Wenn der Körper erzählt
26.09.25
Tanztheaterstück „Gleis 3” und Diskussion zum Kronstädter Schriftstellerprozess
Geschichten über die Zwangsarbeit im Kohlenwerk in Russland, über den schrecklichen Hunger und die grausame Kälte, über die Angst und Verzweiflung hat Heike Schuster bereits als Kind von ihrer Großmutter Rosa Lukesch gehört. Diese erzähle ihr immer wieder vom Schrecken der Deportation, wie sie aus dem Haus in Heldsdorf geholt und in Viehwaggons in die ehemalige UdSSR verschleppt wurde. Mit ihr wurden im Jahr 1945 fast 70.000 Frauen im Alter von 18 bis 30 Jahren sowie Männer zwischen 17 und 45 Jahren zum Wiederaufbau der Sowjetunion gezwungen. Viele kamen nie zurück. Die Geschichten über das Elend in Bergwerken und Lagern hörte Heike Schuster als Kind oft, verstanden hat sie sie jedoch erst als Jugendliche.
Der Auslöser für die Performance
Als Erwachsene hat die heutige Choreografin und Tänzerin die Erlebnisse ihrer Großmutter körperlich nachempfunden. Bei einer Übung musste sie mit einem Paar Armeestiefeln und einem Strickpullover einen Tanz improvisieren. Als sie diese anzog, wurde ihr klar: „Ich bin in Russland. Es war, als hätte ich das erlebt, was meine Großmutter erlebt hatte. Es war das erste Mal, dass ich über meinen Körper Zugang zu diesem Thema fand”, erklärte Schuster in Kronstadt. Dieses intensive Erlebnis aus dem Jahr 2017 war der Auslöser, die Deportation der deutschen Minderheit in Rumänien als Tanzperformance auf die Bühne zu bringen. Zunächst entstand daraus ein Kurzstück von rund 15 Minuten, doch ließ sie das Thema nicht los. Anhand der Manuskripte ihrer Oma und deren Bruder, sowie einer intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte schuf Heike Schuster „Gleis 3. Auf den Spuren der nach Russland deportierten Rosa Lukesch”. Die Performance wurde erstmals beim Heimattag 2025 in Dinkelsbühl vorgeführt. Am Mittwoch, den 17. September, sah das Kronstädter Publikum Heike Schusters One-Woman-Show, am Freitag, den 19. September, folgte eine Aufführung beim Sachsentreffen in Zeiden.
Wie überlebt man solche Zeiten?
In ihrer Performance erahnt das Publikum eine Reise voller unterschiedlicher Emotionen - von Frust und Wut, über Angst, Sprachlosigkeit und Hoffnungslosigkeit bis hin zu Freude und Hoffnung. Trotz der Bitterkeit und Tragik, die ihr Körper durch bedrückend Gesten andeutet, finden sich auch lichte Momente im Stück. „Als Künstlerin hinterfrage ich, wie Menschen derart dramatische Ereignisse überstehen können und wie es nachfolgenden Generationen gelingen kann, solch ein schweres Erbe in etwas Hoffnungsvolles zu transformieren”, sagte die Choreografin nach der rund einstündigen Vorführung. „Die Leute damals hatten sich schon im Zug ineinander verliebt und es war mir wichtig auch diese Seite zu beachten, um zu zeigen, woher sie ihre Kraft und Hoffnung nahmen“. Deshalb integrierte sie auch freudige Musik und Gesichtsausdrücke in das Stück.
Mit „Gleis 3“ verarbeitet Heike Schuster einen Teil ihrer Familiengeschichte. Gleichzeitig möchte sie auch das Publikum anregen, die Beziehung zu den eigenen Großeltern zu hinterfragen und sich bewusst zu machen „welche Geschichten wir mit in unserem Leben mittragen und wie wir mit ihnen umgehen”. Die körperliche Ausdrucksweise – ohne Worte – ist für sie ein ganz besonderer Zugang. „Während des künstlerischen Prozesses spüre ich, dass die Geschichte einen festen Platz in meinem Leben bekommen hat. Je mehr Raum ich ihr gebe, desto leichter fühle ich mich”, erklärt die Tänzerin. Diese Leichtigkeit symbolisiert sie auf der Bühne, indem sie Schicht für Schicht Teile ihres Kostüms ablegt: „Das, was sich darunter befindet verschwindet nicht - die Geschichte ist da, aber sie transformiert sich.”
Diskussion und historische Einordnung
Die anschließende Diskussion moderierte Petra A. Binder, Jugendreferentin des Kronstädter Forums. Ovidiu Savu, Historiker beim Museum Casa Muresenilor, ergriff das Wort aus dem Publikum und erzählte aus eigener Erfahrung mit seinen sächsischen Nachbarn in Rothbach. Er las aus deren beeindruckenden Briefen vor, die diese aus den Lagern im Donbass nach Siebenbürgen gesendet hatten. Er bot an, weiterhin über diese dunkle Kapitel der Geschichte zu sprechen, um es bekannt zu machen. Anschließend sprach Schriftstellerin Carmen Gheorghe vom Apollonia-Kulturzentrum über den Kronstädter Schriftstellerprozess, bei dem die siebenbürgisch-sächsischen Schriftsteller Wolf von Aichelburg, Hans Bergel, Andreas Birkner, Georg Scherg und Harald Siegmund verurteilt wurden. Sie verwies auf Bücher und Filme, die dieses Thema aufgreifen.Den Abschluss bildete ein Film über Hans Bergel aus der Fernsehdokumentationserie „Mahnmal der Schmerzen“ (Memorialul durerii) des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders TVR. Die Serie von 1991 zeigt die Verfolgung, Gefängnisse, Zwangsarbeitslager und repressiven Maßnahmen des rumänischen Geheimdienstes Securitate. Die Veranstaltung im Apollonia-Kulturzentrum wurde vom Verein ZurZeit : Kultur in Zusammenarbeit mit dem Ortsforum Kronstadt, Heike Fabritius, Kulturreferentin für Siebenbürgen am Siebenbürgischen Museum in Gundelsheim a. Neckar und der Kulturbank Apollonia Hirscher organisiert.
Laura Capatana-Juller
In der teils bedrückenden Stille in Heike Schusters Performance waren ab und an Töne oder Musik zu hören, die Emanuel Grivit auf einem Lautsprecher abspielte.
Foto: Orsolya Balint / Apollonia-Kulturzentrum
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