Bartholomae als Mittelpunkt des sächsischen Burzenlandes
16.09.22
Festrede beim Bartholomäusfest 2022/ Von Wolfgang Wittstock
Geehrte Festgemeinde,
zu Beginn möchte ich zunächst der Bartholomäer Kirchengemeinde meinen Dank aussprechen dafür, dass mir mit dieser Festrede die Möglichkeit geboten wird, Ihnen einige anlassbedingte Fakten und Gedanken mitzuteilen, Fakten und Gedanken zur Geschichte von Bartholomae als Kirchengemeinde und Kronstädter Stadtviertel sowie zu deren Positionierung in der historischen Landschaft, der dieser Ort mit Kronstadt und den umliegenden Gemeinden angehört, womit ich unser schönes, vom Kranz der umliegenden Gebirge geschütztes Burzenland meine. Dabei muss ich gleich am Anfang Folgendes vorausschicken: Mit der Aufforderung, die traditionelle Festrede beim diesjährigen Bartholomäusfest einem Innerstädter anzuvertrauen, genauer: einem Nicht-Bartholomäer, einem Mitglied der Evangelischen Kirchengemeinde A.B. Kronstadt bzw. der Honterusgemeinde, mit dieser Aufforderung sind die Organisatoren, die Verantwortlichen unseres heutigen Festes, meine ich, ein gewisses Risiko eingegangen. Es ist ja bekannt, dass es in der Vergangenheit in Kronstadt innerkirchliche Spannungen gegeben hat, die im Jahr 1863 zu einer Spaltung geführt haben, zur Bildung der eigenständigen Evangelischen Kirchengemeinde A.B. Bartholomae-Kronstadt. Seit jenem Zeitpunkt gibt es in Kronstadt bis auf den heutigen Tag zwei eigenständige Kirchengemeinden im Rahmen unserer evangelischen Landeskirche, die Honterusgemeinde und die Bartholomäer Kirchengemeinde. Die historischen Umstände, die Ursachen und Gründe, die im Jahr 1863 zur Gründung der eigenständigen Evangelischen Kirchengemeinde A.B. Bartholomae geführt haben, hat Thomas Şindilariu in seiner Festrede beim Bartholomäusfest des Jahres 2013, als 150 Jahre dieser Eigenständigkeit begangen wurden, mit dem beruflichen Rüstzeug des Historikers ausführlich dargestellt. Ich möchte die detaillierte Darstellung der damaligen historischen Ereignisse an dieser Stelle nicht wiederholen. Falls Sie aber am Thema Interesse haben, so können Sie sich im Laufe des Tages die große Inschrift an der Wand hinter der Orgel anschauen, wo das Erzielen der Unabhängigkeit mit folgenden Worten festgehalten ist: „Am 10ten Mai 1863 wurde die bisherige Bartholomäer Filialgemeinde, nach schwerem Kampfe, dem denkwürdigen Beschluss der h. Landeskirchenvertretung in Hermannstadt, vom 17. September 1862, gemäß durch die in Person des Schäßburg. Stadtpfarrers Mich. Schuller u. Schäßburger Rectors Dr. G. Dan. Teutsch entsendete Auspfarrungs-Commission, feierlich u. öffentlich in ihre alten Rechte, wieder eingesetzt, u. ihre Kirche zur selbstständigen Pfarrkirche erhoben. – Erster Pfarrer der damalige OberPrediger Sam. Traug. Frätschkes. – Tho. Siegel u. Mich. Salmen Kirchenväter.“
Ein Medaillon, das nichts darstellt
