Die Anschlusserklärung an Großrumänien (II)
06.12.18
Die Sachsen Siebenbürgens zwischen November 1918 und Januar 1919 / von Dr. Harald Roth
Daher fasste der Nationalrat „nach reiflichen Überlegungen und langen Beratungen im politischen Ausschuss und nach zweimaligen Vollsitzungen“ am 30. Dezember 1918 den Beschluss, den Anschluss des sächsischen Volkes an Großrumänien zu erklären und hierzu eine sächsische Nationalversammlung, bestehend aus Nationalrat und erweitertem Zentralausschuss, einzuberufen. Sie wurde am 2. Januar für den 8. Januar 1919 nach Mediasch einberufen.
Der Tagungsort Mediasch wurde gewählt wegen der zentralen Lage der Stadt und weil der Mediascher sächsische Kreisausschuss bereits seit längerem drängte, den Zentralausschuss dorthin und nicht wieder in die „Haupt- und Hermannstadt“ einzuberufen. Verfasser der zu verabschiedenden Anschlusserklärung war der Reichstagsabgeordnete Rudolf Schuller; in einer vorausgehenden Sitzung des sogenannten „Fünfer-Ausschusses“, dem neben Schuller noch Rudolf Brandsch und Arthur Polony (dem Schriftleiter der Kronstädter Zeitung) sowie Adolf Schullerus und Hans Otto Roth angehörten, wurde die Erklärung noch einmal überarbeitet und unter anderem eine Wiederholung der Berufung auf die Karlsburger Beschlüsse eingeschoben.
Während der Versammlung schrieb der zweite Sekretär des Nationalrats, Fritz Klein, mit, dessen Notizen in Gabelsberger Kurzschrift erst vor wenigen Jahren weitgehend entschlüsselt werden konnten. Der Eröffnung der Versammlung durch den Präsidenten Schullerus folgte eine ausführliche Darlegung der Sachlage durch Brandsch, etwas knapper durch Schuller. Es folgte eine intensive Debatte, bei der wohlüberlegte Argumente vorgebracht wurden, allgemeiner Tenor: Der einzige Ausweg der Sachsen sei eine Anschlusserklärung und so viel von den Versprechungen der Rumänen realisieren wie möglich; die Schuld an der aktuellen Lage wurde einhellig der ungarischen chauvinistischen Politik gegeben. Keinem Redner fiel die Entscheidung leicht, Begeisterung war nirgends festzustellen. Es gab zunächst lediglich eine klare Gegenstimme, die vor der Anschlusserklärung Garantien einforderte. Hans Otto Roth wies gegen Schluss der Debatte auf Chancen und Aufgaben hin: „Es handelt sich um Gestaltung unseres Schicksals. Vertrauen auf innere Kraft. Aber bedeutender Kraftzuschuss: neue Aufgaben, eine gewaltige kulturelle Aufgabe. Das Schwabentum muss durch uns erzogen werden, die Vertreter der Bessarabier und die Vertreter der Bukowina-Deutschen. Das sind neue und in vieler Beziehung frohe Aufgaben. Neuer Blick gegen Osten. So erwächst gerade für uns Sachsen eine neue, freudige Aufgabe. Entscheidend, dass wir Kraftreservoir verteidigen; das können wir nur durch den Anschluss.“
Der Entschließungstext wurde im Plenum gelesen, offenbar drei Mal, es kam zur Diskussion einzelner Passagen, zu Gegenanträgen und zu wenigen Änderungen. Der Beschlussvorgang selbst ist nicht im Protokoll festgehalten, jedenfalls hält Schullerus im Schlusswort nach achtstündiger Sitzung fest, dass der Beschluss einstimmig gefasst worden sei: „Wir stehen am Ende der Verhandlungen. Dank allen denen, die trotz der Ungunst der Zeit zur Versammlung gekommen sind, weil dadurch hier die Verhandlungen auf das hohe Niveau gehoben nicht nur geistig, sondern durch die Teilnahme an den Verhandlungen die ganze Stimmung eine andere geworden ist. Aber vor allem eine Entscheidung von ganz furchtbarer Verantwortung. Wehe uns, wenn wir, die wir nun durch die Wahl die Verantwortlichen geworden sind, diese Sache durchzuführen haben. Wir tun das auf unsere eigene Verantwortung und wissen nicht, ob das Gros des sächsischen Volkes damit einverstanden ist. Nicht der einzelne allein trägt die Verantwortung, sondern das gesamte Volk durch seine berufenen Vertreter hier. Nach eingehender verantwortungsvoller Erwägung der Gründe einstimmig dafür entschlossen, weil wir es tun müssen. Dies müssen wir wagen.“
Das Dokument wurde unter dem Titel „An unser Volk!“ umgehend in den sächsischen Zeitungen veröffentlicht und gelangte als Flugblatt, unterzeichnet von den Mitgliedern des Fünfer-Ausschusses, in Umlauf. Noch vom 8. Januar datiert auch ein Aufruf des Nationalratssekretärs an die Kreisausschüsse, „in sämtlichen sächsischen Gemeinden ihres Bezirkes den Beschluss zu verbreiten und in volkstümlicher Weise die sächsische Bevölkerung über die Bedeutung dieser für das Schicksal unseres Volkes grundlegenden Entschließung aufzuklären“.
