Der Entenchor (IV)
23.07.09
WALTHER GOTTFRIED SEIDNER
Über die tierische Gefolgschaft
Als der Großvater meines Kurators nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aus italienischer Gefangenschaft nicht mehr heimkehrte, wurde der Urlétzu als Dorfname vergessen.
Soweit die Geschichte der Bogumilen und die Erzählung meines Kurators. Er war ein Mann, weise im Sinne der Bibel. Wenn ich mir beispielsweise mehrerlei vorgenommen hatte, meinte er: „Nur eins; Herr Pfarrer bitte, nur eins!“. Kamen während der Sitzungen Unstimmigkeiten auf, mahnte er an: „Morgen sind wir um einen Tag gescheiter“. Wenn ich ihn hin und wieder nach seinem Befinden fragte, antwortete er meist: „Wir sind soweit gekommen, dass wir das Gute aus dem Schlechten ausklauben müssen“. Und als Bischof D. Albert Klein die Gemeinde besuchte, sagte er in seiner Begrüßungsrede: „Wir sind soweit gekommnen, dass unsere Fassreifen zerspringen und die Dauben auseinander fallen“. Damit meinte er das Wegstreben unseres sächsischen Kirchenvolks.
Und noch etwas. Kurator Michael Roth vermochte sehr wohl, wenn er zu mir kam, mehrerlei Anliegen vorzubringen. Er brauchte immer als vorbereitende Einleitung eine Geschichte. Auch jetzt musste ich feststellen: alles Bisherige war Einleitung. Selbst das, was er noch zu erzählen gedachte. Insoweit hielt er sich nicht an den Grundsatz: Nur eins, Herr Pfarrer bitte! -
„Wissen Sie, woher ich meine Lebenskraft nehme?“ fragte er unvermittelt – und er antwortete im selben Atemzug: „Von der Bodenwiese!“
Was wollte er wohl damit sagen?!
„Auf der Bodenwiese hab ich den Tod mit Augen gesehen“, fuhr er fort, „und das kam so“. - Und wieder folgte eine Geschichte. Es handelte sich kurz um folgendes:
Während des Zweiten Weltkriegs wurde er in der Nähe von Klagenfurt als Zimmermann an Orten eingesetzt, wo Baracken gebaut werden sollten. So auch auf der Bodenwiese, die sich über einen bergigen Abhang, durch ein Tal hinzog.
Eines Tages musste die Einheit zu einer Waffenübung ausrücken. In der Baracke blieb ein Wachposten und mit ihm der Hauptmann der Einheit zurück. Auf dem Bau hantierten fünf Zimmerleute. Am Vormittag, gegen elf Uhr, treten zwei Partisanen in die Baracke. Den Hauptmann erschießen sie auf der Stelle. Den Wachposten überraschen sie beim Einfetten seiner Waffe. Ihn und die fünf Zimmerleute treiben sie vom Bau herab und stellen sie in einer Reihe auf. Zu erst wird der Posten, dann jeweils ein anderer erschossen. Als zweiter fällt August Schmaranza, der Polier. „Dann“ – so erzählte Michael Roth – „nahm ich die Füße in die Hände und stürmte den Berg hinan. Oberhalb der Baracke erstreckte sich ein Waldgebiet. Dorthin führten mich meine Sprünge. Die Pistolenkugeln hörte ich zwar rechts und links an mir vorbei pfeifen; aber ich hatte mit meinem Atem genug zu schaffen. Im Wald angekommen, musste ich zuerst meine Hosen abtasten. In solchen Augenblicken, da der Tod hinter einem her ist, kann man nicht wissen, was der schwache Leib mit einem anstellt. Zu meiner Beruhigung stellte ich fest, dass alles in Ordnung war. Ich redete mit den Bäumen und Büschen, weil mir einstweilen die Schüsse, später die Stille in den Ohren dröhnten. Als die Einheit zurückkam und mich nicht unter den Toten vorfand, wurden meinetwegen sieben Schüsse abgefeuert. Erst nach dem siebenten Schuss trat ich aus dem Wald. – Und dann ging es ans Grabschaufeln. Wie oft hab ich dem Kameraden August Schmaranza gesagt: ‚Du August, die Bodenwiese wird dich noch den Kopf kosten’. Das sagte ich bloß so, weil er jede Art von Kopfbedeckung ablehnte. Selbst im Winter. Und auf dem Bau herrschte doch Zugluft“.
