Selbstbewusstsein im Wandel
08.10.09
Festrede beim XIX. Sachsentreffen in Birthälm (II)/Von Dr. Harald Roth
(Fortsetzung aus unserer vorigen Ausgabe)
Eine Folge dieser selbstbewussten Wehrhaftigkeit, je nach intellektuellen Fähigkeiten gelegentlich verbunden mit arroganter Selbstüberhöhung, ist bis heute mit Händen zu greifen: Es ist der schiere Weiterbestand der Sachsen bis ins 21. Jahrhundert. Von den zahlreichen Gruppen ähnlichen Charakters des Mittelalters im östlichen Europa, keinesfalls nur deutschsprachigen Gruppen, konnten sich die Sachsen allein über die Jahrhunderte hin retten, wenn auch unter gewandelten Bedingungen. Alle anderen verschwanden oft noch im Mittelalter oder in den aufreibenden Kriegen der frühen Neuzeit, spätestens aber im Zeitalter der Nationalbewegungen. Selbst im Falle der Szekler kann man, sehen wir von ethnographischen Spezifika ab, eigentlich nicht mehr von einer eigenständigen Gruppe sprechen, da sie sich nach und nach an die ungarische Adelsgesellschaft anpassten und spätestens mit der Revolution 1848/49 nur noch als Teil des ungarischen Volkes gelten wollten.
Ihrer womöglich großen Zahl können die Sachsen ihren Weiterbestand keinesfalls verdanken, auch wenn es Zeiten gab, da sie einen erheblichen Anteil an der Landesbevölkerung ausmachten. Nein, sie verdanken ihre Weiterexistenz vor allem ihrem hartnäckigen Festhalten an Recht und Besitz und ihrem unerschüttertlichen Bewusstsein, dass ihnen dieses von altersher zustehe – und ihrem fast schon starrsinnigen Bewusstsein, dass sie sich von ihren anderssprachigen und anderskonfessionellen Nachbarn erheblich abhoben, und zwar in der Selbst-Sicht, dem Selbst-Bewusstsein, meist nach oben hin abhoben. Und solange man im nationalistischen Ungarn um 1900 seine Wählerstimmen für den Reichstag aufgrund von Steuerleistung und von Schulbildung zuerkannt bekam, konnte diese selbstbewusste Illusion des Anders-Seins, des qualitativen Mehr-Wert-Seins, auch noch aufrechterhalten werden: Die kleine Zahl der Sachsen brachte es so auf deutlich mehr Abgeordnete als die große Zahl der Rumänen Siebenbürgens. „Ich bin ein Sachs’, ich sag’s mit Stolz“ war eine der Vertonungen dieses Empfindens, die man auf Volksfesten gerne sang.
Direkt in die Sackgasse
Als sich die politischen Repräsentanten vor 90 Jahren für den Anschluss des sächsischen Volkes an Großrumänien entschieden, war das alte Selbstbewusstsein einer eigenständigen Nation noch ungebrochen: Es hatte sich zwar gewandelt und man agierte nun im Namen einer ethnischen Gemeinschaft. Aber wirklich grundlegende Brüche hatte es nicht gegeben, etwas überspitzt gesagt: Es führt eine mehr oder weniger direkte Linie von der Wehrhaftigkeit sächsischer Gräfen um 1300 gegenüber Bischof, Woiwode und König über den Eigensinn sächsischer Städte gegenüber unerwünschten Landesherren im 16. und 17. Jahrhundert bis hin zur Anschlusserklärung im Januar 1919.
Aber danach? Woraus nährte sich sächsisches Selbstbewusstsein, nachdem jede Stimme – unabhängig von Besitz, Stand und Bildung – gleich viel wert war? Nachdem man nun zur echten Minderheit wurde – wehrlos, wenn ihr der Staat große Teile des Besitzes entzog? Die mitunter sogar diskriminatorisch in Wirtschaft und Gesellschaft zurückgesetzt wurde?
Hier nun stand das sächsische Selbstbewusstsein vor einer wirklichen Herausforderung, der es nicht recht gewachsen war. Ausreichende kompensierende Orientierung bot weder die eigene Kirche, deren eminente Bedrängnis das Volk nicht verstand, noch der neue Staat, der sich nicht an die Zusagen der Karlsburger Beschlüsse hielt. Hingegen führte die verkrampfte Ausrichtung auf die Weimarer Republik, die sich - wie die Sachsen auch - gedemütigt fühlte, später dann die Ausrichtung auf das „Dritte Reich“ direkt in eine Sackgasse: Sächsisches Selbstverständnis, verklärtes Sendungsbewusstsein, nationalistische Ideologie und das Gift des Rassismus verschmolzen zu einer unverzeihlichen Selbstüberhöhung – und endeten in einer Katastrophe, die durchaus das Ende dieser Gruppe hätte bedeuten können.