Außer dieser „Unabhängigkeits-Erklärung“ gibt es in diesem schönen Gotteshaus, dem ältesten Kirchengebäude in Kronstadt, möglicherweise auch noch ein Zeugnis, das die innerkirchlichen Spannungen dokumentiert, die 1863 zur kirchlichen Eigenständigkeit von Bartholomae geführt haben. Den Hinweis darauf verdanke ich dem Kantor der Honterusgemeinde, Dr. Steffen Schlandt. Bekanntlich wurde anlässlich des Bartholomäusfestes im vorigen Jahr die Wiedereinweihung der Orgel in dieser Kirche nach vollzogener aufwendiger Restaurierung gefeiert. Der Festrede, die damals Frau Dr. Ursula Philippi gehalten hat, kann man entnehmen, dass es sich um eine 1923 gebaute pneumatische Orgel der Temeswarer Orgelbaufirma Wegensteins Söhne handelt, wobei aber der Orgelprospekt, das laut Ursula Philippi „elegante Gewand“ der Vorgängerin vom Jahr 1791, beibehalten wurde. Schaut man sich nun diesen Prospekt an, so sieht man, dass er in einer Art Medaillon gipfelt, das aber nichts darstellt, weil es möglicherweise irgendwann übermalt wurde. Man kennt Beispiele von historischen Orgeln in unseren siebenbürgisch-sächsischen, vor allem in unseren Burzenländer evangelischen Kirchen, wo es ebenfalls solche Medaillons mit einer Darstellung des betreffenden Ortswappens gibt, etwa in Heldsdorf, Honigberg, Petersberg oder Tartlau. Vermutet wird nun, dass auf dem Medaillon des Bartholomäer Orgelprospekts das bekannte Kronstädter Wappen, die Krone auf dem verwurzelten Baumstumpf, dargestellt war, dieses Symbol der Zugehörigkeit zum Stadtganzen aber nach der erzielten kirchlichen Eigenständigkeit übermalt worden ist. Anlässlich der Restaurierung im vorigen Jahr wurde leider versäumt, diesem Detail auf den Grund zu gehen. Sollte die hier erwähnte Hypothese zutreffen, was vielleicht mal in Zukunft geklärt werden kann, so haben wir es eindeutig mit dem Phänomen der Spurenverwischung zu tun, das man aus vielen Beispielen aus der Geschichte, auch aus unserer siebenbürgisch-sächsischen Geschichte, nur zu gut kennt. Es gehörte und gehört eben zu den Gepflogenheiten der Mächtigen, alles, was an Glanz und Glorie derer, die einst das Sagen hatten, dann aber einen Bedeutungsverlust hinnehmen mussten, zu überpinseln oder auszuradieren. In unserer siebenbürgisch-sächsischen Geschichte haben wir solche Erfahrungen in den letzten anderthalb Jahrhunderten immer wieder machen können. Meistens handelt es sich bei solchen Spurenverwischungen, etwa dem Gebrauch von Ortsnamen in der Muttersprache, um interethnische Angelegenheiten. Beim Beispiel des Medaillons im Prospekt der Bartholomäer Kirchenorgel hätten wir es allerdings, sollte unsere Vermutung zutreffen, mit dem seltenen Exempel einer innersächsischen Spurenverwischung zu tun.
Ein Anachronismus?
In neueren Zeiten kann jedoch m.E. von Spannungen zwischen den beiden Kronstädter evangelischen Kirchengemeinden A.B. – Honterusgemeinde und Bartholomae – nicht mehr die Rede sein, eher von friedlicher Koexistenz. Ich habe allerdings Freunde und Bekannte, die mir gegenüber gelegentlich die Meinung geäußert haben, dass heutzutage die Existenz zweier der gleichen evangelischen Glaubensgemeinschaft A.B. angehörenden Kirchengemeinden in der gleichen Stadt einen Anachronismus darstellt, angesichts des Fakts, dass beide Kirchengemeinden in den vergangenen Jahrzehnten, als Folge der massiven Auswanderung unserer siebenbürgisch-sächsischen Landsleute, zahlenmäßig empfindlich geschrumpft sind. Als die Evangelische Kirchengemeinde Bartholomae-Kronstadt 1863 ihre Eigenständigkeit erlangte, zählte sie ca. 1800 Seelen. Heute sind es unter 200. Bei der Honterusgemeinde liegen ähnliche Proportionen vor: heute unter 1000, in der Zwischenkriegszeit, im Jahr 1929, über 9200 Seelen.
