Ein Buch über Flucht, Deportation und Verfolgung Deutscher aus Rumänien
02.09.10
Auszüge aus dem unveröffentlichten Roman „Das Stundenglas“ von Otto Folberth
Der 1953 abgeschlossene, im Nachlass des Autors befindliche Roman rührte an mehrere Tabus. So sehr Stimmen aus der Schweiz, Westdeutschland und auch aus Österreich, denen er das Typoskript zum Lesen gegeben hatte, den Verfasser auch lobten und ermunterten, ein Buch über die Flucht, Evakuierung, Deportation, Verfolgung Deutscher aus Rumänien, ihre Eingliederungsschwierigkeiten im Westen hatte auf dem deutschen oder österreichischen Büchermarkt zur Zeit des kalten Krieges keine Chance. Bezeichnenderweise erschien das erste literarische Buch über die Verschleppung „Volksdeutscher“ aus Rumänien in die Sowjetunion nicht in deutscher, sondern in französischer Sprache: Der aus Kronstadt stammende, in Paris lebende Rainer Biemel veröffentlichte den Roman „Mein Freund Wassja“ (1949) zudem vorsichtshalber unter einem Decknamen.
Otto Folberth hatte 1947 Rumänien verlassen und sich mit seiner Familie in Salzburg niedergelassen. Er siedelte die Haupthandlung dieses Romans im (neutralen) Österreich an, aber Nebenstränge und Rückblicke führen in die Schweiz, nach Rumänien, an die Front vor Stalingrad, nach Afrika, Kanada, in Zwangsarbeitslager in der Ukraine. Folberth stützte sich auf Tagebuchaufzeichnungen, Erlebnisse von Familienmitgliedern und authentische Berichte und Nachrichten aus österreichischen Forschungsstellen für Weltflüchtlinge.
1955 erhielt Folberth den Preis des Südostdeutschen Kulturwerks München für dieses unveröffentlichte Romanmanuskript. Einer Drucklegung des Romans dürften heute keine ideologischen Zwänge mehr entgegen stehen.
Der hier abgedruckte Textauszug schildert das Schicksal eines im Gefängnis Jilava inhaftierten Tuchfabrikanten, dessen Los stellvertretend für viele andere stehen mag.
(H. Sch.)
OTTO FOLBERTH (1896-1991)
Mattes Licht dringt durch das kleine Fenster einer Kerkerzelle in Jilava, der rumänischen Gefängnisstadt bei Bukarest. Die schweren eisernen Gitterstäbe berauben es seiner besten Kraft. Bis zu dem Winkel hin, wo der Gefangene auf dem nackten Fußboden mit angezogenen Knien sitzt, die Stirne auf die über den Knien verschränkten Arme gestützt, reicht kaum noch ein Schimmer. Aber der Gefangene entbehrt ihn heute gern. Ja es ist, als wehre er mit den Armen noch das wenige Licht ab, das in seine Zelle fällt. Er möchte durch keinen, auch nicht den geringsten äußeren Schein abgelenkt und an seine Umgebung erinnert werden. Er hat von diesem feuchten, kalten Loch, ohne Bett, ohne Stuhl, ohne Tisch, bloß mit einem „hygienischen Eimer“ ausgestattet, bis zum Erbrechen genug. Er will mit seinen Gedanken allein sein.
