Die „Benzinvergiftung“ (II)
18.02.10
Eine LieBiss-Geschichte / Walther Gottfried Seidner
Beim Kirchenvater Kainzel kehrten der Pfarrer und der Kurator von Gerjeschthal ein. Sie wurden mit ausgesuchter Freundlichkeit empfangen und die Frau Kirchenmutter wartete auf: sie schnellte zwischen Küche und „védeschtem Häos“ (Vorderstube) wie ein Weberschifflein hin und her. Minichi ging ihr zur Hand mit abgewendetem Gesicht. Sie wollte ihr Missgeschick vor den Blicken der Gäste verbergen.
Zum Kirchgang war Minichi dennoch zu bewegen. Wie hätte sie, die begabte Sängerin aus der Bank der Mägde fehlen sollen! Sie wollte indessen am Nachmittag nicht zum Dorfanger aufbrechen, mit den anderen Jugendlichen zum Tanz auszurücken. Sie, die ausgezeichnete Tänzerin, sie, die tanzende Tanne, wie sie von ihrem Taufpaten, dem Gyirkobácsi, dem Kurator von Gerjeschthal, genannt wurde, sie durfte nicht fehlen. Er war es auch, der sie überreden konnte, nach dem erlesenen Mittagessen, zum Dorfanger zu pilgern. Sie setzte sich jedoch zur Tainichinéna, der Schwester ihrer Mutter und schwieg. Sie ließ sich schließlich auch zum Tanz auffordern; aber es kamen bloß einige Burschen aus Eibisch und Jakobsthal, nicht zuletzt ihre sämtlichen Onkels und Vettern.
Und wie das Unerwartete nicht lange auf sich warten lässt, traf es auch diesmal eben ungerufen ein. Aber zum richtigen Zeitpunkt.
Familie Johrend hatte den Klausenburger Augenarzt Dr. Ion Aleman zur Lorzendorfer Kirmes eingeladen, er möge sich ein sächsisches Dorffest ansehen. Er kam mit Frau und Tochter, und er war höchst angetan von dem feierlichen Umgang mit herkömmlichem Brauchtum. Er, der noch vor dem Krieg in Breslau studiert hatte, redete ein akzentfreies Deutsch. Die Johrends waren schon darum stolz auf ihren Gast, weil er für seinen ärztlichen Dienst keine Extraeinnahme empfangen wollte. Die Einladung zur Kirmes nahm er jedoch an. Frau Johrend wurde am grauen Star operiert – und sie konnte allenfalls nicht nur gut sehen, sie konnte in der Kirche wieder ihre Lieblingspsalmen lesen und singen, wenn sie auch eine teure Brille tragen musste.
Und weil das Unerwartete auch ziemlich ungeduldig werden, das Auge des Fachmanns andererseits nicht getäuscht werden kann, ließ Dr. Aleman die Minichi zu sich rufen.
„Du Kind, Du musst ja nicht so tun, als könnte dir nicht geholfen werden. Du kommst in der nächsten Woche zu mir nach Klausenburg und ich kürze Dir das Augenlid auf das richtige Maß. Zweimal verbinden und du kannst nach Hause kommen. Hier ist meine Visitenkarte mit Adresse und Rufnummer.“
Der Familierat billigte den Vorschlag des Arztes auf der Stelle, vor allem, weil Frau Johrend der Minichi mit Nachdruck zuredete, den Schritt doch zu wagen. Es wurde auch ausgemacht, dass Minichi am folgenden Dienstag in der Klausenburger Augenklinik vorstellig werden solle.
Damit ging ein heißer Tag, ein Sonntag, ein Festtag, eine Kirmes wie kaum ein nordsiebenbürgisches Kirchweihfest zu Ende.
Dienstag in der Früh um 5 Uhr fuhren Minichi und ihre Mutter vom Lorzendorfer Bahnhof über Bethlen nach Klausenburg. Das Mietsauto vom Klausenburger Bahnhof brachte sie bis zur Augenklinik. Dr. Ion Aleman wartete schon. Ihm standen eine Assistentin und eine Krankenschwester zur Seite. Gemessen an der langen Zeit, die Minichi mit herabgelassenem Augenlid verbringen musste, war der Eingriff schnell geschehen und die Patientin verhielt sich tapfer; sie war diesmal keine „Weh-mir“.
Minichi wurde verbunden und im ersten Stock bei den Frauen untergebracht. Da lag sie nun mit einem verbundenen und einem freien Auge. Rechts und links von ihr lauter verbundene Augen. Unter den Blinden war sie, die Einäugige, die sprichwörtliche Königin. Darum half sie auch, wo sie nur konnte.
Und weil der Mittwoch so schön war wie der Kirmestag vor vier Tagen, ging sie in den Kurpark hinab und schlenderte sehr gemächlich über den Kies, denn sie durfte sich nicht anstrengen. Und so nahm sie Platz auf einer Bank. Ihr gegenüber saß ein junger Mann. Er war an beiden Augen verbunden. Minichi hätte gern gewusst, woran er operiert worden war, aber es schickte sich nicht für ein Mädchen, so drauflos zu fragen. Als der junge Mann spürte, dass die Sonne ihre Kraft immer mehr verlor, stand er auf und ging fast wie mit sicheren Schritten auf den Eingang zu. Dort tastete er sich nach innen. Dann stieg er die Treppen hoch bis zum ersten Stock. Minichi folgte ihm von ferne. Im ersten Stock angekommen, suchte er nach dem Treppenaufgang zum zweiten Stockwerk. Und er tastete sich an der Wand entlang.
„Wo willst du hin?“ fragt Minichi auf Rumänisch.
„In den zweiten Stock, zu den Männern. Ich hab die Orientierung verloren“.
„Deiner Aussprache nach bist du ein Sachse.“
„Ja, meine Heimatgemeinde ist Maidenbach bei Mediasch.“
„Und ich komme aus Lorzendorf bei Bistritz, also aus der entgegen gesetzten Richtung.“ Und ihr helles Lachen erfüllte den Gang und das Stiegenhaus.
„Hinter deiner rumänischen Aussprache hätte ich eine echte Rumänin vermutet, wiewohl du nur einen Satz gesprochen hast.“
„Bei uns spricht man gleich gut rumänisch wie sächsisch, das gilt sogar für die älteren Rumänen.“
„Und wie steht’s mit dem Deutschen?
„Bis zur vierten Klasse hatte ich eine deutsche Lehrerin. Von da an ging’s rumänisch weiter.“
(Fortsetzung folgt)
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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