Zur Frage, ob wir es hier, angesichts des Vorhandenseins zweier evangelischer Kirchengemeinden A.B. in Kronstadt, tatsächlich mit einem Anachronismus zu tun haben, will ich mich an dieser Stelle nicht äußern, sondern bloß feststellen, dass die beiden Kirchengemeinden, von denen hier die Rede ist, meiner Meinung nach in den etwas mehr als drei Jahrzehnten, die seit dem Sturz der kommunistischen Diktatur in Rumänien im Dezember 1989 verstrichen sind, unterschiedliche Entwicklungen mitgemacht haben. In der Honterusgemeinde gab es viele Neuerungen, die für ältere Semester, zu denen ich mich auch zählen muss, gewöhnungsbedürftig sind. In der Kirchengemeinde Bartholomae – das ist mein persönlicher Eindruck – ging man in dieser Zeit mit den in Jahrhunderten gewachsenen volkskirchlichen Traditionen sorgfältiger, pfleglicher um, wobei trotzdem eine Öffnung stattgefunden hat, worüber die Art und Weise, wie hier die Bartholomäusfeste seit der Wende von 1989 gefeiert werden, ein beredtes Zeugnis ablegt. Diese Entwicklungen – das kann ich wohl sagen, ohne mich der Gefahr der Exkommunikation auszusetzen -, diese Entwicklungen hier in Bartholomae genießen meine volle Sympathie.
Zu den Beziehungen zwischen Innerer Stadt und Bartholomae möchte ich nun einiges aus meinem persönlichen Erfahrungsschatz mitteilen. Für uns Kinder und Jugendliche, die zur Honterusgemeinde gehörten, war Bartholomae in den 1950er, 1960er Jahren in doppelter Hinsicht äußerst attraktiv. Einerseits galt unser intensives Interesse in den Sommermonaten dem schönen Strandbad in der unteren Langgasse, das bekanntlich bis zur kommunistischen Enteignung Eigentum der hiesigen evangelischen Kirchengemeinde gewesen ist. Dass ich dieses Interesse damals voll geteilt habe, dokumentiert z.B. ein Diplom, das mir im Jahr 1960, damals war ich 12 Jahre alt, für den 3. Platz bei einem Schwimmwettbewerb im Bartholomäer Strandbad überreicht wurde. Andrerseits hatten wir im Lyzeum Schulfreundinnen und Schulfreunde, die in Bartholomae zu Hause waren. Uns Buben interessierten natürlich die von uns umschwärmten Mädchen. Hier will ich nicht ins Detail gehen, sondern nur zwei zu Bartholomae gehörende Straßen erwähnen, die ich damals gut kennengelernt habe: die hinter dem Strandbad gelegene Ioan-Bogdan-Straße, die zeitweilig, in der Zwischenkriegszeit, den Namen des Hermannstädter Königsrichters und Sachsengrafen Albert Huet geführt hat, und die etwas näher an der Inneren Stadt gelegene Kreuzgasse, heute Nicopole-Straße.
Ziemlich früh bekamen wir auch mit, dass die Innerstädter von Mexiko sprachen, wenn sie Bartholomae meinten, und dass sie die Bartholomäer als „Mexikaner“ bezeichneten, was diese, heißt es, nicht gern hörten. Es gibt wohl zwei Erklärungen für diesen Scherz- und Spottnamen: eine hat mit der Sprachwissenschaft, die zweite quasi mit der Weltgeschichte zu tun. Die philologische Erklärungsvariante finden wir bereits in dem 1925 unter dem Titel „Kronstadt“ erstmals erschienenen Buch von Heinrich Zillich, einer Liebeserklärung des heute nicht unumstrittenen Schriftstellers an seine Geburtsstadt. Als er auf die Langgasse zu sprechen kommt, heißt es hier: „Das ist eine Straße mit Bauern, die sonntags noch blaue sächsische Kirchenröcke tragen und im Stadtjargon Mexikaner genannt werden. So ein Mexikaner ist nur im weiteren Sinne Kronstädter, seine Mundart, geschmückt mit unendlich vielen X, beweist, dass es mit ihm eine eigene Bewandtnis hat. Will er mitteilen, dass seine Großmutter einen gar großen Geist habe, so sagt er: ‚Dĕ Gruxĕn hut ĕn gor gruxĕn Gixt.“