Wir wissen heute, dass weder 1944/45 noch irgendwann danach ein „Finis Saxoniae“ kam, und es lässt sich auch nicht absehen, ob und wann es jemals dazu kommen wird. Trotz aller Dramatik und Tragik des historischen Geschehens: Den Sachsen, einem doch recht außergewöhnlichen Relikt eines längst vergangenen Zeitalters, kamen wieder in die Zukunft weisende Fügungen zugute: Die meisten durften nämlich in ihrer angestammten Heimat weiterleben, nur wenigen europäischen Minderheiten war dies vergönnt. Hier lernten sie freilich, ihr Selbstbewusstsein zu zügeln. Bescheidenheit und Zurückhaltung wurden die Voraussetzungen der Selbst-Erhaltung. Der geistigen Verfasstheit der Gruppe als solcher, ihrer verbindenden Kirche wieder sehr nahe gerückt, konnte die über sie herrschende Ideologie des Sozialismus nur wenig anhaben.
Schwieriges Verhältnis
Anders sah es jedoch bei jenen Sachsen aus, die das Schicksal in die westlichen Zonen des besiegten Deutschland oder nach Österreich verschlug: Sie konnten ungebrochen an ihrem imaginären Siebenbürgen festhalten, ja sie mussten sich sogar an ihrer Geschichte festklammern, wenn sie einen eigenen kulturellen Beitrag im neugegründeten westdeutschen Staat leisten wollten. Und viele konnten ihrer großdeutschen Idee noch lange verhaftet bleiben, ohne dabei in der deutschen Nachkriegsgesellschaft auf Widerspruch zu stoßen. Dabei wurde das sächsische Selbstbewussten nicht selten in der Form seiner fatalen Überhöhung fortgeführt: Der eigene „Kampf zur Verteidigung des Abendlandes auf dessen vordersten Wällen“ war eines jener Schlagworte, das die Brust vieler freien Sachsen anschwellen ließ. Diese zeigten sich in ihrer Entschlossenheit, auch für ihre Landsleute jenseits des Eisernen Vorhangs zu sprechen, durchaus selbstbewusst - wobei sich darüber streiten ließe, ob diese Haltung mehr dem historischen sächsischen Selbstverständnis oder eher der fatalen Verirrung der Volksgruppenzeit entsprang: Unter der Behauptung, die Sachsen in Siebenbürgen könnten nicht frei selbst über ihr Schicksal entscheiden, betrieben die Westsachsen die Familienzusammenführung und Auswanderung - wohl wissend, dass ein einmal in Bewegung geratenes Kollektiv nicht mehr zu halten war. Wie sehr mussten die Väter dieser Politik von sich selbst überzeugt gewesen sein, dass sie diese langfristige und folgenreiche Doktrin aufstellen konnten - kann das wirklich nur das historische sächsische Selbstbewusstsein gewesen sein? Konnten sie es nicht ertragen, dass ein fremdes, ganz offensichtlich menschenfeindliches System über die Freiheiten des sächsischen Volkes bestimmen sollte? Vielleicht wollten sie wirklich nur selbstbestimmt entscheiden, welcher Art Regime sie als Gruppe untertan sein sollten – ähnlich wie 1324, 1527, 1688 oder 1919? Die Geschichte würde diese Annahme zumindest zulassen.
Es kam im Westen Deutschlands vor 60 Jahren zur Gründung des Verbandes der Siebenbürger Sachsen, vor 40 Jahren zur Gründung des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrats und vor 25 Jahren schließlich zur Gründung der vom Konzept her weltweiten Föderation der Siebenbürger Sachsen.
Dass der Föderation schon nach nur fünf Jahren ein weiteres potentielles Mitglied erwuchs, war – aus Münchener Perspektive – doch eine gewisse Überraschung, mit der man erst umzugehen lernen musste. War das, so fragte man sich, vor bald 20 Jahren, Ende Dezember 1989, gegründete Demokratische Forum eine ernstzunehmende Einrichtung? Würde es ein Nachlassverwalter werden? Sollte es den geordneten Rückzug organisieren? Nein, keineswegs. Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg gründeten die Sachsen ganz selbstverständlich und selbstbewusst gleich die politische Institution für die Deutschen ganz Rumäniens. Ohne viel Federlesens boten sie sich als die Organisatoren und Wortführer der ganzen Minderheit an, keine Spur mangelnden Selbstvertrauens oder der Orientierungslosigkeit – weder gegenüber den Konnationalen im Lande noch gegenüber den Regierungen - aber gegenüber den Westsachsen? Oder überhaupt gegenüber „oben“?