Es ist nicht das erste Gefängnis, das August Stolz beherbergt, seitdem er im August 1949 wegen des Verdachtes, Gold gehortet zu haben, verhaftet wurde. Seine Untersuchungshaft verbrachte er in Hermannstadt und Kronstadt. In Kellern die erst vor kurzem in Kerker umgewandelt worden waren Aus dieser Zeit besitzt er reiche Erfahrungen über die Verwendung verschiedenartiger Folterinstrumente. Einmal waren seine Fußsohlen mit dünnen Stahlruten gegeißelt worden, dass er vor Schmerzen wie ein Tier aufschrie. Einmal hatte er splitternackt mit mehreren anderen Häftlingen 24 Stunden lang ohne Unterbrechung „Zirkuslauf" machen müssen. In der Mitte des Raumes stand ein „Krimineller“ mit einer langen Peitsche in der Hand. Dieser hatte die Aufgabe, die ihm überantworteten „Politischen“, sobald sie im Lauf innehielten oder vor Erschöpfung zu Boden gingen, mit Peitschenhieben wieder anzutreiben. Ein drittesmal musste er sich auf den Rücken legen, man bedeckte seine Brust mit einer Holzplatte und ließ „Kriminelle“ mit dicken Knüppeln stundenlang darauf lostrommeln. Aber erst als man Anstalten traf, ihm feuererhitzte Kieselsteine unter die Achselhohlen zu schieben, sagte er sich, dass es zwecklos sei, länger Widerstand zu leisten. Er entschloss sich also ,das von ihm erwartete Geständnis abzulegen. Er sagte aus, dass er Goldmünzen im Gewichte von beiläufig einem Kilogramm auf dem Heltauer Friedhof unter der Grabplatte seines Vaters verborgen habe. Darauf wurde er zu acht Jahren schweren Kerkers verurteilt.
Fast unerträglich waren die ersten Monate in Jilava, diesem feuchtesten aller rumänischen Gefängnisse. Es ist ursprünglich nicht als Gefängnis, sondern als Befestigungswerk errichtet worden. Drei Seiten der großen verzweigten Anlage sind von Erdwällen bedeckt, deren kühle dumpfe Feuchtigkeit sich dem gesamten Mauerwerk mitteilt. In den zwei unteren Stockwerken triefen die Zellen von Nässe. Wasserlachen sammeln sich auf ihrem Boden. Kein Gefangener, der nicht in Kürze der Lungenschwindsucht verfällt. August Stolz hatte Glück, dass bald nach seiner Unterbringung dort der Platz für „schwerere Fälle“ benötigt wurde. So befindet er sich jetzt in einer Etage des Baues, dessen Fenster nach dem oberen Gefängnishof aufgehen.
Aber der Gefangene Stolz blickt nicht hinaus. Er sieht sich nicht einmal in seiner Zelle um. Er sitzt in seinem Winkel mit hochgezogenen Knien und ist ganz in sich versunken. Er verarbeitet geistig, angespannt sinnend und schwer atmend, was ihm vor zwei Stunden begegnet ist. Vor zwei Stunden hat er im Verwaltungsbau des Gefängnisses, in einem Raum, der durch eine Wand von Gitterstäben in zwei Hälften geteilt ist, zum erstenmal seit seiner Verhaftung seine Tochter Doris in Anwesenheit eines Gefängniswärters zehn Minuten lang sprechen dürfen. Monate vorher, gleich nach der Verurteilung des Vaters, hatte Doris um diese Sprecherlaubnis angesucht. Jetzt erst, im April 1950, ist sie ihr bewilligt worden.
Die Begegnung ist wie ein Stein in den See der Einsamkeit gefallen, der August stolz in dieser Zelle umgibt. Sie hat seine Seele zutiefst aufgewühlt und in Erregung gebracht. Er weiß, dass sie seine Gedanken Monate, ja vielleicht jahrelang beschäftigen wird. Ach, wenn doch seine Erinnerungskraft die Eigenschaften eines Filmstreifens besäße! Wenn er diesen Filmstreifen immer wieder, möglichst im Zeitlupentempo, vor sich abrollen lassen könnte!
