PATRICK LEIGH FERMOR
04.11.10
Rumänien – Reisen in einem Land, ehe die Finsternis hereinbrach (IV)
Wir sprachen eine gute Stunde lang von ihnen, dann stahl ich mich davon.
Ich kam zu meiner alten Zuflucht bei den Telekis auf der anderen Seite des Flusses, und auch dort schien das Haus kleiner geworden; eine sehr ähnliche Schar verrückter Vogelscheuchen bevölkerte es nun. Ich hätte gern erfahren, was aus Graf Telekis Arbeitszimmer und den Büchern und der gewaltigen Nachtfaltersammlung geworden war. Unglücklich fuhr ich davon.
Weiter muresaufwärts suchte ich nach dem Anwesen von „István“-Elemér. Das Haus, Gurasada, bewohnte nun ein sympathisches rumänisches Ehepaar, das eine Versuchsanstalt für Bambuszucht betrieb. Ein Leuchten kam in ihre Augen, als sie Elemérs Namen hörten. Sie hatten ihn nie kennengelernt, aber er war noch immer eine Berühmtheit hier im Tal, ein Mythos. „Wir wollten nie in sein Haus einziehen“, sagten sie traurig. Keiner von meinen alten Bekannten war mehr da. Sie gaben mir eine Flasche tzuica für ihn mit, gebrannt aus seinen Pflaumen. Ich war erst ein paar Kilometer mit meinem gemieteten Dacia gefahren, als ein Erntearbeiter als Anhalter am Wege stand. Mein klägliches Rumänisch verriet mich sofort als Ausländer, und er blickte verblüfft und erschrocken drein. Er war ein Mann um die Sechzig, mit haselnussbraunen Augen in einem hageren Gesicht. Nach einer Weile fragte ich: „Wie sieht es heute hier im Land aus?“ Er blickte mich ein- oder zweimal forschend an, dann sagte er nach einer Weile: „Sie kennen mich nicht und ich kenne Sie nicht. Also, es sieht sehr schlecht aus! Foarte rau! Wir haben nicht genug zu essen, und es wird schlimmer, wir werden zu Tode geschunden, wir leben wie die Sklaven, und es ist alles umsonst. Wir sind am Ende.“ Als ich zu bedenken gab, dass es doch auch besser werden könne, antwortete er: „Es wird schlimmer hier, Jahr für Jahr, Tag für Tag, und das hört niemals auf! Denen ist das doch egal! Wir haben nichts Eigenes, kein Land, überhaupt nichts, nicht einmal die Pflüge oder die Werkzeuge, mit denen wir arbeiten, gehören uns.“ Er nahm die Sichel vom Schoß. „Meinen Sie, die gehört mir? Mir gehört nichts.“
Es folgte eine Tirade aus Hass und Wut. „Und keiner traut sich, ein Wort zu sagen! Wenn einer was sagt ...“ Er ließ den Satz unvollendet, hob die Arme und schlug die Handgelenke aneinander, zum Zeichen für Handschellen. „Schon ist man verschwunden! Tausende sitzen in den Gefängnissen! Tausende und Abertausende!“ Wir verabschiedeten uns außerhalb seines Dorfes. Meine nächsten Fahrgäste waren zwei Arbeiter. Als ich sie dasselbe fragte, nun schon automatisch, folgte ein langes und verlegenes Schweigen. Einer sagte zögernd: „Hier geht es sehr gut.“ Der andere stimmte in ähnlichem Ton zu. „Da, da! Foarte bine!“, und das war alles ... Ich nahm pro Tag ungefähr fünfzehn Leute mit, und wenn ein einzelner Mitfahrer das Gefühl hatte, dass er es riskieren konnte, ließ er mit Erleichterung Dampf ab; wenn es zwei oder mehr waren, wichen sie stets aus.
