Ein Deportationsroman in deutscher Übersetzung
14.01.16
Zu: „Auf ewig gefangen? Das Leben im sowjetischen Gulag“ von Tibor Ostermann und Oana Manolescu. Craiova, Privirea-Verlag, 2014 ISBN 978-973-1936-18-5
Die nach 1990 erschienenen Bücher über die Deportation der Rumäniendeutschen in sowjetische Arbeitslager bestehen nicht nur aus Studien und Fachbüchern sondern auch aus Romanen, Erinnerungen und Tagebüchern. Mit dem Roman „Auf ewig gefangen?“ (rumänischer Originaltitel: „Vesnic prizonier?“) der 2014 dank der Übersetzung von Mihai Alexandrescu nun auch in einer deutschen Variante vorliegt, kommt ein weiteres Buch hinzu. Es gibt einige Unterschiede zu ähnlichen Büchern die auf „Auf ewig gefangen?“ neugierig machen können und einen zusätzlichen Anreiz sein dürften, das Buch in die Hand zu nehmen und zu lesen.
Das beginnt bereits mit dem Autor: Tibor Ostermanns Vorfahren stammen aus dem Banat, aus Tschermei; seine Mutter, Juliana Komlodi, wurde in einer ungarischen Familie aus Arad geboren.
Tibors Vater, Johann, arbeitete ab 1924 als Verwalter bei mehreren Landgütern, zuletzt, ab 1933 bei Mihailesti, in der Nähe von Buzau. Von dort wird der knapp 18-Jährige zusammen mit seiner Schwester Itza und mit anderen Deutschen aus dem Altreich im Januar 1945 deportiert. Ein Fluchtversuch mit drei anderen Leidgenossen scheitert kurz vor der rumänischen Grenze; es folgen weitere Jahre der Deportation in Dnjepropetrowsk in einem Straflager für Flüchtlinge. Ostermann gehört zu den Überlebenden, kehrt im November 1949 nach Rumänien zurück und bleibt in Kronstadt, wohin inzwischen seine Schwester und seine Eltern übergesiedelt waren. Zeitweilig wohnt er zusammen mit ihnen in der Baiulescu-Straße 9, ein Wohnhaus wo heute im Erdgeschoss das Baciu-Museum untergebracht ist. Über Ostermanns Anstrengungen, sich an ein Leben in Freiheit anzupassen und einen neuen Beruf zu erlernen, geht es in dem hier veröffentlichten Auszug. (Titel von der Redaktion ausgewählt). Tibor Ostermann wird Handelsdirektor bei IMMR Kronstadt (Intreprinderea mecanica de material rulant), fühlt sich aber weiter gefangen – in der Sozialistischen Republik Rumänien. Nach 1990 wandert er nach Deutschland aus, nach Leonberg, wo er 2001 in Folge eines Herzinfarktes verstirbt. In dem von Oana Manolescu bearbeiteten Roman werden im letzten Teil des Buches Tagesbuch-Einträge aus den Jahren 1985-86 gebracht, die Szenen aus dem kommunistischen Alltag beschreiben: mit dem Schlangestehen für Lebensmittel sowie für die monatliche Benzin-Ration, mit dem Kampf gegen Kälte und Dunkelheit weil die Lieferung von Gas und Strom ohne Rücksicht auf kleine Kinder, Kranke oder alte Leute systematisch unterbrochen wurde; mit den Problemen bei der Arbeit wo der Gehalt gekürzt wurde, wenn die Planvorgaben nicht erfüllt werden konnten; mit gesundheitlichen Problemen. Im Krankenhaus kommt es übrigens zu Erinnerungen/Zeitversetzungen wobei Ostermann im hohen Fieber Gegenwart und Vergangenheit, das Ceausescu-Regime und das sowjetische Lager durcheinander bringt. Wach werden Erlebnisse und Leute, Ängste und kleine Freuden aus der Gefangenschaft, Verzweiflung und Hoffnung, endloser Hunger und Wunschträume über ein Festmahl in Reichtum und Freiheit. So erhält der Leser einen Einblick auch über Aspekte die weniger bekannt sein dürften: das Zusammentreffen mit Deutschen aus Serbien, Polen oder mit deutschen Kriegsgefangenen; Kompromisse die manche Landsmänner und -frauen machen, um ein besseres Leben in der Gefangenschaft zu führen als Aufpasser, Kochgehilfe usw.; die allgemeine Not in der Ukraine sowie, gegen Ende der Gefangenschaft, sogar die Perspektive als „Genosse“ dort zu bleiben, zu heiraten, sich in die Sowjetgesellschaft zu integrieren.
