Der Zucker
03.03.11
Von LÁSZLÓ NAGY
Der Zucker war in den Jahren nach dem Krieg ein seltener Schatz.
An einem Wintermorgen des Jahres 1951 wird der 101. Vikar, der zum Morgengottesdienst eintrifft, von seinem Hauptpfarrer Pál Csia mit folgenden Worten empfangen: „Bruder, nach dem Gottesdienst sollst du nach Hause gehen, dich gut warm ankleiden und Winterstiefel anziehen. Nachmittag um vier Uhr wird in der Torgasse, beim ehemaligen Hessheimer-Laden, Zucker ausgeteilt.“
Um neun Uhr morgens gliedern sich Pál Csiha und sein Vikar in die Schlange ein, wo bereits eine beträchtliche Menschenmenge auf dem Gehsteig anstand. Wenig später hat sich ihnen der evangelische Stadtpfarrer, Dr. Konrad Möckel, zugesellt, der mitsamt seiner Frau, einer Ärztin, vorzüglich Ungarisch redete. Beide hatten ihre Studien an ungarischen Universitäten abgeschlossen. Dr. Möckel verfügte auch über ein Lehrerdiplom in Erdkunde und Geologie.
Während des Wartens wurde der Penelope-Faden, der Faden des Erzählens, weitergesponnen. Konrad Möckel rief die Erinnerung wach an seine Wahl zum Kronstädter Stadtpfarrer. Er erinnerte sich gerührt an die Zeit, als er bei der Festlichkeit seiner Einsetzung in das Kronstädter Stadtpfarramt, das in der sächsisch-evangelischen Kirche in Siebenbürgen eine sehr hohe Stellung einnahm, in einer Kutsche mit Vierergespann vom Bahnhof entlang der Torgasse (Purzengasse – Anm. d. Red.) zum Pfarrhaus gefahren wurde, und wie ihm Hessheimer, der steinreiche evangelische Kaufmann, mit einem riesigen Lebensmittelpaket entgegenkam, in dem Zucker, Mehl, Reis, Kaffee und Hermannstädter Salami zehnkiloweise steckten; dazu Kognak, Likör und feiner Wein, zehnliterweise.
„Und jetzt, bitte schön“, meinte er resigniert, „ in meinem Alter stehe ich viele Stunden da auf derselben Straße, vor demselben Geschäft, um ein Kilo Zucker zu ergattern. Solch paradoxe Umstände bereitet uns das Leben.“
Während der leisen Abfolge ihres Gesprächs, erregte ihre Aufmerksamkeit eine sehr alte sächsische Frau; sie hatte mit Nachdruck um Aufnahme in die Schlange gebeten. „Bitte, erlauben Sie mir, zu Ihnen in die Reihe eintreten zu dürfen. Ich bin schon über achtzig, es ist bitterkalt, und ich möchte auch manchmal einen heißen Tee trinken.“
Die neuen Siedler, die halbwegs bereits Städtertracht, halbwegs die Volkstracht entlegener Landstriche trugen, trieben ihren Schabernack mit ihr: „Wozu braucht Ihr den Tee? Wir sind ja da, weil wir den Zucker brauchen! Lauft heim und sterbt hurtig!“
Pál Csia erblasste, Konrad Möckel errötete vor Aufregung. Wortlos ergriff der Vikar die alte sächsische Frau und stellte sie vor sich in die Reihe.
Am Nachmittag, um einiges nach vier Uhr, nach siebenstündigem Warten, wurde mit der Austeilung des Zuckers begonnen. Die Menschenmasse trottete langsam in die Nähe des goldwerten Zuckers nach vorne. Pál Csia konnte ein Kilo erlangen, ebenso die alte sächsische Frau; doch weder der nächststehende Vikar noch der Stadtpfarrer, der hinter ihm stand, bekamen etwas davon. Solch paradoxe Umstände bereitet uns das Leben.
Die alte sächsische Frau drückte die Tüte ans Herz und eilte blau gefroren mit ihrem Schatz davon. Möckel und der Vikar schüttelten etwas verbittert ihre erstarrten Glieder. Pál Csia wendete sich einigemale hin und her, dann überreichte er eine Tüte mit einem Teil des Zuckerschatzes an den sächsischen Pfarrer und eine gleiche Tüte an seinen Vikar. Dr. Möckel weigerte sich, das Geschenk anzunehmen; doch zum Schluss hat sich die sanfte Gewalt des Pál Csia durchgesetzt. Mit einem brüderlichen Lebewohl nahmen sie Abschied.
Zwischen Dr. Möckel, dem hervorragenden lutherischen Systematiker, und dem jungen reformierten Vikar startete auf dem „Magnetfeld“ der Dogmatik seit dieser Begegnung eine unvergleichliche Freundschaft.
Aber weil Dr. Möckel in seinen Predigten mit allem Ernst um die Eheschließung von sächsisch-evangelischen Jungen ausschließlich mit sächsisch-evangelischen Mädchen geworben hatte, wurde er unter der Anklage des Chauvinismus verhaftet und zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Sein Sohn hat zum Glück in Deutschland gelebt und konnte seinen Vater aus der traurigen Gefangenschaft um ein hohes Lösegeld freikaufen.
Als die beiden reformierten Geistlichen wieder allein waren und mit steifen Beinen nach Hause liefen, wobei ihnen der Vorgeschmack des süßen Tees beinahe den Gaumen zu kitzeln begann, strich der ältere Pfarrer seinen Bart, dann sprach er: „Junger Bruder, geh eilends, und vollführe an meiner Stelle die Vesper; ich aber werde mich bemühen, diese Zuckertüte dem kleinen Kind, das an Gelbsucht erkrankt ist, zu überbringen.“ Dem 101. Vikar flossen die Tränen. Ohne ein Wort zu sagen, überreichte er seine eigene Portion dem Prinzipal; dann nahm er’s eilig, denn es wurde schon geläutet.
Vermerk: Pál Csia (1885–1978) war Pfarrer und Dechant in der reformiert-missionarischen Gemeinde in Kronstadt. Sein Vikar, László Nagy, (1926–1998) hat in Klausenburg seine Theologiestudien absolviert. Nach seiner Vikariatszeit hat er als Gemeindepfarrer gedient, später wurde er Oberbibliothekar am Theologischen Institut und Professor der Vergleichenden Religionskunde, Dogmatik und Ethik an der Reformierten Pädagogischen Fakultät.
Aus: László Nagy: „…és vidámítsd meg az én szívemet. Anekdoták, életképek“, Seiten 124–127. („… und erfreue mein Herz. Anekdoten, Lebensbilder“).
Aus dem Ungarischen übersetzt von Béla Balogh, Klausenburg
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