Die „Benzinvergiftung“ (I)
10.02.10
Eine LieBiss-Geschichte/ Von Walther Gottfried Seidner
Wenn die Schafscherer im Mai nach Lorzendorf kamen, hatten sie viel und gut zu scheren an den Schafen des Vaidemine. Eigentlich hieß er Michael Kainzel; aber die rumänischen Schafscherer aus den Bergen um Nassod fanden eine schrullige Eigenart an ihm und so gaben sie ihm den Zunamen Vaidemine, weil er auf jede Nachricht, ob gut, ob weniger gut, „vai de mine!“ zu sagen pflegte, „weh mir!“ Zunamen wurden in Lorzendorf sehr bald zu Dorfnamen, schon darum, weil es Viele des Namens Kainzel in der Gemeinde gab. Und so wurde der fleißige, wohlhabende Kainzel Misch mit dem Dorfnamen „der Kainzel, der Vaidemine“ bestimmt. Und das schon seit einer guten Weile.
Es gab welche, die wollten den Dorfnamen – ob rumänisch, sächsisch oder ungarisch - nicht gelten lassen; sie bekamen ihn aber nur zum Trotz täglich zu hören; andere stellten sich keineswegs dagegen; sie nahmen ihn „zur Seele“ und gingen mit ihm um wie mit einer Schicksalsfügung.
So auch der Kainzel Misch. Na ja.
Wie bei reichen Leuten gebräuchlich, hatte der Kainzel Misch eine einzige Tochter, die Minichi. Seit jeher üblich, nannte man im Nösnerland die Maria, wenn man sie verzärtelte, Mini oder Minichi. Und weil die Dorfnamen auch auf die Töchter übergingen, nannte man die Kainzel Minichi mit dem Dorfnamen „det Vai-de-Minichi“. Und das „reimte“ sich sogar, wie es im Sächsischen heißt, wenn die Vorstellungskraft durch Überraschungen herausfordert wird.
Nun war die Kainzel Minichi nicht nur hübsch, sie war auch nett und zuvorkommend – und bei ihren siebzehn Jahren zurückhaltend im Umgang und von unaufdringlicher Freundlichkeit. Am meisten bestach ihr sonniges Lachen. Sämtliche Burschen in ihrer näheren und weiteren Umgebung bemühten sich um ihre Gunst. Abend für Abend wurde sie vors Gassentor gepfiffen: bald vom Oldem Gyirko, bald vom Stierl Miértchi. Auch der Fabi Hanni hatte sein Glück versucht, doch blitzte er als erster ab, was ihn jedoch nicht entmutigte. Im Gegenteil. Wiewohl er um einen Kopf kleiner war als die andern beiden, ließ er sich von ihnen nicht abdrängen.
Neulich beim Marienball hat Minichi allerdings keinem der beiden „ernsten“ Bewerber den Vorrang eingeräumt. Das ließ nun wieder den Fabi Hanni hoffen. Die Hoffnung blieb jedoch unerfüllt. Und weil der junge Pfarrer Meder aus der Muttergemeinde Gerjeschthal ebenfalls auf dem Marienball zugegen war, meinten einige Nachbarinnen, der Pfarrer würde sich ebenfalls um die Minichi bemühen. Jedoch, er hatte bei seinem Einstand der Gemeinde Gerjeschthal und den Tochtergemeinden Lorzendorf, Eibisch und Jakobsthal feierlich erklärt, in seiner Heimatgemeinde warte seine Jugendfreundin auf ihn, der er schon seit sieben Jahren den Hof mache. Was aber keiner wusste: die Freundin hatte zwei Wochen, nachdem die sieben Jahre abgelaufen waren, den Freund des Pfarrers geheiratet. Ein gebranntes Kind geht nicht so schnell ein neues Abenteuer ein. Das ließ den jungen Pfarrer von vornherein ausscheiden. In seinen Augen, versteht sich. Und in den Augen der Kuratorin, der er sich eröffnete und die ihm dauernd vorhielt: „Heiraten Sie eine Nösnerin, würdiger Herr, dann kommen Sie nach Hause zu einer warmen Suppe und zu einer tugendsamen Frau Mutter.“
Würdiger Herr und tugendsame Frau Mutter – so weit ging damals die Ehrerbietung den Pfarrfamilien gegenüber.
Und Minichi? Sie sollte ihrem Dorfnamen sehr bald im wahrsten Sinne des Wortes Ehre machen, eine traurige Ehre. Sie wurde über Nacht zu einer Vai-de-mine, zu einer „Weh-mir“.
Es gibt Krankheiten, von denen noch niemand etwas gehört hat. Und eine solche Krankheit hatte Minichi über Nacht befallen. Es fing zögerlich an, setzte sich schleppend fort – und war nicht aufzuhalten: Ihr Augenlid ließ sich nach und nach herab über das linke Auge. Sie, die bis dahin so Begehrte, wurde von hinfort links liegen gelassen, gehänselt und mit Anzüglichkeiten aufgezogen wie: „Minichi, heb das linke Schalugatter (Rollladen) hoch!“ Oder: „Lass auch den andern Rollladen herunter!“
Selbst die drei Freier, die ihre Liebe schon zu etlichen Malen beteuert hatten, Gyirko, Miértchi und Hanni ließen von ihr ab. Und das kränkte sie. Und wie! Ihr helles Lachen verstummte. Aber auch ihre Eltern betrübte es, vor allem den Vater. Seit vergangenem Herbst war er zum Kirchenvater aufgestiegen. Was nützte der Minichi die schöne Tracht, was nützte ihr der Kirchgang, ihre einmalige Stimme, deren Nachhall vom Kirchengewölbe in dunkler Klangfülle zurückgeworfen wurde, wann immer sie in einen Choral einstimmte; was nützte das alles, wenn ihr linkes Augenlid immer tiefer über das Auge herab glitt. In der ersten Zeit musste sie das Gesicht wohl heben und das Haupt in den Nacken werfen, um auch mit dem linken Auge noch einiges zu erspähen. Als aber das Lid vollends das Auge bedeckte, begnügte sie sich mit dem halben Augenlicht.
Niemand konnte ahnen, wie es in ihrem Innern wirklich aussah.
Als am 10 August 1966 das Kirchweihfest gefeiert wurde, am Tag des Heiligen Laurentius, kamen die Sachsen in Scharen aus den umliegenden Gemeinden zu dieser Feier des Frohsinns und des Bekenntnisses zur Volkszugehörigkeit. Kein Hof, in den kein Gefährt Einzug gehalten hätte.
(Fortsetzung folgt)
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