Auch durch diese Offenheit gewinnt der Roman der 1993 - 94 verfasst wurde, an Wert. Das persönliche und kollektive Drama beeindruckt, das Leid bleibt, obwohl die Erinnerungen verblassen. „Aber das was verbleibt, kann uns immer noch ein gutes Bild von der jüngeren Vergangenheit schaffen“, sagt Mitautorin Oana Manolescu, Politikerin und Vertreterin der albanischen Minderheit, in ihrem Vorwort.
Ralf Sudrigian
Du musst, Tibi! Versuch, Tibi!
Weinend betraten wir das Zimmer, ich und meine Mutter die mich noch immer fest umarmte. In einem der zwei Betten erblickte ich ein Häuflein Kleider, aus deren Mitte mich ein Paar Augen anstarrten. Ich wusste zuerst nicht, wer das sei. Mager, mit gelblich-grauer Haut, ohne Zähne … Vater! Stimmlos, aber mit Tränen in den Augen. Vater. In der Endphase einer erbarmungslosen Krebserkrankung. Mein Vater, der einst rüstige, heitere Mann, zusammengestürzt unter der Last so vieler Unglücke. Mein Vater lag im Sterben; nur die Hoffnung, mich wiederzusehen, hatte ihn noch am Leben erhalten.
Ich setzte mich zu ihm, streichelte seine knöchrigen Hände und die bis zur Unkenntlichkeit entstellte Wange. Und dachte dabei, dass ich nun die sechste Person in diesem kleinen Zimmer war und mein Vater brauchte Luft und Medikamente. Und viel Ruhe.
Johann Ostermann hatte nur darauf gewartet, seine Elternfreude noch einmal zu erfüllen und seinen zweiten Sohn lebend wiederzusehen. Sein frühzeitiges Ableben erfolgte im Alter von nur 57 Jahren.
Seine Frau überlebte ihm mit dreißig Jahren. Bis zu ihrem Lebensende hatte sie gehofft, dass die Nachricht von Willis Tod (Tibor Ostermanns älterer Bruder, gefallen im Zweiten Weltkrieg – Anm.d.Red.) sich als falsch erweist. Sie wartete auf ihn mit einem unzerrüttbaren Vertrauen in eine unerwartetes, ja wundersames Wiedersehen. Wusste sie doch auch von anderen Fällen, in denen der Totgemeldete nach Jahrzehnten wieder aufgetaucht war.
Ich blieb in Kronstadt, obwohl die Zuweisungspapiere aus Neustadt für Buzau ausgestellt worden waren. Aber sowohl meine Eltern als auch andere Freunde rieten mir, nicht dorthin zurückzukehren, denn die Kommunisten würden wie besessen dort wüten und ich könnte dann vielleicht zu den fünf Jahren Arbeitslager weitere Jahre hinzufügen. Demnach blieb ich in Kronstadt.
Keine Aussichten. Ohne Abitur, dass heißt die siebte und achte Klasse (alte Zählung) oder die elfte und die zwölfte (neue Zählung) unabgeschlossen – wohin mit mir?
Einen Beruf hatte ich erlernt, ich war ja nun Maurer. Ohne Arbeit konnte ich keinen Tag leben, denn der einzige Werktätige aus unserem Zimmer war mein Schwager Mi{u. Oft konnte meine Mutter in der gemeinsamen Küche der drei Familien die in den drei Zimmern wohnten, bloß einen Tee kochen. Mit Hilfe von Itzas Mann wurde ich als Arbeiter in Dâmbu Morii angestellt. Dort wurde eine Talsperre gebaut, zur Ansammlung von Trinkwasser für Kronstadt. Und noch damals, in jenem Spätherbst, begann meine Schwester Itza mich zu piesacken, das Gymnasium abzuschließen. Ich besuchte also die Abendkurse des Andrei-Saguna-Gymnasiums, um mich auf das Abitur vorzubereiten.
