Der Wirklichkeit mitten ins Gesicht blicken (I)
31.10.25
Internationales Dokumentarfilmfestival „Astra“ in Hermannstadt
Wie in jedem Jahr haben die Filme, die bei der diesjährigen Auflage des Astra Film Festivals zu sehen waren, sehr ernste und aktuelle Themen behandelt: Krieg, Diktaturen, Neofaschismus, das Leben online, wie auch Maskulinität, Elternschaft, Frau-Sein oder Mutter-Sein. Zwischen dem 17. und 26. Oktober wurden in Hermannstadt die besten Dokumentationen des lezten Jahres einem zahlreichen Publikum vorgestellt. Viele Filme waren beeindruckend, manche traurig, bei manchen konnte man gut lachen. Das Publikum kam aus dem ganzen Land und konnte mit den Filmteams sowie zahlreichen Fachleuten bei Diskussionsrunden ins Gespräch kommen. Noch bis zum 9. November können 34 Filme aus der Auswahl des Festivals auch online gesehen werden.
Total gegen den Krieg
„Mr. Nobody gegen Putin“ sorgte für Grausen bei Zuschauern. Man wünschte wirklich, der bei Sundance und weiteren internationalen Festivals nominierte bzw preisgekrönte Film wäre eine Fiktion. David Borensteins Dokumentation ist aus dem Videomaterial des jungen russischen Schul-Videografen Pavel „Pascha“ Talankin geschnitten, der in einer Schule der Kleinstadt Karabach in der Uralgegend ausserschulische Aktivitäten organisiert und filmt. Er ist sehr beliebt, lacht viel mit seinen Schülern und richtet in seinem kleinen Büro einen Treffpunkt für seine Schützlinge ein, wo sie ihn sogar nach dem Schulabschluss besuchen und gemeinsam feiern. Doch nachdem Putins Regime 2022 die Ukraine angreift, ändert sich die Atmosphäre in der Schule. Die Lehrer sind gezwungen, die Kinder patriotische Lieder und propagandistischen Inhalt zu unterrichten. Anfangs stottern manche Lehrer über Begriffe wie „Entnazifizierung und Entmilitarisierung“ der Ukraine, manche kichern sogar darüber. Doch mit der Zeit lernen auch die Allerjüngsten, dass dieses das Ziel der „Spezialoperation“ Russlands sei. Sie lernen auch, dass Kiew eine russische Stadt sei und viele andere Unwahrheiten. Ein besonders patriotischer Lehrer trichtert ihnen ein, dass man Russland wie eine Mutter zu lieben und es daher vor dem Feind zu verteidigen hat. Die Gesichter der Kinder, die jeden Tag das und Ähnliches hören, sind immer ernster.
Es gibt täglich Fahnenaufmärsche und Wagner-Söldner (Mitglieder einer russischen paramilitärischen Gruppe) drücken Schülern und Schülerinnen im Festsaal Handgranaten und Gewehre in die Hand.
Die Lehrer gewinnen den Krieg
Das alles muss „Pasha” filmen und auf eine offizielle Regierungsplattform hochladen, damit die Partei sich vergewissert, dass Schüler und Lehrer den neuen „Lehrplan” auch einhalten. Manche Lehrer machen aus Überzeugung mit, doch merken andere entsetzt, wie das Bildungssystem verfällt und damit auch die Leistungen der Schüler. Viele Kinder sind in Gedanken an ihre Väter und älteren Brüder an der Front. Selbst „Pashas” Schützlinge, blutjunge Absolventen müssen in den Krieg.In einem Fernsehbeitrag sagt Putin, dass nicht die Soldaten den Kampf gewinnen, sondern die Lehrer.„Pasha” versucht, durch unterschiedlichste Methoden die Kriegspropaganda in der Schule zu boykottieren, er reicht sogar seine Kündigung ein. Doch erfährt ein ausländischer Filmemacher von seinem uneingeschrenkten Zugang mit der Kamera in die Schule und überzeugt ihn davon, den Umbau des russischen Schulwesens weiterhin filmisch aufzunehmen. Mit großen Risiken filmt er die Kriegswirklichkeit in Schule und Stadt weiterhin. Sie zeigt gewiss die Realität des ganzen Landes, das in Angst und Lügen lebt. Nach zwei Jahren flieht der Filmemacher mit dem Material ins Ausland und ermöglicht der Welt einen mutigen Blick auf die Militarisierung Russlands. Ein grausamer aber leider realer Anblick! Da fragt man sich als Zuschauer erneut: Wofür sterben diese jungen Männer? Wofür sterben Soldaten auf beiden Seiten der Front? Und wofür sterben so viele Zivilisten? Wofür weinen Mütter, Schwestern, Hinterbliebene überall? Für die Pläne der Machthaber natürlich.