Michael Roth schöpfte tief Atem. Er weilte in Gedanken auf der Bodenwiese. Dann fuhr er fort: „Vor einer guten Stunde hab ich diese Geschichte einem sekuristischen Major erzählt. Jawohl. Kaum war ich vom Friedhof wieder zu Hause angelangt, als ein fein gekleideter Herr bei uns eintritt und mit mir - und nur mit mir zu sprechen wünschte. Ich schickte Frau und Tochter und Enkelsohn nach draußen und fragte nach seinem Begehr. Da stellt er sich ganz kurz vor: Er sei der Major Sowieso und er habe einen Auftrag für mich. - Und stellen Sie sich vor, er wollte aus mir einen Spitzer machen. Jawohl“.
Eigentlich sollte es Spitzel heißen. Allem Anschein nach dachte mein Kirchenältester an „Ohrenspitzer“ oder an „spitzkriegen“. Der „sekuristische Aufpasser“ verlangte von ihm nicht mehr und nicht weniger, als dass er alle Nummernschilder der Autos, die vor dem Pfarrhaus geparkt hatten, aufschreiben sollte. Er selbst wolle die Zettel von Zeit zu Zeit abholen. Kurator Roth hielt wieder inne, dann fuhr er fort:
„Ich fragte den Major: ‚Glauben Sie an Gott?’ und er antwortete: ‚Nein!’ Daraufhin ich: ‚Man merkt es’!! - ‚Woran merkt man es?’ fragte er zurück. ‚Es fehlen Ihnen drei Finger an der linken Hand!’. - ‚Ja, das ist ein Säuberungsunfall gewesen’. Und er erzählte mir, wie er auf der Offiziersschule seine Waffe gereinigt habe, wie sie versehentlich losgegangen war und wie sie ihm die drei Finger fortgerissen habe. ‚Hätten Sie an Gott geglaubt, hätten Sie das Pfeifen der Kugeln bloß gehört, so wie es mir ergangen ist auf der Bodenwiese, in der Nähe von Klagenfurt“. Und ich erzählte ihm die Geschichte genau so, wie ich sie Ihnen vorhin geschildert habe. Dann erklärte ich ihm: ‚Und weil ich den Tod mit eigenen Augen gesehen habe, lasse ich mich für keinen Spitzerdienst einspannen. Zwei Autonummern kann ich Ihnen jetzt schon verraten: die Autonummern meiner beiden Söhne. Wenn es regnet parken sie vor dem Pfarrhaus, weil der Weg durch die Gemeinde morastig ist und sie hier ums Eck nicht wenden können“.
Er, der Zimmermann, erteilte dem mächtigen Sicherheitsmann eine Abfuhr mit der lockeren Begründung: er habe dem Tod ins Auge gesehen – und das entbinde ihn von jeglicher Liebedienerei. Er war nicht stolz auf dieses Heldentum der Absage. Ein Partisan - das wäre etwas anderes gewesen als ein Sicherheitsbeamter. So wählte er eben die Flucht nach vorn. Er bedauerte indes jenen Menschen, der drei Finger verloren hatte - und nun den abgestellten Autos nachspionieren müsse, bloß weil er nicht an Gott glaubte. Wie ganz anderes ist hingegen sein eigenes Leben verlaufen! Er habe damals, auf der Bodenwiese ein und denselben Gedanken oft und oft in ein Gebet gekleidet: „Ich soll nach Hause gehen dürfen, um bloß über den Zaun zu spähen, ob Frau und Kinder gesund und wohlbehalten sind. - Dann wäre ich bereit gewesen, auf der Stelle zu sterben“. Und dann fügte er hinzu: „Und sehen Sie, Gott der Herr hat mir fast dreißig Jahre hinzugemessen. Damit ging die Unterredung zu Ende.
(Fortsetzung folgt)
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