Der Apotheker mit dem Giftgas
01.04.21
Zu: „Farmacistul de la Auschwitz“ von Patricia Posner, RAO Distributie, Bukarest, 2020, ISBN 978-606-006-388-9, 304 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Fotos, 44 Lei
Ein Thema, das nie verjährt
„Farmacistul de la Auschwitz“ („Der Apotheker von Auschwitz“) ist 2020 im Rao-Verlag erschienen. Es ist die rumänische Übersetzung von „The Pharmacist from Auschwitz“ von Patricia Posner, ein Buch das es auch auf die US-Bestsellerliste schaffte. Der Untertitel lautet „The Untold Story“ („Die unerzählte Geschichte“). Eine Übersetzung in Deutsch gibt es, laut Internet-Recherche, noch nicht. Der Erfolg des Buches ist zu begrüßen denn Holocaust darf nie vergessen oder auch nicht verharmlost werden. Für ein Verdrängen dieser Katastrophe in der Geschichte der Menschheit gibt es keine Argumente. Immer wieder flackert, leider auch in Rumänien, der Antisemitismus auf. Die Enkelgeneration muss wissen, wie es zu einem beispiellosen Völkermord kommen konnte, wie ein Konzentrationslager als Vernichtungslager organisiert wurde. Einwände wie „Das ist längst Geschichte!“ oder „Wann hören diese Diskussionen endlich einmal auf?“ sind inakzeptabel. Dass dabei Grausames geschildert werden muss, könnte manche zum Abwenden von diesem Thema bewegen. Andererseits sind die Horror-Bilder der Leichenberge und die Schilderung der Szenen vor und während der Vergasung oder der Leiden der unschuldigen Zivilbevölkerung im KZ-Alltag Mahnungen die nicht ignoriert werden können.
Patricia Posner, 1951 in einer jüdischen Familie in London geboren, heute mit Wohnsitz in Miami, schildert in einem Interview, dass sie auf der Suche nach einem Verlag, der ihr Buch in England veröffentlichen sollte, auch die Meinung hören musste, das Holocaust-Thema sei nun nicht gerade im Trend. Posner selber ist Journalistin und half bisher vor allem ihrem Mann, Gerald Posner, in der Recherche von Büchern mit Bezug auf brisante historische Themen (z.B. der Kennedy-Mord, die Bankiers des Vatikan, Josef Mengele, Kinder von Nazi-Größen). 1986, bei einer Begegnung zusammen mit ihrem Mann in einem New-Yorker Restaurant, mit Rolf, dem einzigen Sohn des wegen seiner Experimenten mit Zwillingen berüchtigten Nazi-Arztes Josef Mengele, fiel, eher beiläufig, der Name Victor Capesius – der Apotheker von Auschwitz. Patricia Posner horchte auf: „Wie? Gab es einen Apotheker im KZ?“ dürfte sie sich gefragt haben und entschloss sich, dieser Geschichte nachzugehen.
Zwei Bücher mit fast gleichem Titel
Der Apotheker ist der Siebenbürger Sachse Victor Capesius (1907 – 1985). So unbekannt ist sein Name allerdings nicht gewesen, wie er der Journalistin Posner erschien. 1965 in Folge eines Aufsehen erregenden Marathon-Prozesses (bekannt als Auschwitz-Prozess) in Frankfurt a.M. gegen 22 ehemaligen Nazi-Schergen aus dem KZ Auschwitz wurde Victor Capesius zu neun Jahren Haft wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord verurteilt. Und wenn sein Name vielleicht inzwischen in eine gewisse Vergessenheit geraten sein dürfte, so sorgte Dieter Schlesak (1934 – 2019) fürs Gegenteil durch sein Dokumentar-Roman „Capesius, der Auschwitzapotheker“, erschienen 2006 im Dietz-Verlag. Das Buch wurde in mehreren Sprachen übersetzt; 2008 erschien im Polirom-Verlag die rumänische Übersetzung „Capesius, farmacistul de la Auschwitz“. Schlesak‘s Buch ist in vielen Hinsichten bemerkenswert. Capesius war mit den Eltern des aus Schäßburg stammenden Schriftstellers gut bekannt. Schlesak selber hatte ihn als Kind kennengelernt. Jahrzehnte später, 1978, besuchte der bereits 1969 in die BRD ausgewanderte Schlesak den Rentner Capesius in dessen Wohnung in Göppingen. Die langen ausführlichen Interviews mit Capesius und dessen Frau Friederike, zusammen mit Zeugenaussagen, Prozessakten und eine gründliche Dokumentation zu Auschwitz wurden von Schlesak in einer fast drei Jahrzehnte langen Arbeit literarisch in seinem Dokumentar-Roman verarbeitet. Die einzige fiktive Gestalt ist Adam – bezeichnet als „der letzte Jude aus Schäßburg“, ein Auschwitz-Überlebender. Aber gerade das Zurückgreifen auf diese fiktive Gestalt sollte für Diskussionen sorgen, da laut manchen Meinungen, es deshalb in diesem Werk nicht eindeutig genug hervorging, was historisch belegt sei und was als erfunden gelten könnte. Posner selber zitiert Schlesak in ihrem Buch sehr oft (rund hundert Mal) mit Zitaten und Daten aus den Capesius-Interviews, jedes mal mit Quellenangabe in einer Fußnote. Die Interview-Anfragen der Autorin an die zwei in Deutschland lebenden Capesius-Töchter wurden von diesen abgewiesen.