Texte im Bartholomäer Dialekt
In den 1980er Jahren veröffentlichte die Kronstädter deutsche Wochenschrift „Karpatenrundschau“ auf ihrer Kulturseite in unregelmäßigen Abständen eine „Vill Sprochen än der Wält“ betitelte Rubrik mit Texten im siebenbürgisch-sächsischen Dialekt. Meistens waren es aus der Feder von Mundartautoren stammende Gelegenheitsgedichte. In der letzten Ausgabe des Jahres 1988 (Nr. 52 vom 30.12.1988) erschienen in dieser Rubrik Texte im Bartholomäer Dialekt, die ein gewisser Nicolae Popa im November 1988 aufgezeichnet hatte. Popas Gewährsleute waren Rosa Roth, die ihm eine Ortssage, „Zwinj Breder“ (Zwei Brüder), über das Erbauen der „Bartelmigser Kirch“, also der Bartholomäer Kirche, mitgeteilt hatte, und Erhard Wächter, der einen anekdotenhaften Text, „Nast Oksergewinlichet“ (Nichts Außergewöhnliches) zum Besten gegeben hatte. Aus diesem Text zitiere ich einen einzigen Satz, der die philologische Mexikaner-These zweifellos untermauert: „Gruksen, der Uks huët mech gestuksen!“ (Großmutter, der Ochs hat mich gestoßen!)
Wie gesagt, diese Texte im Bartholomäer sächsischen Dialekt wurden 1988 von Nicolae Popa aufgezeichnet, der damals, in den 1980er Jahren, immer wieder in der „Karpatenrundschau“ mit Artikeln zu heimatkundlichen Themen aufgewartet hat. Wer war dieser Nicolae Popa? Für die, die ihn kannten, als er ein Kind war und mit ihm zusammen die Bartholomäer deutsche Volksschule bis zur 8. Klasse besucht haben, war er der Klaus Popa, und unter diesem Namen ist er nach seiner Auswanderung nach Deutschland als Autor wichtiger Veröffentlichungen vor allem zur neueren Geschichte der Siebenbürger Sachsen hervorgetreten. Klaus Popa erblickte 1951 in Kronstadt als Sohn eines rumänischen Offiziers und einer deutschen Mutter mit dem Mädchennamen Eitel das Licht der Welt. Die Familie wohnte in einem Haus in der Mittelgasse, also in Bartholomae. Von der Ausbildung her war Klaus Popa Philologe. Er hatte in Klausenburg Anglistik und Germanistik studiert und übte zunächst den Beruf eines Gymnasiallehrers in Kronstadt aus. Nach der Wende von 1989 wanderte er nach Deutschland aus. Zu seinen wichtigen Veröffentlichungen gehört die mehr als 800 Seiten umfassende Dokumentation über den politischen Nachlass von Hans Otto Roth, dem wohl bedeutendsten rumäniendeutschen Politiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erschienen im Jahr 2003 unter dem Titel „Die Rumäniendeutschen zwischen Demokratie und Diktatur“. Eine wichtige Informationsquelle über die Geschichte der deutschen Minderheiten Südosteuropas während des Nationalsozialismus ist das von ihm erarbeitete, online verfügbare „Völkische Lexikon Südosteuropa“, das eindrucksvolle Ergebnis intensiver Beschäftigung mit diesem delikaten Thema. Als Historiker war Klaus Popa nicht unumstritten. Er verstarb am 13. März 2021 in Bestwig (Nordrhein-Westfalen), wie aus einem kurzen, nicht gezeichneten Nachruf in der „Siebenbürgischen Zeitung“ vom 17. Januar 2022 zu erfahren war.