Alle mit Ausnahme zweier wohlgenährter Männer mit Filzhüten und Aktentaschen, die mich recht gebieterisch zum Halten aufforderten, sich ohne ein Wort auf dem Rücksitz niederließen und sofort miteinander redeten. Ich sprach sie an, und als sie geklärt hatten, woher ich kam, beantworteten sie meine Fragen mit einem volltönenden Loblied auf den Wohlstand ihres Landes. Wir kamen durch einen Ort, wo die Leute in zwei Schlangen fast über die halbe Dorfstraße anstanden. „Aber was ist das?“ fragte ich. „So etwas habe ich vor dem Krieg nie gesehen.“ Der eine antwortete: „Rumänien ist ein armes Land.“
Ich entgegnete, früher sei es sehr reich gewesen; für den Rest der Fahrt sprachen sie kein Wort mehr. Später kam ein Geheimpolizist in mein Hotel in Deva (Diemrich) und stellte mir lange und ungeschickte Fragen. Was ich hier wolle und wann ich zuletzt in Rumänien gewesen sei? Wo ich die Sprache gelernt hatte? Dann blätterte er eine halbe Stunde lang in meinem Pass und ging.
„Das hört niemals auf...“ An die Worte des Erntearbeiters musste ich in den nächsten Jahren oft denken. Alles bestätigte sie, und sie schienen niemals wahrer als in diesem Winter, wo alles außer Rumänien, wo ganz Osteuropa von der Berliner Mauer bis zum einst so starren Bulgarien in Bewegung kam. Hie und da flammte etwas auf - die unterdrückten, doch unerhörten Demonstrationen in Brasov (Kronstadt), die einsame Stimme von Doina Cornea -, dann plötzlich der immer lauter werdende Protest, der Aufstand in Timisoara (Temeschwar), die Maschinengewehre, die Panzer, das Gemetzel; das Auflodern der Revolution in Bukarest und das Ende der Ceau{escus, bei dem die ganze Welt zusah, während die Securitate noch von den Dächern feuerte und sich in frisch gegrabenen Katakomben sammelte.
Es kam vollkommen unerwartet, und es war ein härterer, längerer Kampf als die Aufstände in allen anderen europäischen Ländern zusammen, nichts Unglaublicheres war in den vergangenen vierzig Jahren geschehen. Die Zeit, die Rumänien sich mit der Revolte ließ, wurde von einigen Kommentatoren bereits einem Mangel an Mut zugeschrieben, aber ich wusste, dass das nicht stimmte.
Alles, von den Taten der spät- und nachmittelalterlichen Fürsten bis bin zu den Bauernaufständen und dem hartnäckigen Widerstand in Marasesti (Maraschest) gegen Mackensens Vormarsch im Ersten Weltkrieg, zeugte vom Gegenteil; und im Jahr 1944 war es mir von unerwarteter Seite bestätigt worden. Ich gehörte zu einem anglo-kretischen Kommando, das sich in den Bergen von Kreta mit einem gefangenen deutschen General versteckt hielt, der zuvor eine Division an der Kuban-Front kommandiert hatte. Wir sprachen von den Verbündeten der Deutschen, und er meinte, die Italiener seien keine so schlechten Soldaten, wie wir und die Griechen glaubten. Wir zählten ihm die anderen europäischen Verbündeten der Deutschen auf, und er erklärte sie einen nach dem anderen für nutzlos. „Aber wenn die nichts taugen, welche dann, Herr General?“ „Na, die Rumänen natürlich! Die kannten beim Angriff keine Furcht, und wenn sie eine Stellung zu verteidigen hatten, da waren sie wie Jagdhunde! Oft kämpften sie bis zum letzten Mann.“
Auch das kam mir wieder in den Sinn, auf meinem Flug nach Rumänien.
(Schluss)
(Aus „Sinn und Form“, Nr. 4, 2010)
Sir Patrick Leigh Fermor
Foto: Internet
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
E-Mail:kronstadt@adz.ro
Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
Aktuell
Karpatenrundschau
13.06.25
Die Konferenzreihe ArhiDebate in Kronstadt
[mehr...]
13.06.25
Kronstädter Musikerinnen (XIII): Klavierlehrerin Adele Honigberger (1887-1970)
[mehr...]