Eine literarische Wiedergutmachung auf hohem europäischen Niveau (II)
15.10.09
Zu Herta Müllers Deportationsroman „Atemschaukel“, Hanser Verlag 2009, 304 Seiten, 19,90 Euro, ISBN978-3-446-23391-1
Totalismuserfahrung am eigenen Leib
Er ist auch deshalb so wichtig, weil er zum Unterschied von den beiden vorangehenden Romanen mit derselben Thematik sich vornimmt auf keinen Fall die sprachlichen Klischees zu benutzen wie „Wir haben gelitten“, „Es war unsagbar grausam“, „Es war unbeschreiblich kalt“, „Der Hunger war nicht auszuhalten“, die alle zwar stimmen, aber nur sehr ungefähr die kaum vorstellbare Realität eines Zwangswiederaufbau-Konzentrationslagers wiedergeben.
Iris Radisch hat in ihrer Rezension in der „Zeit“ vom 20.08.09 „Gulag-Romane lassen sich nicht aus zweiter Hand schreiben“ sicherlich im Prinzip recht, wenn sie dies auf den bundesdeutschen Autor von heute münzt, der keinen Totalitarismus, geschweige denn eine Haft in einem totalitären System durchmachen musste.
Herta Müller aber hat aus Ceau{escu-Rumänien die Erfahrung einer Mangelwirtschaft, die das Resultat einer zentralistischen Planwirtschaft war. Diese Mangelwirtschaft wurde noch verstärkt durch Ceau{escus eiserne Sparpolitik, um die westlichen Auslandsschulden zu begleichen. Der Westen honorierte dies mit der stillschweigenden Hinnahme der Einschränkungen der Lebensbedingungen in Rumänien, aber leider auch mit der kaum ernstlich beanstandeten Einschränkung der Menschenrechte. Herta Müllers Aufbegehren dagegen wurde gerade auch aus diesem Grund zu Beginn so begeistert aufgenommen, weil man sich nun in der Pflicht fühlte, etwas gegen Ceau{escus Menschenrechtsverletzungen unternehmen zu können, ohne dabei die gern angenommenen Rückzahlungen des Diktators zu gefährden. Herta Müllers Aufbegehren kam da gerade in dem psychologisch richtigen Augenblick, umso mehr als sie nicht nur die Ceau{escu-Diktatur entlarvte, sondern auch die Verstrickungen einiger ihrer Landsleute in den Fängen des rechten Totalitarismus der Volksgruppenzeit wie in den Netzen des linken Totalitarismus der Ceau{escu-Epoche mit deren nicht nur entwürdigenden, sondern mitunter auch regelrecht lebensgefährlichen Überlebensstrategien. Deshalb ist der Vorwurf von Iris Radisch, Herta Müllers Roman sei parfümiert und kulissenhaft, in diesem besonderen Fall der Totalismuserfahrung der Autorin am eigenen Leib nicht haltbar. Hinzukommt noch, dass sie aus der Zusammenarbeit mit Oskar Pastior dessen authentische Berichte mit ihm gemeinsam zur Sprache zu bringen, bemüht war. Hier kann nicht von einer Poetisierung im Sinne der Verschönerung und Ausschmückung gesprochen werden, sozusagen als vertiefte Blümchensprache, die unadäquat die wirkliche Stimmung und die authentische Atmosphäre dieser Lagerwelt verfehlen muss. Herta Müllers Sprache ist in diesem Roman über weite Strecken eine gelungene Poetisierung im altgriechischen Sinn des Wortes Poesie als Machbarkeit des Sprechens, als eine Verdichtung der Aussage auf knallhartes Wesentliches, was, wenn es gelingt, genau das Gegenteil einer Verweichlichung oder gar ästhetischen Harmonisierung einer Art negativer Heimatliteratur ist.
