Wie viel Heimat – Halt – braucht der Mensch?!
14.10.10
Zu: „Einen Halt suchen“, von Joachim Wittstock, Hora-Verlag, Hermannstadt/Sibiu, 352 S., 2009 ISBN 978-973-8226-79-1 (II)
Der Sohn Fausts und Helenas Euphorion als Sinnbild eines flügellosen Höhenfluges, der tragisch enden muss, wird in Rumänien gern als Titel literarischer Essays und literarischer Vereine verwendet. Seit April 1990 erscheint in Hermannstadt ein Periodikum des rumänischen Schriftstellerverbandes „Euphorion“ auch eingedenk der biografisch mit Hermannstadt verbundenen Goethekenner Lucian Blaga, Constantin Noica und Stefan Augustin Doinas.
Die ersten Folgen von Euphorion 1990-1992 enthielten auch deutschsprachige Seiten, „Deutsche Seiten – Pagini Germane“, die dann ganz im Sinne von Goethes Begriffsprägung „Weltliteratur“ erweitert wurden in „English – Deutsch – Francais“. Bemerkenswert ist auch, dass dem Leitungsausschuss (colegiul directoral) auch Joachim Wittstock angehört, so dass die deutschsprachige Literatur Rumäniens hier eine unüberhörbare Stimme hat.
In dem Essay „Deutsch schreiben in Rumänien“ wagt Joachim Wittstock einen Sprung über den Kalten Krieg und seine Schatten, wenn er den 1985 veröffentlichten Essay „77 Thesen zur Zukunft der Siebenbürger Sachsen“ von Walter Myss nach dem Umbruch von 1989 als historisch nicht mehr zutreffend als eine heute nur noch zu lesende „Charta der 77 Beiläufigkeiten“ einordnet. Literatur entzieht sich nämlich einer Planwirtschaft und ihre Geschicke lassen sich nicht einfach prognostizieren. Auch in der Zeit der Diktatur hat Joachim Wittstock immer wieder versucht, ästhetische Maßstäbe anzuwenden und auch deshalb kontinuierlich Essays geschrieben.
Im Vortrag „Auseinander strebend / zueinander laufen“, gehalten im April 2000 in der Hauptstadt der rumänischen Moldau in Jassy/Iasi vor Besuchern aus der Ukraine, der bessarabischen Moldau – Republik Moldawien, Ungarn, Österreich und Deutschland zeigte Wittstock, dass die gegenwärtige deutschsprachige Literatur Rumäniens hauptsächlich durch höchst anerkennenswerte Einzelinitiativen bestimmt wird, der dann dankenswerterweise Schulen, Bibliotheken, die deutschen Konsulate und auch Wirtschaftskammern helfend unter die Arme greifen. Auch hier Eigeninitiative vor Planwirtschaft, dann aber Gemeinsinn, um den Einzelnen zu stützen und zu fördern.
Selbst muttersprachliche Rumänen oder Ungarn werden in den in Rumänien weitergeführten deutschen Schulen, die sie besuchen, zu optionsdeutschen Autorinnen und Autoren, zumal sie schon durch die Wahl der Schule ihre Verbundenheit zur deutschen Sprachkultur zeigten. Ihre deutschen Texte überraschen oft mit einer sehr eigenwilligen Mentalität. Im Temeswarer Literaturkreis „Die Stafette“ (gegründet 1991) – betreut von Annemarie Podlipny-Hehn – wurde dies frühzeitig erkannt und wird kontinuierlich gefördert.
Das rumäniendeutsche Schicksal hat im Großen und Ganzen die gleiche Entwicklung durchlaufen, wie die Literatur der Rumänen und der anderen mitwohnenden Nationalitäten und ist somit heute in der Transformationszeit des Ostblocks nach der Wende von 1989 die einzige deutsche Literatur, die diese „Übergangsperiode“ existenziell mit durchlebt und in Worte fasst, in literarische und philosophische, wie auch Joachim Wittstock hier in seiner Essaysammlung.