Die entscheidenden Passagen der Anschlusserklärung fassen die Diskussionen zusammen:
„…spricht das sächsische Volk in Siebenbürgen, indem es sich auf den Boden des Selbstbestimmungsrechts der Völker stellt, seinen Anschluss an das Königreich Rumänien aus und entbietet dem rumänischen Volke seine brüderlichen Grüße und herzlichen Glückwünsche zur Erfüllung seiner nationalen Ideale. Das sächsische Volk Siebenbürgens trägt damit nicht nur der weltgeschichtlichen Entwicklung Rechnung, sondern auch dem inneren Rechte des rumänischen Volkes auf Vereinigung und Staatenbildung und spricht die zuversichtliche Erwartung aus, dass sich das rumänische Volk und der rumänische Staat, dem das sächsische Volk seine altererbte Tüchtigkeit zur Verfügung stellt, ihm gegenüber immer durch vornehme und gerechte Gesinnung leiten lassen wird. Das sächsische Volk, das Jahrhunderte hindurch eine verfassungsmäßige Selbstverwaltung besaß, die ihm entgegen feierlicher und gesetzlicher Zusicherung widerrechtlich entzogen wurde, erwartet ferner, dass es ihm niemals unmöglich gemacht werde, sich als eine ihres Volkstums bewusste nationale und politische Einheit in aller Zukunft zu behaupten und zu entwickeln, in der Voraussetzung, dass der neue Staat ihm alles gerne bieten und geben wird, was es als seine Lebensbedingung ansieht.
Eine Gewähr hierfür sieht es in den Karlsburger Beschlüssen der rumänischen Nationalversammlung, in denen ausgesprochen ist, dass jedes Volk sich in seiner Sprache und durch seine Söhne leiten, unterrichten, verwalten, rechtsprechen und in Gesetzgebung und Regierung entsprechende Vertretung erhalten soll, die für Kirche und Schule Autonomie gewährleisten und überhaupt eine gerechte und wohlwollende Berücksichtigung aller freiheitlichen, nationalen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte der Völker und damit auch unseres Volkes verbürgen.“
Entscheidend war nun, die „Basis“ aufzuklären, denn die führenden sächsischen Köpfe, die „Eliten“, wie man heute sagen würde, hatten ganz andere Einblicke in die Sachzwänge und politischen Spielräume als dies der breiten Bevölkerung möglich war. Diese Unsicherheit der Volksvertreter ist leicht zu verstehen, wenn in Rechnung gestellt wird, dass zwischen der sächsischen und rumänischen Durchschnittsbevölkerung sowohl in den Städten wie auch besonders auf dem Lande große Unterscheide in kultureller, sozialer und ökonomischer Hinsicht bestanden. Die meisten Sachsen werden ihre Schwierigkeiten damit gehabt haben, die Rumänen von einem Tag auf den anderen als völlig gleichberechtigt, mehr noch, als Angehörige der staatstragenden und daher bestimmenden Nation anzusehen. Um den aus dieser Einstellung drohenden Animositäten entgegenzuwirken, ermahnte der Nationalrat die Kreisausschüsse wiederholt zu vorbeugenden Maßnahmen. Die Politiker selbst veröffentlichten nicht nur zahlreiche erklärende Beiträge, sondern zogen auch durchs Land, um die Hintergründe für die Anschlusserklärung zu vermitteln und über die bestehenden Chancen bewusst zu machen.