„Ich weiß, du kommst wieder“
Herta Müller ist es gelungen, aus den spezifischen rumäniendeutschen Befindlichkeiten dem Totalitarismus ausgesetzt mit all seinen Zwangsarbeitslagerbegleitern - dem Hunger, der Kälte, der Hoffnungslosigkeit - eine allgemein menschliche, letztlich existenzialistische Grundauffassung herauszukristallisieren. Da, wo der Mensch sich auch in der äußersten Grenzsituation nicht ganz aufgibt, gibt es trotz alledem einen, wenn auch schwachen, so doch nicht zu übersehenden Hoffnungsschimmer. Die beste Passage dafür ist wohl das Vorführen des Schicksals der geistigbehinderten Kati Planton aus Bakowa im Banat, die durch einen grausamen Bürokratiefehler vollkommen unschuldig in das Arbeitslager geriet, obwohl Kranke und Behinderte ausdrücklich von der Deportation ausgenommen werden sollten.
Mit den geringsten Überlebenschancen als Unzurechnungsfähige überlebt sie trotzdem bis zum Schluss die fünfjährige Lagerzeit, was über 300 Schicksalsgefährten nicht schaffen. Beim Morgenappell, dem Absingen der Hymne, bleibt sie sitzen und steht auch beim Gebrüll, diese Faschistin solle aufstehen, nicht auf. Sie weiß nicht nur nicht, was eine Faschistin ist, sondern auch nicht, was ein Appell bedeutet, und eine Hymne ist für sie sowieso etwas Unwichtiges, nicht zu Beachtendes. Als ein Posten auf sie schießen will, hält ihn ein anderer davon ab, weil er inzwischen mitbekommen hat, dass sie geistig überhaupt nicht in der Lage ist, die Lagerwelt zu begreifen. Auch die Mitgefangenen begegnen Kati Planton aus Bakowa menschlich und nutzen ihre geistige Behinderung nicht aus, indem sie ihr ihre Brotration oder sonstigen Nahrungsmittel nicht entwenden, und helfen somit, sie am Leben zu erhalten, wie Herta Müller überhaupt nicht kitschig, sondern bildhaft-stark und unsentimental scharf auf ihre einmalige Art in den Worten Leo Aubergs festhält: „Aber die Planton-Kati lebt, auch wenn sie nicht weiß, wo sie ist. Wir wissen es und behandeln sie wie unser Eigentum. An ihr können wir gutmachen, was wir einander antun. Solang sie zwischen uns lebt, gilt für uns, dass wir zu allerhand, aber nicht zu allem fähig sind.“ Und wenn jetzt der geneigte Leser meint, hier sei nun aber Herta Müller endlich mal richtig optimistisch sentimental geworden, belehrt ihn ihr letzter Satz eines Besseren und unterstreicht ihre sprachliche Einmaligkeit, denn der letzte Satz lautet ernüchtert geläutert „Dieser Umstand zählt wahrscheinlich mehr als die Planton-Kati selbst.“ Die Planton-Kati, die geistigbehinderte Schicksalsgefährtin und Zwangsarbeitskameradin als Messinstrument der Menschlichkeit, wen das nicht als hohe Literatur anspricht, der hat vom 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert des Terrors der Ideologien, weiß Gott nicht allzu viel mitbekommen.
Die Brutalität des Alltags des Zwangsarbeitslagers fordert unerbittlich ihre Opfer. Die taube Mitzi wird von zwei Waggons zerquetscht, die sie nicht hören konnte. Die Kathi Meyer bleibt im Zementturm verschüttet, weil keiner das mitbekommt, und Irma Pfeifer muss langsam qualvoll in der Mörtelgrube ersticken, in die sie versehentlich gefallen ist, da der geschleppte Zementsack so groß war, dass er ihr die Sicht nahm. Der Wachposten deutet jedoch diesen Unfall als Sabotage ab, als versuchten Selbstmord und lässt die übrigen Zwangsarbeiter nicht helfen, indem er sie mit der Waffe im Anschlag auf Distanz hält, bis Irma Pfeifer vollkommen im Mörtel versunken ist. Ein richtiger Mord mit allem Zubehör: Besondere Grausamkeit, Ausnutzung der Wehrlosigkeit des Opfers und Heimtücke durch den bezweckten Psychoterror gegenüber den am Todeskampf zum Zuschauen verurteilten Arbeitskameraden.
Auch Peter Schiel stirbt elendig am Steinkohlenschnaps.