Eine zweite Erklärung
Wie angedeutet, gibt es auch eine zweite Erklärung dafür, dass Bartholomae als Mexiko und die Bartholomäer liebevoll als Mexikaner bezeichnet werden. Thomas Şindilariu erwähnte sie ebenfalls in seiner Festrede vom Jahr 2013, doch ist sie im Volksmund sicherlich seit viel längerer Zeit im Umlauf. Ich sagte, dass diese zweite Erklärung quasi mit der Weltgeschichte zu tun hat. Wieso? Just damals, als die Bartholomäer zu Beginn der 1860er Jahre „nach schwerem Kampfe“, wie es in der Inschrift hinter der Orgel heißt, ihre kirchliche Unabhängigkeit erkämpft hatten, fanden im entfernten Mexiko aufsehenerregende Ereignisse statt, über die damals sicherlich auch die „Kronstädter Zeitung“ laufend berichtet hat. Nach Beendigung eines Bürgerkrieges verkündete der damalige mexikanische Präsident Benito Juarez eine zweijährige Suspendierung der Schuldenzahlungen ans Ausland. Dies veranlasste ab dem Jahr 1861 eine militärische Intervention Frankreichs in Mexiko und 1864 die Einsetzung einer Marionettenregierung mit Erzherzog Maximilian von Habsburg als Kaiser von Mexiko. Diese von Napoleon III. angeordnete militärische Intervention in Mexiko endete bekanntlich mit einem Fiasko. Die Franzosen mussten 1866 aus Mexiko abziehen, Kaiser Maximilian I., ein jüngerer Bruder des Habsburg-Kaisers Franz Joseph I., wurde 1867 standrechtlich erschossen, wobei die Exekution von Benito Juarez persönlich überwacht wurde. Zweifellos blieben diese dramatischen Geschehnisse im entfernten Mexiko in der „Kronstädter Zeitung“ nicht unerwähnt, was deren Leser höchstwahrscheinlich veranlasste, eine Parallele zwischen Mexiko und Bartholomae herzustellen, die beide mit großem Einsatz für ihre Unabhängigkeit gekämpft hatten: die einen gegen die französische Invasion, die anderen gegen die sie angeblich bevormundende Kronstädter evangelische Stadtpfarrgemeinde, wobei der aufopferungsvolle Kampf in beiden Fällen erfolgreich war. Ich muss sagen, dass mir die „weltgeschichtliche“ Erklärung dafür, dass man die Bartholomäer als Mexikaner bezeichnet, zumindest ebenso plausibel erscheint wie die sprachwissenschaftlich-dialektologische. Und das schon seit Jahrzehnten. Zu den Karl-May-Büchern, die in meinem Elternhaus vorhanden waren, gehörte auch ein ziemlich zerfleddertes Exemplar des Romans „Benito Juarez“, das ich in meiner Kindheit sicherlich nicht nur einmal gelesen habe. Daher habe ich mich nie darüber gewundert, dass man Mexiko sagte und Bartholomae meinte. Weniger klar ist mir, warum man das Gebiet hier in Bartholomae jenseits der Bahnlinie als Marokko bezeichnet. Vielleicht gibt es dafür ebenfalls eine weltgeschichtliche Erklärung. Um aber hinter dieses Mexiko-Kapitel einen Punkt zu setzen: Sollte ich für diesen Festvortrag eine Literaturliste, eine Bibliographie zusammenstellen müssen, so darf Karl Mays Roman „Benito Juarez“ nicht vergessen werden.