War Doris eigentlich immer so schmalen Angesichts? fragt sich der Gefangene nachdenklich brütend. Oder hat ihr Antlitz nur unter dem dunklen Kopftuch, dass sie jetzt nach Art der Arbeiterinnen von Heltau trägt, so schmal gewirkt? Vielleicht trug auch etwas anderes dazu bei, dass ihm das Aussehen seiner Tochter seltsam und ungewohnt erschien. Er konnte sie nur durch das Stabwerk des Eisengitters betrachten, das ihn von ihr trennte. Dieses Stabwerk hat ihre Gestalt bestimmt verzeichnet, sagt er sich jetzt. Und das gleiche gilt höchstwahrscheinlich für die Wirkung, die ich auf sie gemacht haben dürfte. War Doris nicht sichtlich erschrocken, als ich in den Sprechraum geleitet wurde, wo sie gewiss schon lange auf mich gewartet hat? So, als wollte sie sagen: der Mann da in der dürftigen Sträflingskleidung, mit dem kurzgeschorenen Haupthaar, mit den eingefallenen Wangen, der fahlgelben Gesichtsfarbe, dieser abgemagerte Greis - das soll mein Vater sein?
Für beide war äußerst schmerzlich, dass sie mit einander ausschließlich rumänisch sprechen mussten und die sächsische Mundart nicht gebrauchen durften, deren sie sich untereinander im Familienkreis stets zu bedienen pflegten. Aber so lauten die Gefängnisvorschriften. Bei Widersetzlichkeit hätten sie sich ein für allemal die Möglichkeit verwirkt, um eine spätere Aussprache ansuchen zu dürfen. Auch wären sie sofort unterbrochen und getrennt worden.
Gut, denkt August Stolz, dass ich nicht trotzig war und mich dieser Vorschrift gefügt habe. Zehn Minuten Sprecherlaubnis, welch reiches Geschenkt, selbst unter diesen Umständen!
Vater Stolz sieht noch jedes Mienenspiel, mit dem Doris ihre Worte begleitet hat. Er hört den Tonfall jedes Wortes, dass sie gesprochen hat. Oh, wie ihm die Stunden seither verfliegen, da sie seinem Geiste so viel Nahrung, seinem Vorstellungsvermögen eine solche Bilderfülle vermittelt hat! Denn nun ist er drauf und dran, sich die Geschehnisse haargenau auszumalen, wie ihm durch Doris berichtet worden sind.
Er sieht die Sommerlaube in den „Kirschgärten“. Wie schwierig mag es gewesen sein, sie für die Mutter und Doris winterfest zu machen. Ja, wenn er selbst dabei gewesen wäre! Aber die Frauen sind auf sich allein angewiesen und Doris dürfte bei Tage selten ihrer Mutter helfen können. Sie steht ja am Webstuhl. Frau Regina muss allein werken und schaffen. Nun gut, sie ist es seit jeher gewohnt. Sie kocht. Sie näht. Sie wäscht. Wer aber sägt und spaltet ihr das Holz? Woher nimmt sie überhaupt das Holz zum Feuern? Sammelt sie es etwa in den Wäldern, „Im Hohen" oder auf dem „Kikesberg“ und bringt es mit Schnüren gebündelt auf dem Rücken heim?
Früher war das den ärmsten Bewohnern von Heltau gestattet. Aber es erscheint August Stolz sehr fraglich, ob sich die Neuarmen dieser Gunst erfreuen. Oder haben die Frauen den kleinen Petroleumofen in Benützung genommen den er damals angeschafft hatte, als er die Laube zu einem Versteck für die beiden Mädchen herrichtete, um sie vor der Verschleppung zu bewahren?
Er sieht Konrad auf dem Marsch in die russische Kriegsgefangenschaft. Auf einer unendlich weiten Schneefläche bewegen sich in einer langen Reihe viele kleine schwarze Punkte. Einer dieser Punkte ist Konrad. Das seltsame an dem Bilde ist, dass Konrad dauernd in Bewegung bleibt, obwohl der Vater sich sagt: jetzt, jetzt müsse er zusammenbrechen. Denn klangen die Worte von Doris nicht recht hoffnungslos im Zusammenhange mit ihrem Bruder? Aber Konrad bricht auf dem Bilde nicht zusammen. Wie? Sollte er etwa doch nicht tot sein?
