten. Es half alles nichts, mein Gesuch um Zulassung zur Prüfung wurde nebst allen anderen vom Ministerium abgewiesen. So habe ich zwar die Staatsprüfung nicht ablegen können, habe aber aus den Privatstunden bei Prof. Bartalus doch reichen Gewinn gehabt.
In Kronstadt: Gefühl des Zuhauseseins
Im Jahre 1898 wurde die Stelle des Gesanglehrers an der Kronstädter evang. Mädchenschule und Kindergärtnerinnen-Bildungsanstalt ausgeschrieben. Von da an sollten auch weibliche Lehrkräfte angestellt werden. So bewarb ich mich um die ausgeschriebene Stelle, die ich auf Grund meiner Zeugnisse vom Konservatorium in Szegedin sowie der schönen Unterrichtszeugnisse aus Szegedin und Aszód auch erhielt. Von drei Bewerbern wurde ich mit Stimmenmehrheit gewählt. Am 18. Januar 1898 brachte mir ein Telegramm die Nachricht von der Wahl, und am 1. März trat ich die Stelle in der Heimat an. Ich hatte die 1., 2. und 3. Bürgerschulklasse sowie die Kindergärtnerinnen-Bildungsanstalt zum Unterrichten zugewiesen bekommen, während die 4. Bürgerschulklasse von Musikdirektor Rudolf Lassel unterrichtet wurde. Mein Jahresgehalt betrug 240 Gulden, also viel weniger, als ich in Szegedin und Aszód erhielt. Aber ich war nun in der Heimat, und wenn das Einleben in unsere Verhältnisse auch manche Schwierigkeiten brachte, so konnten sie im Gefühl des Zuhauseseins überwunden werden. Es meldeten sich bei mir mehrere Privatschülerinnen zum Klavier- und Gesangunterricht, und da meine gute Schwester unseren Haushalt leitete, hatte ich genügend Zeit, mich der Schule und meinen Privatschülerinnen zu widmen.
Im Jahre 1908 wurde unser Liederbuch an der Kindergärtnerinnen-Bildungsanstalt, Köhlers „Bewegungsspiele“ (14), vom Ministerium beanstandet und verboten mit der Motivierung, es sollen einheimische Bücher im Unterricht angewendet werden. Unter diesem Verbot hatte am meisten ich als Gesanglehrerin und die Leiterin des Musterkindergartens, Auguste Tontsch, zu leiden. Da beschlossen wir beide, ein für unsere Verhältnisse passendes Lieder- und Spielbuch zusammenzustellen und herauszugeben. Unser Vorhaben wurde von der Lehrerkonferenz gutgeheißen, und wir bekamen den Auftrag, die Arbeit in Angriff zu nehmen und im Manuskript vorzulegen. Als es so weit war, wurde Frl. Adele Zay zur Beurteilung des pädagogischen Teils und Musikdirektor Rudolf Lassel zur Beurteilung des musikalischen Teils gebeten. Beide unterzogen sich der großen Mühe einer genauen Durchsicht und beurteilten das Buch sehr günstig. Hierauf wurde das Buch dem löbl. Presbyterium zugeschickt – zur Beurteilung.
Als wir im Jahre 1913 mit der Zusammenstellung des Buches begannen, ahnten wir nicht, welche Schwierigkeiten auf uns warteten. Neben vielen anderen waren es die Kosten, die der Druck des Buches verursachte. Wer sollte sie tragen? Da erbot sich das löbl. Presbyterium, 300 Kronen für die Herausgabe des Buches beizusteuern. Der Kostenüberschlag machte jedoch 750 Kronen aus. Eine Eingabe des Lehrkörpers an das hochlöbl. Landeskonsistorium bewirkte und ermöglichte dann die Herausgabe unseres Buches, und im Jahre 1914 konnte ich es schon in der Schule einführen und benützen (15).
Nach einigen Jahren erhielten wir vom hochlöbl. Landeskonsistorium den Auftrag, das Liederbuch umzuarbeiten, den neuen Verhältnissen anzupassen und die Liederanzahl zu erweitern. Da wir nicht mehr zu Ungarn, sondern Rumänien gehörten, wurden die ungarischen Lieder, die früher gefordert worden waren, weggelassen. Im Oktober 1926 erschien die neue Auflage mit dem Titel „Kinderlust“ (16).
Ein Vortragsabend reihte sich an den anderen
Im Jahre 1919 kam ich dem Wunsche mehrerer Klavierlehrerinnen nach und gründete unsere Musiklehrerinnen-Vereinigung. Damit halfen wir besonders den jungen Lehrerinnen auf die Beine, und manche hatte durch die Vereinigung einen Rückhalt. 10 Jahre hindurch arbeiteten wir nach unseren von uns ausgearbeiteten Statuten. Dann arbeiteten die Lehrerinnen willkürlich, die Vereinigung war überflüssig geworden und löste sich auf.