Da blieb das Verhältnis schwierig, und die massenhafte Auswanderung schien der Rückzugsfraktion recht zu geben. Diese konnte, mit einer lange Zeit spendablen Bundesregierung im Rücken, auch weiterhin selbstbewusst auftreten. Aber eigentlich hätte man schon an der Reaktion der Sachsen unmittelbar nach der Wende, an der – rückblickend – in Windeseile aufgebauten Forumsorganisation und anhand ihrer Programme, aber auch an der überlegt und weitsichtig auf die neue Lage reagierenden Kirche erkennen können, dass hier mehr zu erwarten war als Abbau und Rückzug. Man hätte erkennen können, dass das Selbstverständnis als kulturell eigenständige, aber auch als politisch verfasste Gruppe ungebrochen war. Dieses Selbstbewusstsein weniger übertrug sich allerdings nur allmählich auf jene Sachsen, die eigentlich nicht gehen wollten - die Ungewissheit über die Tragweite des eigenen Mutes mag dafür mit ein Grund gewesen sein.
Eine wundersame Aussicht
Die Westsachsen brauchten so manches Jahr, um zu verstehen, dass ihr Gesamtvertretungsanspruch neu zu definieren, zu überdenken war, dass sie „oben“ – wie im ganzen Jahrhundert davor – nicht schon von Hause aus mehr wert waren und dass ihr Gegenüber in Siebenbürgen aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie sie selber: selbstbewusste Charaktere hier wie dort, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, was sie zu tun und zu lassen haben. Ein neues Phänomen übrigens in der sächsischen Geschichte, dass sich zwei etwa gleichstarke Fraktionen gegenüberstehen: Was die einen an Zahl einbringen können, das wiegen die anderen durch den überkommenen Standort, durch die Fortführung der Geschichte am richtigen Ort auf. Und es war nun auch an der Zeit, dass die siebenbürgische Seite den Takt vorgibt, etwa durch die Europäische Kulturhauptstadt 2007, aber auch bei zunehmend mehr Themen und Ereignissen. So sind es nun die Sachsen im Westen, die sich mit einiger Mühe an die europaweite Siebenbürgen-Konjunktur anhängen – und müssen es erst verwinden, dass nicht sie die Gefragten sind, sondern jene, die blieben. Ein kippendes Selbstbewusstsein also, das das neue Jahrtausend brachte: während der Westen erhebliche Einbußen hinnehmen muss, wird die siebenbürgische Waagschale immer schwerer.
Dieses neue Selbstbewusstsein ist in Siebenbürgen auch notwendig, um sich auf dem Weg der enormen Erfolge der letzten Jahre nicht beirren zu lassen, um zu zeigen, dass dem Verfall auch vielfältiger Aufbau gegenübersteht und trotz der kleinen Zahl weite Teile der Kulturlandschaft erhalten werden können, um neue Kräfte und Kompetenzen anzuziehen, um zu demonstrieren, dass unser reiches Kulturerbe nicht nur von den Nachkommen der Sächsischen Nation verantwortungsbewusst fortgeführt werden kann. Mittelfristig wird dieser Prozess sicher auch zu einem deutlichen Wandel der sächsischen Identität führen, um auch die rumänische Übersetzung unseres heutigen Mottos aufzugreifen. Die Anfänge sind bereits deutlich zu erkennen.
Dass gerade gestern eine Niederlassung der Föderation, also der weltweiten Vereinigung der Siebenbürger Sachsen in Hermannstadt eröffnet wurde, weist in die Zukunft: So haben die – heute mit vollem Recht wieder sehr selbstbewussten – Sachsen in Siebenbürgen die Chance, selber zum Motor zu werden und ihre früheren Landsleute weltweit auf ihre Ursprünge zu verweisen. Auch das ist eine jener wundersamen Aussichten, die die Geschichte für die Sachsen immer wieder bereithielt, ob sie es nun verdient hatten oder nicht. Denn wenn unsere Kinder und Enkel um die Zeit einer späteren Jahrhundertwende das schöne Schloss am Neckar, die Karlstraße in München oder den Transylvania Club in Kitchener vielleicht nicht mehr werden verwalten wollen, dann wird es hier, in Siebenbürgen, noch eine Gegenwart geben. Vielleicht eine sächsische Gegenwart. Auf jeden Fall aber eine Gegenwart mit einer sächsischen Geschichte.
(Schluss)
Mit einer einzigen Ausnahme wurde bisher seit 19 Jahren das Sachsentreffen immer wieder in Birthälm abgehalten.
Foto: Mihai Szebeni
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
E-Mail:kronstadt@adz.ro
Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
Aktuell
Karpatenrundschau
13.06.25
Die Konferenzreihe ArhiDebate in Kronstadt
[mehr...]
13.06.25
Kronstädter Musikerinnen (XIII): Klavierlehrerin Adele Honigberger (1887-1970)
[mehr...]