In seinem Grundsatzaufsatz „Literatur als Zeugnis einer kleinen Gemeinschaft“ analysiert Joachim Wittstock den von persönlicher Bekanntschaft geprägten Verkehr der verbliebenen Rumäniendeutschen. Dieser vertieft die Seinsform einer engen Gemeinschaft vor allem in der kritischen Auseinandersetzung. Joachim Wittstock ist dabei der umgängliche, Gemeinschaftssinn fordernde Gegenpol der sonstigen nicht seltenen Abgründigkeit regional bedingter subjektiver Gegnerschaften. Diese erschrecken oft durch ihre totale Konfrontation, wie z.B. die Intimkonflikte zwischen so bedeutenden Autoren wie Hans Bergel und Eginald Schlattner oder Herta Müller und Horst Fassel.
Seit dem Umbruch von 1989 ist inzwischen mit dem Demokratischen Forum der Deutschen in Rumänien – vor allem auch über seine regionalen Gliederungen - die Gemeinschaft der Rumäniendeutschen wieder zum selbstverantwortlichen historischen Subjekt ihrer eigenen Geschichte geworden und ist nicht mehr bloß ein Objekt staatlicher Minderheitenpolitik mit von oben eingesetzten Staats- und Parteifunktionen.
Bemüht um das Bewahren der eigenen Identität hat es zahlreiche deutschsprachige Publikationen gefördert. Zum Teil aus den eigenen bescheidenen Mitteln, vor allem aber durch die Vermittlung von Geldsummen, um die es angesucht und die es erhalten hat von Regierungsstellen und anderen Einrichtungen des Inlandes wie auch des Auslandes (Bundesrepublik und Österreich, aber auch von Luxemburg und von England).
Überraschenderweise wurde Prinz Charles von England ein Fan und Förderer der siebenbürgisch-sächsischen Kirchenburgen und mittelalterlicher siebenbürgisch-sächsischer Stadtkerne, die er auf seinen Reisen kennen lernte. Dass die Wehrkirchenburg von Deutsch-Weißkirch/Viscri heute zum Weltkulturerbe gehört, ist auch dem persönlichen Engagement von Prinz Charles, der sie besucht, zu verdanken.
Dank Fördermaßnahmen erschienen seit dem Umbruch wichtige Anthologien, wie die Anthologie „Aufs Wort gebaut. Deutsche Autoren in Rumänien“, 2003, und das seit 2000 jährlich erscheinende „Deutsches Jahrbuch für Rumänien“. Hinzu kommen Studiensammlungen, Tagungsmaterialien, Festschriften und vor allem auch Eigenbände einzelner Autorinnen und Autoren. Allein der Stafette-Literaturkreis hat seit seinem Bestehen 1991, neben 15 Anthologien, mehr als ein Dutzend Eigenbände seiner Mitglieder veröffentlicht.
Durch dieses Engagement können auch die Beziehungen zu den rumänischen und auch ungarischen Autorenkollegen und Redaktionen rege bleiben in wechselseitig vorgenommenen Übersetzungen und publizistischer Mitarbeit.
Ein Essay über Möglichkeiten und Grenzen der Versöhnungskultur bei den Rumäniendeutschen ist der Aufsatz mit dem ironischen Titel „Gute und Ungute“. Wie in jeder engen Gemeinschaft, wo jeder so gut wie jeden kennt, sind die Konflikte tiefer gehend, weil allgemein bekannt. Dies erschwert die Versöhnung, da diese an die Bereitschaft gebunden ist, auch eigene Verfehlungen einzugestehen.
Für die gegenwärtige rumäniendeutsche Literatur bleibt die unaufgelöste Differenz zwischen Hans Bergel (geb. 1925), der 4 Jahre in Haft und Zwangsverbannung verbrachte, und Eginald Schlattner (geb. 1933), der 2 Jahre in Haft und Geheimdienstpsychiatrie einsaß, ein Rätsel mangelnder Opfersolidarität, zumal beide Hauptwerke, Bergels „Tanz in Ketten“ und Schlattners „Rote Handschuhe“, denselben Totalitarismus zum Thema haben, indem beide schuldlos Opfer wurden.
(Schluß folgt)
Ingmar Brantsch
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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