Die Zeit der Wölfe
05.03.15
Als in der Gergeschdorfer Gegend noch Menschen angegriffen wurden
Jetzt, nach Jahrzehnten, erinnere ich mich an die Zeit als ich noch Schulkind in Gergeschdorf war. In manchem Winter gab es so viel Schnee, dass man meterhohe Schneewände hochschaufeln musste, über die man fast nicht hinwegsehen konnte. So war das auch beim Haus meiner Eltern, das Nachbarhaus zu unserer großen deutschen Schule.
Für die wilden Tiere war das eine Notzeit, in der sie nur schwer ihr Futter finden konnten. In mondhellen Nächten hörte man sehr deutlich das Heulen der Wölfe aus dem nahen großen Eichenwald. Im Februar sammelten sie sich zu Rudeln, es war auch ihre Paarungszeit (Ranzzeit). Mit dem Heulen suchten sie Kontakt zueinander und mancher Hund im Dorfe heulte mit. Alles klang so schaurig in die Nacht hinein. Sicher heulten die Wölfe manchmal auch vor Hunger. Es kam vor, dass ein Rudel Wölfe sogar Menschen angriff. Noch heute erinnere ich mich an manche solcher Wolfsgeschichten, die aber keine Märchen sind.
Eine junge Frau aus Weingartskirchen wollte auf Besuch nach Gergeschdorf kommen. Als sie den Weingartskirchner Wald verließ, wurde sie von einem Rudel Wölfe angegriffen. Nachher fand man nur die Absätze von ihren Schuhen und Kleiderfetzen. Ein anderes Mal begab sich ein Gendarm von Gergeschdorf nach Spring. Auch er musste durch den Wald. Sein Gewehr trug er auf der Schulter. Plötzlich sprang ihn von hinten, heulend, ein Wolf an. Gleichzeitig erschien ein anderer Wolf seitlich und griff ihn an. Der Gendarm war auf ein Rudel Wölfe gestoßen und hatte keine Zeit, sein Gewehr zu benützen. Nach Tagen fanden Leute im blutgetränkten Schnee nur noch das Gewehr und Kleidungsreste vor.
Damals war praktisch der Zug das einzige öffentliche Verkehrsmittel, um aus diesen Ortschaften nach Hermannstadt oder nach Mühlbach zu fahren. Die nächste Haltestelle von Gergeschdorf war Cunta. Der Weg bis nach Gergeschdorf führte durch Troschen und Spring bis unter den Wald. Dort stand ein kleines, einsames, schilfgedecktes Häuschen, in dem allein ein alter Mann wohnte. Er hatte zu Zöpfchen geflochtenes schneeweißes Haar. Seine Frau, von der es hieß, sie sei bildhübsch gewesen, war eines Tages spurlos verschwunden. Der Mann schwor, auf das Wiederkommen seiner Frau zu warten, selbst bis zu seinem Tod. Zusammen hatten sie aus Lehm und Holzgeflecht das kleine Häuschen mit einem Wohn-, einem Schlafzimmer und einem kleinen Vorratsraum errichtet. In der Nähe, beim Hang, gab es, in die Erde gegraben, noch einen kleinen Keller. Die Jahre vergingen; die Frau war aber für immer verschwunden.
Von Cunta bis Gergeschdorf sind es 14 km. Der Zug kam bereits in der Dunkelheit in Cunta an; und da musste man im Winter nachts oft durch kniehohen Schnee waten. Es war sehr gut, dass beim Häuschen des alten Mannes die Nacht über immer das Licht einer Petroleumlampe im Fenster zu sehen war. Es sollte den späten Wanderern zur Orientierung helfen.
Einmal, vor Jahrzehnten, im Februar musste ein Mann namens Mai diese Strecke zurücklegen, gerade zu einer Zeit, wo die Wölfe die ganze Gegend verunsicherten. Als der Mann sich dem Wald näherte und um ihn herum außer dem nahen schwarzen Wald, alles nur weiß war, erblickte er in der Ferne das Licht am Fenster. Plötzlich bemerkte er aber schwarze Schatten um sich herum. Im selben Augenblick erklang ein durchdringendes Geheul – die Wölfe waren da. Sie verfolgten Mai mit Schritt und Tritt und näherten sich ihm immer mehr. Als ihn nicht mehr viel vom Häuschen trennte, umzingelten ihn die Wölfe. Manche wendeten ihm den Hinterteil zu und scharrten im Schnee mit den Hinterläufen, so dass der Schnee ihn traf. Einer der Wölfe sprang ihn an. Mit einem Fußtritt schleuderte ihn der Mann zurück. Als ihm klar wurde, dass es nicht mehr lange dauern könnte, bis die Wölfe ihn zerfleischen würden, erblickte er hinter sich einen starken hohen Baum. Im Nu sprang er hinüber und es gelang ihm, auf den Baum zu klettern. Die Wölfe liefen um den Baum herum und lagerten sich schließlich unter ihm. Mai verbrachte die ganze Nacht im Baum. Als es Morgen wurde, verließen ihn die Wölfe. Er stieg herab und ging ins Häuschen zum Alten. Als er später bei sich zu Hause ankam und vor Müdigkeit zusammenbrach, hatte auch er schneeweiße Haare.
Hans Lutsch,
Gergeschdorf, z.Z. Kronstadt
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