Die Lebenden
Diese Fragen beantwortet auch Anca Hirtes „Cei Vii“ (Die Lebenden/ 2025). Obwohl ihre Dokumentation offensichtlich total gegen den Krieg plädiert, steht am Ende zusammenfassend auf dem Riesenbildschirm kurz und knapp, dass der Krieg ein Konflikt einiger Männer oder Gruppen ist, die politische oder wirtschaftliche Interessen verfolgen.Im Saal schnäuzen sich Zuschauer. Die Regisseurin fügte hinzu: sollen sie doch selbst gegeneinander kämpfen, nichtetwa junge Männer gegeneinander aufhetzen! Ihr Film ist sehr nüchtern und gleichzeitig poetisch. Er zeigt drei rumänische Berufssoldaten in separaten Interviews, die Mitte der 2000er Jahre für ein halbes Jahr in einem Kriegseinsatz in Afghanistan waren. In der Wüste, im Panzer auf der Suche nach den Taliban, haben sie gesprengt, geschossen und ermordet. Bis sie selbst auf eine Bombe gefahren sind. Die Narben an ihren Körpern sind fast nichts im Vergleich zu den psychischen Folgeschäden. Die Filmemacherin erforscht, was es bedeutet, mit der Erfahrung des Kriegs zu leben. Wie sie es verarbeitet haben - oder nicht - ihren Kameraden und Freund Dragos Alexandrescu an der Front verloren zu haben und das mit eigenen Augen gesehen zu haben.Er wurde bei einem Angriff schwer verletzt, kam nach wenigen Tagen ums Leben. Sie erzählen über die eigene Wahrnehmung - man sieht sie in Nah- oder Halbnahaufnahme, im Hintergrund weht ein weißes Tuch im hellen Sonnenlicht, wie eine Friedensfahne, schöne Schatten verschönern das Bild. Oder man sieht das Portrait des Interviewpartners in Nahaufnahme und im Hintergrund, wie eine blasse Erinnerung, einen Panzer in der Wüste. Der Blick in die Ferne. Kein Wort.
Diese Männer reden wenig. Immer wieder schießen Tränen in ihre Augen. Sie erzählen von Bomben, Explosionen, Munition. Sie versuchen stark zu sein.
Alexandrescus Witwe, Bianca, erzählt unter Tränen, wie der Verlust für sie als junge Mutter war. Als Frau, die ihre Jugendliebe, den Vater ihrer Kinder verloren hat. Wie der Verlust für sie auch heute noch, nach all den Jahren ist. Sie weint den ganzen Film über. Sie weint wohl, seit sie ihn verloren hat.„Er ist in einem Krieg gefallen, der nicht einmal seiner war“, sagt sie gleich am Anfang des Films.
Der Bruder des Verstorbenen, ebenfalls Berufssoldat, der mit Dragos damals in Afghanistan war und bei der Filmvorführung anwesend war, sagte, dass kein Verwandter einen solchen Verlust je verarbeitet.
Der Dokumentarfilm als Instrument
Genau wie die Soldaten in „Mr. Nobody gegen Putin“ fallen werden, ist auch Dragos Alexandrescu für einen Zweck gefallen, der nicht seiner war. Die jungen Absolventen in „Pashas” Schule leben nicht ihre Träume, ebenso wenig die Schüler aus Karabash, die statt des Einmaleins zu lernen, über Granaten erfahren. Sie werden zu Opfern diabolischer Methoden mächtiger Männer, die eigene Interessen verfolgen. Solche Filme zu machen wie diese, ist sehr wichtig. Sie einem breiten Publikum zu zeigen ist essentiell. Damit die Zuschauer immer wieder sehen, wie leicht es ist, die Leute gegeneinander anzustiften und Böses anzurichten. Der Dokumentarfilm ist ein hervorragendes Instrument dazu und Festspiele sind immer ein passender Anlass über brennende Themen zu sprechen.Aktuelle Themen, über die beim Astra Film Festival diskutiert wurde, sind auf deren Facebook-Seite zu sehen.
Noch bis zum 9. November sind 34 Filme aus der diesjährigen Auswahl des AFF auf dem Gebiet Rumäniens online zu sehen, darunter auch manche Gewinner der Edition. Informationen dazu und Tickets sind unter online.astrafilm.ro zu finden.
Laura Capatana Juller
Fortsetzung folgt
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