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage der Freiwilligkeit des sächsischen Anschlusses. Hermann Plattner schrieb im Tageblatt: „Der Beschluss des sächsischen Volkes ist aus freier Entscheidung erfolgt. Wir haben damit höchstes Vertrauen dem rumänischen Staat und Volk gegenüber bekundet.“ Von ungarischer Seite wurde demgegenüber behauptet, der sächsische Anschluss sei unter Zwang erklärt worden. „Graf Karolyi solle gesagt haben, die Sachsen seien mit Bajonetten zum Anschluss gezwungen worden“ hielt nicht nur der Kronstädter Bürgermeister Schnell fest. Weiter schrieb er, „dass wir immer wieder von amerikanischen und englischen Vertrauensmännern aufgesucht und befragt wurden, ob der Anschluss in der Tat ganz freiwillig erfolgt sei oder doch ein gewisser Zwang auf uns ausgeübt worden sei.“ Seine Antwort war eindeutig: „Keine äußere Gewalt habe bei unserem Anschluss mitgewirkt, einzig und allein die Macht der Verhältnisse. Wir sähen in dem Zusammenschluss der Rumänen einen natürlichen Vorgang, dem wir volle Rechnung tragen wollen.“
Die sächsische Anschlusserklärung wurde von den Rumänen in Siebenbürgen wie im Altreich positiv aufgenommen. Am 10. Januar überbrachte eine Delegation dem Regierungsrat die Entschließung. Bei der Übergabe hob Nationalratspräsident Schullerus das Vertrauen hervor, das die Sachsen mit ihrer Entscheidung dem rumänischen Staat und Volk gegenüber bekundeten, und bat darum, dass den Sachsen Gelegenheit gegeben werde, die Erklärung der Bukarester Regierung und dem König zu übergeben. Die Antwortrede Iuliu Manius, die wohl so ziemlich alles enthielt, was die Sachsen jener Tage hören wollten – Anerkennung der sächsischen Loyalität, der kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung, Zusicherung der Achtung und Verteidigung ihrer Rechte und ihrer nationalen Eigenart –, das kann zwar nachträglich als Schönrednerei abgetan werden, doch sollte die beruhigende Wirkung, die seine Worte in jenem Moment auf die Sachsen ausgeübt haben mögen, nicht verkannt werden, zumal sie auf Derartiges von den Ungarn während der letzten Jahrzehnte vergebens gewartet hatten.
In den rumänischen Zeitungen beiderseits der Karpaten wurde die sächsische Entscheidung vom 8. Januar erwartungsgemäß mit großer Zustimmung aufgenommen. Mehrere Blätter widmeten dem Ereignis Leitartikel und druckten die Erklärung vollinhaltlich ab. Diese Zeitungen sahen im sächsischen Entschluss in erster Linie eine Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Vereinigung aller Rumänen. Über die Erwartungen der Sachsen – zu denen in Altrumänien unwissenderweise oftmals auch die Schwaben des Banats gezählt wurden – als nationale Minderheit oder über die dem rumänischen Staat für seine Minderheiten nun zukommende Verantwortung wurde in aller Regel nur selten ein Wort verloren.
