35 Jahre seit der Arbeiterrevolte
25.11.22
Crosslauf erinnert an den Protestzug
Der 15. November 1987 war ein Wahlsonntag. Gewählt wurden die Abgeordneten der Großen Nationalversammlung, wobei die allmächtige Rumänische Kommunistische Partei (RKP) bestimmte, wer dafür kandidieren sollte. Alles war eigentlich eine Formsache. Der Tag ist in die rumänische zeitgenössische Geschichte aber als Tag der Kronstädter Arbeiterrevolte eingegangen – sozusagen der Vorbote der Dezemberrevolution die zwei Jahre und ein Monat später das Ende von Ceausescu und dem kommunistischen Regime bedeutete.
Heute bleibt der 15. November ein besonderer Tag - vor allem für Kronstadt. Es wird derjenigen gedacht die damals in einer Werkhalle des Lkw-Werkes spontan die Arbeit niederlegten und gegen die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen protestierten. Sie gingen auf die Straße und immer mehr Kronstädter schlossen sich ihnen an. Ungefähr beim Kreiskrankenhaus in der Bukarester Straße weitete sich der Protest zu einer antikommunistischen Demonstration aus. Es wurde gegen Ceausescu protestiert; „Desteapta-te române!“ (ein Lied das offiziell nicht gesungen werden durfte und das heute zur Nationalhymne geworden ist) wurde angestimmt. Die Ordnungskräfte waren vollkommen überrascht. Nirgends war die Miliz zu sehen. Ziel des auf rund 5000 Personen angewachsenen Protestzug war der Sitz des RKP-Kreisrates (heute Präfektur). Dort wurden Fenster eingeschlagen, das riesengroße Ceausescu-Porträt angezündet, für den Wahlsieg vorgesehene Delikatessen zum Fenster herausgeworfen. Als die Securitate-Einsatztruppen eingriffen, zog sich die Menge zurück und verstreute sich. Schüsse sind nicht gefallen, Tote waren nicht zu verzeichnen. Wäre das der Fall gewesen, so meinen manche, so wäre die Revolte womöglich zu einer Revolution geworden, so wie im Dezember 1989 in Temeswar und Bukarest.
Nach 1989 ist der rund 5 Kilometer lange Weg des damaligen Protestes zur Trasse eines populären Straßenrennens geworden. Heuer waren es rund 800 Personen (auch Familien mit Kindern und Rollstuhlfahrer) die sich für diesen Crosslauf eingeschrieben haben. Vorher gab es ein internationales 5km-Straßenrennen getrennt für Profiläuferinnen und -läufer. Es soll an die Arbeiterrevolte erinnern, es soll für Sport und Bewegung aber auch für Kronstadt werben. Wieder säumen Flaggen (ohne die Hammer-und-Sichel-RKP-Fahnen die endgültig weg sind) die Straßen. Eine davon trägt inzwischen den Namen „Bulevardul 15 Noiembrie“ statt „Bulevardul Lenin“. Sie ist breiter geworden, der grüne Mittelstreifen ist verschwunden und es herrscht Einbahnverkehr. Man könnte sie als „städtische Autobahn“ bezeichnen. Die Hälfte davon ist nun für den Verkehr gesperrt und den Läufern vorbehalten. Polizei und Freiwillige sorgen für Ordnung. Probleme macht nur ein großer Straßenhund der plötzlich vor dem Lauf der Profiathleten aufgetaucht ist, der sich auf der leeren Straße wohlfühlt und sie nicht ohne weiteres verlassen will. Die Polizei erweist sich als sehr zuvorkommend – der letzte der Läufer im 5km-Rennen der Männer hat wohl seine Kräfte überschätzt und will aufgeben. Nach einem kurzen Wortwechsel mit den Polizisten im Dienstwagen der hinter den letzten Läufern fährt, nimmt er das Angebot an, den Rest der Strecke im Wagen zurückzulegen.
Nahe der Holzkirche die nach 1989 errichtet wurde, interessiert sich eine Frau, ob dieser Volkslauf bis hinauf in die Schulerau führt und ob er mit dem Andreas-Tag (30. November) in Verbindung zu bringen sei. Der 15. November 1987 fällt ihr ein nur nachdem ich sie daran erinnere. Vorher hatte ein alter Mann der neben seinem Fahrrad auf dem Gehsteig ging, mich angesprochen und lakonisch gemeint: „Umsonst sind wir auf die Straße gegangen.“ Zunächst dachte ich, er meine, wir hätten den eigentlichen Crosslauf bereits verpasst. Aber nein: der 83-Jährige der selber auf sein Alter verweist, meint den Protest vor 35 Jahren. Wie könne man mit einer Rente wie der seinen leben; was solle noch aus unserem Land werden?
AFI Mall statt Hidromecanica-Werke, bunte riesige Werbeplakate statt graue und triste Wohnblockfassaden; die vielen Autos statt der Dacias der 80-er Jahre – vieles hat sich geändert. Nicht alles ist besser geworden. Darüber kann man streiten und klagen. Ohne Furcht. Und dass auch die Kronstädter vor 35 Jahren etwas zur errungenen Freiheit beigetragen haben, wird nicht vergessen.
Ralf Sudrigian
Historisches Foto mit dem Protestzug vom 15. November 1987 am damaligen Lenin-Blvd. Foto: memorialsighet.ro
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
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Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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