In den Kapiteln über den Hungertod von Heidrun Gast, der Ehegattin des Advokaten Paul Gast, haben wir es offensichtlich mit einer typischen Herta-Müller-isierung zu tun. Mit einem unglaublichen Aufwand von atmosphärischen bis ins kleinste Detailbeschreibungen in den Kapiteln „Löffel hin – Löffel her“ und „Einmal war mein Hungerengel Advokat“, wird beschrieben, wie der Hermannstädter Advokat Paul Gast sich immer neben seine Frau Heidrun setzt, um ihre Suppe mit auszulöffeln, bis eines Tages Heidrun Gast vollkommen entkräftet dem Hungertod stirbt, „den Löffel endgültig abgibt“.
Der eigentliche Lagerkommandant ist der Hungerengel, der wie ein Würgengel alle im Griff hat. Er ist zu allem anderen Ungemach auch noch ein Dieb, der das Hirn stiehlt, die Lagerinsassen um den letzten Rest ihres gesunden Menschenverstandes beraubt.
Sein einziger Kontrahent ist im Falle Leo Aubergs der Satz, den seine Großmutter bei der Festnahme für die Deportation ihm auf den Weg mitgegeben hatte: „Ich weiß, du kommst wieder“. Dieser Satz ist auch ein Komplize der Herzschaufel Leo Aubergs, die ihn auch am Leben erhält, wie auch die Atemschaukel und das fünf lange Jahre. Allein das letzte Jahr wird etwas erträglicher, weil es für die geleistete Zwangsarbeit etwas Geld gibt, womit sich die Deportierten nun auf dem Dorfbasar auch Essbares kaufen konnten. Doch der Hungerengel hat sie inzwischen so fest und unwiderruflich im Griff, dass er sie nie wieder verlässt; selbst wenn sie etwas zum Essen haben, essen sie es im Bewusstsein, dass der Hungerengel ihnen weiter im Nacken sitzt, in den Gedanken und vor allem auch in ihrem Essverhalten sitzen bleiben wird. Und dies lebenslang, so dass sie ihr Zwangsarbeitslager niemals ganz verlassen werden können. Dies gelingt Herta Müller in dem letzten Kapiteln, die die Zeit nach der Heimkehr behandeln, einzufangen.
Die Sensation dieses Bücherherbstes
Leo Auberg wird wie Oskar Pastior zunächst Kistennagler, dann Abendschüler und schließlich nach seiner Heirat in Hermannstadt und seinem Umzug nach Bukarest Germanistikstudent. Herta Müller wurde von Oskar Pastior ermächtigt, seine Homosexualität zu thematisieren, allerdings mit der Bitte dezent damit umzugehen, wie er das auch Zeit seines Lebens getan hat.
Leider hat Herta Müller bei der Schilderung der Bukarester Zeit Pastiors es auch versäumt, darauf hinzuweisen, dass Oskar Pastior gewissermaßen das Haupt einer literarischen Dissidentengruppe in den Jahren 1947-1961, bis zur Verhaftung von Georg Hoprich war. Zu dieser sich regelmäßig treffenden Literaten- und Künstlergruppe gehörten außer Oskar Pastior auch seine Frau, eine Malerin und Folkloreforscherin, der Lyriker Georg Hoprich, der Satiriker Richard Adleff, der Essayist, Übersetzer und Herausgeber Dieter Fuhrmann – und auch ein russisches Künstlerehepaar. Denn Russland, seine Menschen und seine Mentalität haben Oskar Pastior auch nach seiner Deportation weiterhin sein Leben lang begleitet und ihn auch bewogen, aus der russischen Literatur – unter anderem Welemir Chlebnikow und Ossip Mandelstam - ins Deutsche nachzudichten.
Auch ein Hoffnungsschimmer, dass aus dem Leid Nichtaufzurechnendes oder gar Abzurechnendes entstehen muss, sondern Versöhnendes und Verständigendes. Auch aus diesem Grund ist und bleibt Herta Müllers neuester Roman die Sensation dieses Bücherherbstes, wo aus dem Ideologie-Inferno des 20. Jahrhunderts mit Hilfe der Sprache und ihrer Verdichtung Menschen und auch Völker, wenn auch notgedrungen, einander näher kommen können.
Ingmar Brantsch
(Schluss)
Herta Müller erhält am 10. Dezember in Stockholm den Nobelpreis für Literatur.
Foto: Archiv
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