Zu Beginn meiner Rede hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass die Bartholomäer evangelische Kirchengemeinde nach der politischen Wende von 1989 einerseits bestrebt war, die volkskirchlichen Traditionen trotz schmerzlichen, der massiven Auswanderung zuzuschreibenden Seelenverlusts im Rahmen des Möglichen weiterzuführen, dass man aber andererseits keineswegs von einer Abkapselung sprechen, sondern eher eine erfreuliche Öffnung beobachten kann. Gemeinschaft wird hier groß geschrieben und in verschiedentlichen Formen gepflegt. Die Gottesdienste finden hier weiterhin jeden Sonntag statt, was bei kleineren Kirchengemeinden im Rahmen unserer Landeskirche heutzutage nicht mehr selbstverständlich ist. Außerdem gibt es hier in Bartholomae eine Reihe regelmäßiger Gemeinschaftsveranstaltungen, die gern in Anspruch genommen werden, etwa die Seniorennachmittage oder die Männerabende, wo jede bzw. jeder willkommen ist, egal ob sie oder er hier Kirchensteuer bezahlt oder nicht. Von Öffnung zeugt zweifelsfrei auch die Art und Weise, wie hier seit etwa 30 Jahren das Bartholomäusfest – das einzige Kirchweihfest im Rahmen unserer Evangelischen Landeskirche, das die Reformation überdauert hat – gefeiert wird. Bevor ich diesen Aspekt genauer beleuchten will, sei zunächst daran erinnert, wie die Bartholomäusfeste in der Vergangenheit gefeiert wurden. In dem Buch „Das sächsische Burzenland“, im Jahr 1898 anlässlich der Feier von 400 Jahren seit der Geburt unseres Reformators Johannes Honterus herausgegeben, finden wir dazu (S. 21 f.) folgende aufschlussreiche Angaben: „An jedem Sonntag nach Bartholomä (24. August) führte vor dem Jahre 1863, in dem die Bartholomäer Gemeinde eine selbständige Pfarre geworden ist, zur Erinnerung daran, daß die Bartholomäer Kirche einst die alte städtische Pfarrkirche war, ein Sechsgespann aus der Altstadt den Stadtpfarrer von Kronstadt in die altehrwürdige Kirche; dort hielt er im Hauptgottesdienst des Tages die Predigt und empfing darauf die Ehrengabe der Gemeinde, ein Goldstück und frisches Backwerk aus Korn, das in diesem Jahre gewachsen war.“ Ein ganz besonderes Bartholomäusfest war jenes aus dem Jahr 1924. In Anwesenheit von Bischof Friedrich Teutsch wurden 700 Jahre seit dem Bestehen der Bartholomäer Kirche gefeiert, und damals wurde auch die vom Architekten Karl Scheiner in Form eines Flügelaltars geschaffene Gedenktafel für die 38 im Ersten Weltkrieg gefallenen Bartholomäer Gemeindemitglieder im südlichen Kreuzarm der Kirche eingeweiht. Wenn es stimmt, dass sich im Jahr 1924 sieben Jahrhunderte seit dem Bestehen der Bartholomäer Kirche erfüllt haben, so kann in zwei Jahren, 2024, deren 800-jährige Existenz gefeiert werden.
Schon immer was Besonderes
Ob und wie das Bartholomäusfest in den kommunistischen Jahrzehnten begangen wurde, ist mir nicht bekannt. Aber 1989, im letzten Jahr der kommunistischen Diktatur, fiel hier der Beschluss, dem hauseigenen Kirchweihfest wieder größere Bedeutung beizumessen. Seit 1992, also seit 30 Jahren, wird das Bartholomäusfest in der Form gefeiert, die wir seither schätzen und lieben gelernt haben: als offenes Begegnungsfest mit übergemeindlichem Charakter. In den Jahren vor meiner 2007 erfolgten Pensionierung, als ich noch als Journalist tätig war, habe ich mehrmals für die Zeitung über die Bartholomäusfeste berichten müssen, was mir nicht schwergefallen ist und was ich gern getan habe. In diesen Artikeln, die ich kürzlich wiedergelesen habe, hielt ich z.B. fest, dass das Stadtviertel Bartholomae, genauer: die hiesige evangelische Kirche samt Kirchhof am Tag des Bartholomäusfestes der Mittelpunkt des sächsischen Burzenlandes ist. Damit meinte ich, dass diese Bartholomäusfeste nicht nur von den Bartholomäern und den anderen Kronstädtern, sondern auch von Landsleuten aus anderen Burzenländer Gemeinden mitgefeiert wurden und werden. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich das jährlich abgehaltene Bartholomäusfest zu einem der wichtigsten Gemeinschaftsfeste der Burzenländer Sachsen, vielleicht zum wichtigsten dieser Feste, entwickelt, und dafür sollten wir der Bartholomäer Kirchengemeinde und deren Verantwortungsträgern dankbar sein. Schön wäre es, sollte dieses gastfreundliche Angebot der Bartholomäer Kirchengemeinde in Zukunft in vermehrtem Maße angenommen werden und damit weiterhin seinen Beitrag erbringen zur Festigung des Gemeinschaftsbewusstseins einer spezifischen Burzenländer sächsischen Identität als eigenständiger Spielart oder Ausformung der kollektiven siebenbürgisch-sächsischen Identität. Unser schönes Burzenland mit seiner stolzen Geschichte, den stolzen Leistungen unserer Vorfahren würde das durchaus verdienen. Erinnert sei daran, dass das Burzenland innerhalb des sächsischen Siedlungsgebietes in Siebenbürgen, nicht bloß aufgrund der spezifischen historischen Entwicklungen, schon immer als was Besonderes wahrgenommen wurde. Als Bischof Georg Daniel Teutsch – der, dessen Name auf der „Unabhängigkeitserklärung“ hinter der Orgel vom Jahr 1863 in seiner damaligen Eigenschaft als Rektor der Bergschule in Schäßburg genannt wird - in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Berichte an das Landeskonsistorium über die 18 Jahre dauernde Gesamtkirchenvisitation der Evangelischen Kirche A.B. in Siebenbürgen zwischen den Jahren 1870 und 1888 verfasste, notierte er über die Burzenländer Gemeinden: „Nicht in schmalen Talsohlen, am verheerenden Graben, an rutschigen Berglehnen, wie so viele im Lande sind sie erbaut: in der weiten raumvollen Ebene, in breiten Strichen, mit geraden geräumigen Gassen, meist am hellen wasserreichen Bache, den die starke Menschenhand in das feste Bett gefasst und mit geordneten Baumreihen umgeben hat, sind sie angelegt, ursprünglich schon männerstark, nahe aneinander, um schnell sich die Hand zu reichen und, die Tore des Reiches schirmend, unter dem Schutz ihrer Burgen dem einbrechenden Feind die dort in das Land führenden Pässe zu verstopfen. Mit ihren nach Umfang und Bauart immer eindrucksvollen, wohlerhaltenen Kirchenburgen, den gerade gepflasterten Gassen, den stattlichen Rathäusern und den bisweilen zu stattlichen Gasthäusern modernster Art, den würdigen Schulgebäuden, dem in Haus und Hof so oft zutage tretenden Wohlstand, den die trefflichen Straßen, die Nähe der Stadt mit ihrem Absatzgebiet, der Verkehr mit den Donauländern für Fleiß und Umsicht so vielfach zu fördern geeignet sind, mit ihrer kleidsamen, namentlich unter den Männern wohlerhaltenen Volkstracht, gewähren diese Gemeinden, die fast alle über ein bedeutendes öffentliches Vermögen verfügen, in ihrem gesamten Wesen, in ihrer äußeren Erscheinung, in ihrem inneren Leben ein Bild, auf dem das Auge nur mit lebhaftester Teilnahme ruhen kann. Dabei tritt Eines sofort als besondere Eigentümlichkeit ihrer Entwicklung bezeichnend hervor: die gesellschaftliche Schichtung ist dort eine andere, als sonst in den sächsischen Gemeinden. Während in diesen in der Regel neben dem Pfarrer nur die bäuerliche Klasse steht, hat sich im Burzenland aus der Bauerngemeinde in den zahlreichen Lehrern, Predigern, Ärzten, Beamten und namentlich in den Notären ein Kreis überbäuerlicher Bildung entwickelt, dessen Glieder, auch durch Wohlstand oft begünstigt, doch im Volke wurzeln, an seiner Entwicklung tiefen Anteil nehmen, mit guten Kenntnissen ausgestattet, ungemein bedeutungsvolle Faktoren jenes Lebens sind. Ich habe darunter höchst ehrenwerte, für Volk, Schule und Kirche sehr warm fühlende Männer gefunden, die als Kuratoren und Presbyter eine vorzügliche Tätigkeit entfalteten.“
Ein wichtiges Gemeinschaftsfest
Dieser sehr positiven Einschätzung des sächsischen Burzenlands kann man keinen Lokalpatriotismus unterstellen – Georg Daniel Teutsch war kein Burzenländer Sachse. Als Lokalpatrioten könnte man hingegen August Jekelius bezeichnen, den Autor der im Jahr 1904 erschienenen, viele statistische Daten enthaltenden kommunalwirtschaftlichen Studie „Vermögen und Haushalt der Burzenländer sächs.[ischen] Gemeinden“ , einer rund 70 Seiten umfassenden Broschüre, aus deren Einleitung folgende Passage zitiert sei: „Das kleine Fleckchen ‚deutscher Erde‘, das in dem südöstlichen Winkel der Karpathen (…) an die Füße hoher Gebirge sich anschmiegt (…), das sächsische Burzenland, faßt dreizehn Markt- und Dorfgemeinden in sich, die mächtig emporblühend durch wirtschaftliche Tüchtigkeit, ernstes und erfolgreiches Streben nach kultureller Vervollkommnung und kräftiges Zusammenwirken, in ihrer Gesamtheit wohl die reichste, stolzeste und schönste Gruppe von ländlichen Gemeinwesen des ganzen Sachsenlandes bilden.“ (S. 3) Das klingt vielleicht nach Eigenlob, findet aber seine Bestätigung und Begründung in den Ausführungen des Verfassers zur Vermögenslage und den öffentlichen Finanzen der Burzenländer sächsischen Gemeinden.