Kein Zeichen der Reue
Das Buch deckt die Lebensgeschichte von Capesius auf der von einem gut situierten Vertreter der deutschen Pharmagruppe Bayer in Rumänien (Teil des IG-Farben-Konzerns) der sich zum Beispiel eine teure Wohnung in Bukarest leisten konnte, zur Waffen-SS eingezogen wird und ab Februar 1944 seinen Dienst als Apotheker im KZ Auschwitz antritt. Dort avanciert er bald zum SS-Sturmbannführer und Hauptapotheker des Lagers der unter anderem auch an dem „Rampendienst“ zusammen mit Mengele und einem anderen Siebenbürger Sachse (der aus Zeiden stammende SS-Arzt Fritz Klein) beteiligt ist. Das setzte die sogenannte „Selektion“ voraus – das Aussuchen arbeitsfähiger Männer und Frauen aus den Menschenkolonnen die direkt von den Viehwaggons zur Vergasung geschickt wurden. Dass Capesius dabei auch auf Leute stieß, die er von früher aus Siebenbürgen kannte, kann als einmalig in der Holocaust-Geschichte bezeichnet werden. Ungarische Juden erkannten den Dr. Capesius, wunderten sich, ihn im Lager anzutreffen, machten sich aber vielleicht auch Hoffnungen auf eine bessere Behandlung. Capesius zeigte ihnen die kalte Schulter. Noch verwerflicher ist der durch Zeugenaussagen belegte Raub von Zahngold und anderen Wertsachen der Häftlinge der Capesius vorgeworfen wird – ein „Kapital“ für seinen späteren Wohlstand in den 1950-er Jahren als er eine Apotheke in Göppingen und einen Kosmetikladen im benachbarten Reutlingen betrieb. Capesius selber fand bis zu seinem Tod kein Wort der Reue und betrachtete sich eher als „Opfer“ widriger Zeitumstände. Während des Prozesses legte er ein bizarres Verhalten an den Tag: ständig mit aufgesetzter Sonnenbrille verfolgte er das Prozessgeschehen von der Angeklagtenbank und brach gelegentlich in ein alle verstörendes Lachen aus.
Patricia Posner hat aber die „unerzählte Geschichte des Victor Capesius“ (ein reißerischer Untertitel der so nicht stimmt und wohl aus Marketinggründen gewählt wurde) genutzt, um auch andere wichtige Sachverhalte zu beleuchten. Es geht um die Verflechtung von IG-Farben mit dem Nazi-Regime. Der Konzern nutzte die Häftlinge skrupellos als billige Arbeitskraft aus und lieferte indirekt auch das Giftgas Zyklon-B für dessen Lagerung und Verteilung der Apotheker Capesius zuständig war. Die Verfasserin schildert auch die langwierige, hartnäckige Ermittlungsarbeit des hessischen Generalstaatsanwaltes und Nazi-Jägers Fritz Bauer, dem es zu verdanken ist, dass der Holocaust öffentlich in der bundesdeutschen Gesellschaft thematisiert wurde, zu einem Zeitpunkt, wo man sich über die Nazi-Zeit lieber in Schweigen hüllen wollte.
Das Buch über Capesius ist, jenseits eines gewissen Kompromisses für Sensationelles, lesenswert denn es verdeutlicht, wie tief der Abgrund ist in den sich diejenige treiben lassen, die, aus welchen Gründen auch immer, die Achtung vor ihren Mitmenschen verwerfen und für die die Menschenwürde nichtszählt.. Um so mehr wenn es sich, wie beim Siebenbürger Sachsen Capesius, um einen Apotheker handelt, der sich , wie auch die Ärzte, für die Gesundheit der Menschen einsetzen sollte.
Ralf Sudrigian
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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