Die Überreichung der sächsischen Entschließung an König und Regierung in Bukarest fand Ende Januar 1919 statt. Eine siebenköpfige Delegation brach am 27. Januar in einem Sonderwagen der Bahn nach Bukarest auf, wo sie bei der Ankunft von mehreren Ministern der reichsrumänischen Regierung sowie von Vertretern der Bukarester Sachsen empfangen wurden. Die offizielle Zusammenkunft mit der Regierung fand am 29. Januar statt. In Vertretung des bei der Friedenskonferenz in Paris weilenden Ministerpräsidenten empfing dessen Stellvertreter und Außenminister die sächsische Delegation und sicherte dieser in seiner Ansprache wiederholt die Freiheit von Kirche und Schule und den ungehinderten Gebrauch der Muttersprache unter allen Umständen zu. Der Empfang beim König am darauffolgenden Tag soll von einem herzlichen Ton, wie die Berichte übereinstimmend feststellen, geprägt gewesen sein. Der König betonte dabei unter anderem, dass er den sächsischen „Besitzstand in Kultur und Wirtschaft mit aller Kraft fördern werde“. Die Bukarester Regierung ließ die sächsische Delegation mit Empfängen, einer Hoftafel, einem Cercle und einem Bankett recht aufwendig feiern.
Als eines der wichtigsten Ereignisse der Reise nach Bukarest bezeichnete Hans Otto Roth den Umstand, dass es der Delegation gelungen war, den besonderen Charakter der Sachsen und ihren Anspruch auf ein eigenes kulturelles und nationales Leben deutlich werden zu lassen. Die Abordnung konnte für die Zukunft wichtige Kontakte mit rumänischen Politikern, den Bukarester Sachsen und Bessarabiendeutschen anknüpfen. Die Reise ließ ferner erkennen, welche Bedeutung der sächsischen Entscheidung beigemessen wurde und welche Möglichkeiten sich den Sachsen boten. So Roth: „So steht denn Rumänien inmitten seiner slavischen Neider und gegenüber den niedergezwungenen Magyaren und muss sich auf der Friedenskonferenz im Kampfe all das erstreiten, worauf es glaubt, ein inneres Recht zu haben. Der Anschluss des sächsischen Volkes ist ihm in dieser Lage eine unschätzbare Hilfe.“
Abschließend sei noch ein kurzer Ausblick über die weitere Entwicklung bis November 1919 gegeben, als der vierte Sachsentag in Schäßburg über die Lage der Dinge beriet und ein neues „Volksprogramm“ verabschiedete. Während der kommenden Monate wurde das Anfang Januar überreichte Memorandum mit dem Regierungsrat diskutiert, wobei häufige personelle und örtliche Veränderungen genauso wie die politischen Entwicklungen den Fortgang erschwerten. Dabei wich die anfängliche Zuversicht allmählich einer Ernüchterung, wohl in dem Maße wie auch der Einfluss des Regierungsrats auf den Gang der Geschehnisse abnahm. Die bereits im Memorandum formulierten Forderungen und Erwartungen fanden, inzwischen von als unrealistisch erkannten Ansätzen bereinigt, Eingang in das Schäßburger Volksprogramm, dass für die kommenden vierzehn Jahre die Grundlage der sächsischen Politik werden sollte. Auch wenn der Streit um die Einlösung der Karlsburger Versprechen vom 1. Dezember 1918 die ganze Zwischenkriegszeit über anhalten sollte, so hatten die Sachsen und mit ihnen die Deutschen Rumäniens doch eine andere Position als vormals in Ungarn. Es wurde ihnen nicht nur meistens mit Respekt begegnet, sondern sie waren eine jener Sprachgruppen, die diesen vergrößerten Staat gewissermaßen mitgegründet hatten, sie waren schon seit Jahrhunderten im Land und konnten nicht wie Fremde, Dahergelaufene, eben wie „Eingeladene“ (hospites) behandelt werden, wie das noch selbst im dualistischen Ungarn oft der Fall war. Und ihre Zustimmung zum Anschluss an Rumänien verschaffte ihnen fortwährenden moralischen Vorteil, selbst wenn der Einsatz für ihre Rechte nicht immer von Erfolg gekrönt war. Diese kritischen Aspekte überdecken aber oft die enorme wirtschaftliche Entwicklung, die gerade sächsischen Unternehmen nun möglich war. Zumal Kronstadt und das Burzenland erlebten bald einen seit dem späten Mittelalter nicht dagewesenen Aufschwung – aber das wäre ein neues und gewiss für eine nähere Betrachtung lohnendes Kapitel.
(Schluss)
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