Der Vater sieht Susanne. Ei, ei! Mit einem Schweizer hat sie sich verlobt! Mit einem Schweizer in Österreich? Was mag der Mann vorstellen? Der Vater muss an die vielen Auseinandersetzungen denken die er mit Susanne wegen ihres Studiums gehabt hat. Wenn es auf ihn angekommen wäre, er hätte sie am liebsten in die Handelsschule in Hermannstadt oder in Kronstadt gesteckt. Aber Susanne hatte immer so seltsame Bildungsbedürfnisse. Nun, an der Seite eines Schweizers wird sie diese Neigung in einem Maße befriedigen können, wie sie es selbst niemals erhofft haben mag. Glückliche Susanne! Wie mich der Strahl aus der Sonne wärmt, die für dich aufgegangen ist!
Der Vater versucht sich Georg vorzustellen, so, wie er jetzt aussehen mag. Aber es gelingt ihm nicht. Georg ist schon volle sieben Jahre weg aus dem Elternhaus. Als er ging, war er noch ein Knabe. Aha, der Junge will seinem erlernten Beruf treu bleiben und als Farmer nach Amerika oder Kanada gehen. Bravo, Georg! Dein Entschluss ehrt dich. Sind nicht auch früher schon zahlreiche Sachsen über das große Wasser gegangen? Vor dem zweiten, ja sogar schon vor dem ersten Weltkrieg? Viele haben drüben Vermögen gemacht, sind heimgekehrt, und haben hier aus dem Vollen wirtschaften können. Diese „Amerikaner“ waren ein Begriff in Siebenbürgen geworden. Sie flößten ihrer Mitwelt Achtung ein. Andere sind dort geblieben und haben sich in den Staaten ansässig gemacht. August Stolz hat unter ihnen Jugendfreunde. Sollte Georg nicht irgendwo und irgendeinmal ihren Weg kreuzen?
Aus seinem langen Brüten an diesem Tage erwacht August Stolz erst, als die Gefängniswärter geräuschvoll die langen Gängen daherpoltern und auch ihm durch den „Judas“ die Abendsuppe hereinreichen. Er schlürft sie löffelweise, bedächtiger als sonst. Dann schreitet er eine lange Zeit in der Zelle auf und ab, bis er das Gefühl hat, dass ihm etwas wärmer geworden sei. Das ewige Frösteln in diesen dicken kalten Mauern steigert den Aufenthalt in ihnen zu einer wahren Pein. Schließlich stellt sich der Gefangene, nachdem draußen eine tiefschwarze Nacht die Erde eingehüllt hat, unter das hochgelegene Zellenfenster. Als er das Glitzern der ersten Sterne entdeckt, hebt er die Hände bis zu den untersten Gitterstäben empor, faltet sie und beginnt zu beten.
„Vater unser, der Du bist im Himmel, hab´ Dank aus tiefstem Herzen für die Freude, die Du mir heute bereitet hast. Lass die tapfere zarte Doris den gefahrvollen Weg zur Mutter heil zurücklegen. Gib, dass Mutter und Tochter auch ferner einander hilfreich stützen und dass sie wegen meiner nicht verzagen. Steh unserem lieben guten Konrad bei, wenn er noch lebt, und lasse ihm die Erde leicht sein, falls er schon in ihr ruhen sollte. Führe unsere Susanne an Deiner gütigen Vaterhand dem Glück entgegen, das sich ihr nähern will. Stärke den Mut unseres braven Georg in der weiten Fremde. Bewahre uns alle vor bösen Anfechtungen und schenke uns die Freude des Wiedersehens in dieser oder jener Welt. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen.“
Der Eingang in das „Fort 13“, eine Befestigung neben Jilava, ursprünglich Standort einer Feldkanonenbatterie zum Schutz von Bukarest, später Militärgefängnis und in den 50er Jahren Kerker für tausende Antikommunisten.
Foto: Hans Butmaloiu
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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