Morgens arbeitete ich. Am Kronstädter Bahnhof nahm ich den Zug der in die Siebendörfer fuhr, und stieg in Dârste aus, von wo ich zu Fuß nach Dâmbu Morii ging. Nach achtstündiger Arbeit legte ich denselben Weg zurück und ging anschließend in die Schule. Ich mietete eine Stube in Dâmbu, um jene aus der Baiulescu-Straße ein wenig zu entspannen. Ich hielt durch, doch es fiel mir schwer, das Lernen wiederaufzunehmen.
Ich hatte fast alles ausgeschwitzt. Ich sah vor mir nur das Essen. Selbst das Einmaleins fiel mir schwer, ganz besonders die Multiplikation mit 7 und mit 9. Ich musste alles von Anfang an durchnehmen, und das mit größter Geschwindigkeit. Itza half mir bei den Hausaufgaben. Ich war ambitioniert, hatte den Willen und die Arbeitskraft. Aber ich war auch so müde...
Solange ich bei ihr gewohnt habe, saß sie Abend für Abend bei mir, manchmal nächtelang, und half mir beim Lernen. lm Licht einer Nachttischlampe und flüsternd, um das kleine Kind nicht aus dem Schlaf zu stören. Manchmal fiel mein Kopf auf die Bücher und der Bleistift entfiel meiner müden Finger... „Wach auf, Tibi! Du musst, Tibi! Versuch, Tibi! Du musst!'' Meine Schwester, alles Wille, alles Energie. Ohne sie hätte ich wahrscheinlich die Schule nie abgeschlossen.
In meiner Kindheit hatte ich nicht besser, aber auch nicht schlechter als die anderen Kinder gelernt, nun „pflügte'' ich mich hartnäckig durch die Lehrbücher und meine damals überschwängliche Arbeitskraft erbrachte mir eine große Genugtuung: nach zwei Trimester harter Paukerei schaffte ich die Prüfung für die letzten zwei Gymnasialklassen und im Herbst machte ich mein Abitur. Und dann brachte mich Itza dazu, ein Hochschulstudium anzustreben.
Wahrlich, ich träumte nicht! Es war nicht einmal ein Jahr vergangen, seit ich aus dem Lager heimgekommen war. Nun war ich frei, arbeitete als freier Mensch! Aber Itza hatte mir schon im Januar 1950 gesagt, ich sollte mich in einer Fabrik anstellen, für eine „gesunde soziale Herkunft'' als Arbeiter, denn so würde man es leichter auf eine Hochschule schaffen. Ich folgte ihrem Rat und lies mich im Astra-Werk einstellen, das später als „Steagul Rosu” umgetauft wurde.
Die Arbeitskraft hatte mich nicht verlassen, ich konnte Arbeiten für vier-fünf Leute erledigen. Mittlerweile wurde unsere schöne Stadt in „Stalinstadt” umbenannt, bei einer Versammlung an der wir alle einstimmig diese Umbenennung verlangt haben sollen. Hätte Stalin gewusst, wie viele Leute damals auf ihn geschimpft hatten, dann hätte er vielleicht auf diese Patenschaft verzichtet. Im Herbst 1950 begann ich mein Studium am Eisenhütteninstitut in Temeswar. Dann siedelte die Hochschule nach Bukarest um. Dort lernte ich Leontina Georgescu kennen, Studentin an der Fakultät für industrielle Chemie. Wir heirateten und hatten zusammen eine Tochter, die Anda. Dann kehrte ich zurück nach Kronstadt, als Ingenieur bei der IMMR, Arbeitsplatz dem ich bis auf den heutigen Tag die Treue behielt.
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
E-Mail:kronstadt@adz.ro
Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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