Sicherlich, unser heutiges sächsisches Burzenland ist nicht mehr das, wovon bei Georg Daniel Teutsch oder August Jekelius die Rede ist. Unsere Burzenländer sächsische Gemeinschaft ist in den vergangenen Jahrzehnten, aus bekannten Gründen, die hier nicht mehr genannt sein sollen, zahlenmäßig geschrumpft und spielt auch wirtschaftlich nicht mehr die bestimmende Rolle, wie das bis zum Anbruch der unseligen kommunistischen Epoche der Fall gewesen ist. Trotzdem sind wir noch da, trotzdem dürfen wir stolz sein darauf, was unsere Vorfahren hier im Burzenland geleistet und geschaffen und uns als Erbe hinterlassen haben – ein Erbe, das uns in die Pflicht nimmt und für das wir einstehen müssen. Die Bartholomäer evangelische Kirchengemeinde geht da, meine ich, mit gutem Beispiel voran, und das Bartholomäusfest ist meiner Meinung nach eine passende Gelegenheit, uns daran zu erinnern, dass wir als Burzenländer Sachsen eine Gemeinschaft mit einer spezifischen kollektiven Identität bilden, dass es wichtig ist, dieses Gemeinschaftsbewusstsein zu festigen und zu stärken, was ein Grundvoraussetzung dafür ist, dass wir den Pflichten und Aufgaben, die sich uns als Gemeinschaft stellen, gewachsen sind und ihnen entsprechen können. Und nicht zuletzt kann das Bewusstsein, dieser Gemeinschaft anzugehören, uns persönlich bereichern, weil es, sofern vorhanden, dem Leben jedes Einzelnen unter uns vermehrten Sinn verleihen kann. Wir haben folglich gute Gründe, der Bartholomäer evangelischen Kirchengemeinde für die erneute Ausrichtung dieses schönen und wichtigen Burzenländer Gemeinschaftsfestes trotz komplizierter Zeiten, in denen wir leben und die etwa mit den Stichworten Coronavirus-Pandemie, Krieg in der Ukraine oder beängstigende Inflation markiert werden können, herzlich zu danken. Ich wünsche Ihnen allen, trotz des zu spürenden Gegenwindes, viel Spaß und Freude bei der Wahrnehmung dieses großzügigen, schönen Angebots und danke für die keineswegs selbstverständliche Geduld, mit der Sie mir zugehört haben.
Eine zahlenmäßig große Festgemeinde beteiligte sich am Gottesdienst, mit dem das diesjährige Bartholomäusfest traditionsgemäß eingeleitet wurde. Foto: Peter Simon
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
E-Mail:kronstadt@adz.ro
Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
Aktuell
Karpatenrundschau
09.05.25
Dr. Carmen Elisabeth Puchianu als Zeichnerin
[mehr...]
09.05.25
Die Tournee des Filmes „Anul Nou care n-a fost”
[mehr...]