Während meiner Anstellung an der Kronstädter Mädchen-Bürgerschule, später Mädchengymnasium, hatte ich oft und oft Gelegenheit, mit den Schülerinnen öffentlich aufzutreten. Nach Lassels Tod wurden mir auch die 4. Bürgerschulklasse und die Handelsschule zugewiesen. So reihte sich ein Vortragsabend an den anderen. Als Zuhörer waren nicht nur die Eltern zugezogen, sondern alle diejenigen, die sich für das Mädchensingen interessierten. Meine letzte Aufführung mit dem Mädchengymnasium und der Handelsschule war das schöne Krippenspiel in der Redoute im Jahre 1927.
Die Kindergärtnerinnen mussten oft herhalten, dafür sorgte Frl. Zay. Kam aus dem [Deutschen] Reich ein Gast, Dichterin, Schriftstellerin, musste die Anstalt vorgeführt werden, und der Gesang dabei durfte nie fehlen. Aber auch in den von der Kirchengemeinde eingerichteten Familienabenden am Sonntag musste ich oft die Kindergärtnerinnen unter meiner Leitung den gesanglichen Teil bestreiten lassen, ebenso an manchen Frauenabenden.
Mit meinen Privatschülerinnen hatte ich unzählige Schülerabende, oft im Festsaal der evang. Mädchenschule. Heute noch erinnern sich viele verheiratete Frauen, gewesene Schülerinnen, mit viel Freude an die schönen Schülerabende, bei denen sie mitgespielt haben. Bei manchen Schülerabenden hoben wir ein kleines Eintrittsgeld ein, welches wir wohltätigen Zwecken widmeten, im Weltkrieg der Ludendorff-Stiftung (17) und den Berliner Kindern.
Am 1. März 1928 hatte ich meine 30 Dienstjahre erfüllt, und da ich auch das gesetzliche Dienstalter erreicht hatte, so legte ich meine Stelle als 1. Gesanglehrerin an der Kronstädter evang. Mädchenschule nieder. Der Abschied von der lieb gewordenen Arbeit, den vielen lieben Schülerinnen wurde mir nicht leicht, doch hatte ich das Glück, gerade in dem Jahre viele Privatschülerinnen und -schüler zu haben, die meine Zeit ausfüllten und meine Gedanken in Anspruch nahmen.
Und auch heute noch, mit 81 Jahren, unterrichte ich mit großer Freude und Liebe einige Schülerinnen im Klavierspiel.
Kronstadt, im März 1943
Louise Stenner
(Schluss)
(Vorspann, redaktionelle Bearbeitung und Anmerkungen:
Wolfgang Wittstock)
Anmerkungen:
(9) Lajos Pósa (1850-1914) war Lehrer für ungarische und lateinische Sprache in Budapest und arbeitete später als Journalist; ab 1881 lebte er in Szegedin; schrieb u.a. zahlreiche Gedichte für Kinder; redigierte 1881-1914 die in Budapest erscheinende Kinderzeitung „Az Én Újságom“ (Meine Zeitung), welche ihn sehr populär machte.
(10) Mór Jókai von Ásva (1825-1904) war ein erfolgreicher ungarischer Schriftsteller und Journalist, aktiver Teilnehmer an der Revolution von 1848/49; er verfasste vor allem historische und utopische Romane, die in viele Sprachen übersetzt wurden.
(11) Die Ortschaft Aszód, 37 km nordöstlich von Budapest gelegen, erhielt im Jahr 1991 den Status einer Stadt.
(12) Frigyes (Friedrich) Baron Podmaniczky von Aszód und Podmanin (1824-1907) war ein ungarischer Politiker, Schriftsteller und Theaterintendant.
(13) István Bartalus (1821-1899) war ein ungarischer Musiklehrer, Musikhistoriker, Volksliedersammler und, ab 1875, korrespondierendes Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.
(14) Es handelt sich um ein Werk des deutschen Kindergarten-Pädagogen August Köhler (1821-1879), „Die Bewegungsspiele des Kindergartens“ (Erstveröffentlichung Weimar 1862).
(15) Stenner, Louise/Tontsch, Guste: Lieder und Spiele für Kindergarten und Familie, Kronstadt 1914 – siehe auch Folge VIII, Anmerkung 9, der Artikelserie „Kronstädter Musikerinnen“ (KR 17/30.04.2025).
(16) Stenner, Louise/Tontsch, Guste: Kinderlust. Lieder und Spiele für Kindergarten und Familie, Hermannstadt 1926.
(17) Erich Ludendorff (1865-1937) war ein deutscher General der Infanterie und Politiker; im Ersten Weltkrieg hatte er als Erster Generalquartiersmeister und Stellvertreter von Paul von Hindenburg, dem Chef der Obersten Heeresleitung, bestimmenden Einfluss auf Kriegsführung und Politik.
Foto: Luise Stenner war 30 Jahre lang Gesanglehrerin an der Kronstädter evang. Mädchenschule
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
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Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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