„Eine monumentale Akte“
21.06.12
Hans Bergels Brief über die Securitate-Dossiers aus dem Korrespondenzband Winkler/Bergel (II)
Zum vierten Mal besuchte ich die Archive erst Herbst 2009 wieder an ihrem neuen Sitz. Auch diesmal sah ich mich vor veränderten Aktenlage - teils handelte es sich abermals um bereits eingesehene Papiere, teils fehlten solche, teils stieß ich auf neue. (Apropos: Die Geschichte liefert berühmte Beispiele für seltsames Verschwinden verräterischer Akten: Im vergangenen Herbst fuhr ich mit dem Boot von Garda nach Gardone Riviera am Westufer, wo ich im Grand Hotel einen Bekannten besuchte; im Hotel gibt es ein „Churchill-Zimmer“. Churchill hielt sich beginnend mit dem 26. Juli 1949 in Begleitung britischer Geheimdienstler einige Tage hier auf: Er suchte nach Unterlagen, die das Foreign Office in einem 2005 in seinen Archiven entdeckten Dokument von 1945 als „secret“ bezeichnete: kompromittierende Briefe Churchills an Mussolini. Sie mussten verschwinden. 1949 lüftete die italienische Presse die Hintergründe des Churchill-Aufenthaltes am Garda-See. Die Briefe blieben bis heute verschwunden. - Warum sollte nicht im Grundsatz Vergleichbares in Bukarest möglich sein? Die Geschichte kennt auf allen Breitengraden und zu allen Zeiten die gleichen Verhaltensweisen.)
Von einem fünften Besuch am neuen, weiträumigen Archiv-Sitz sehe ich ab, denn die Erfahrung lehrte mich: Schon nur wegen des archivalischen Umgangs mit den Securitate-Akten werden diese zum unsicheren, zum schwankenden Boden. Endgültige Erkenntnisse - außer, wie gesagt, punktuell reduzierte - erlauben sie nicht. Den Beispielen, die ich Dir dazu nenne, schicke ich voraus: Dass eine Person als IM (Informeller Mitarbeiter) in den Akten auftaucht, besagt unter dem Aspekt moralischer Abwägung noch nichts, erst w a s sie der Securitate an Information lieferte, fällt ins Gewicht. - Neben „note informative“, die mich belasteten, gab es auch die folgenden.
Ich fand in meinen Papieren unter Decknamen einen IM, der mich 1964-1968 bespitzelte (mit Hilfe der Archive decodifizierte ich den Namen): ein Arbeitskollege. In seinen „note informative“ lieferte er der Securitate nicht nur nichts, was mich hätte belasten können, er stellte sich, im Gegenteil, schützend vor mich. Ihn heute anzuprangern, bloß weil seine Einverständniserklärung vorliegt? Es wäre absurd. Denn der Mann bewies, im Gegenteil, Mut. Sein Name tut nichts zur Sache. Es geht um die Fakten.
Ich stieß außerdem auf einen Arbeitskollegen derselben Zeitspanne als IM. 1964 lieferte er der Securitate belastende Auskünfte über mich, Anfang 1968 aber widerrief er sie und begründete das mit seiner Angst vor der Behörde. Würde ich beim Aktenstudium nur die Papiere des Jahres 1964 gesehen haben, fiele meine Beurteilung des Mannes falsch aus (das Gleiche gilt beim Tausch der Jahreszahlen). Auch hier ist der Name in unserem Zusammenhang unwichtig.
Weiter: Ich entdeckte meinen ehemals besten Freund als IM - nota bene: mit realem Namen. Seine sieben handschriftlichen „note informative“ wurden von ihm so raffiniert verfasst, dass die Securitate nichts gegen mich in der Hand hatte. Unter der siebenten vermerkte der Führungsoffizier: „Propun abandonarea sursei pentru ineficien]²“, ,,Ich schlage die Preisgabe der Quelle wegen Unergiebigkeit vor.“ Auch diesmal - wie in den vorangegangenen Beispielen - besagt der Name unter der „Informationsnote“ noch nichts, höchstens so viel: dass deren Autor die Securitate austrickste.
Noch zwei Fälle, dramatischer als die bisher skizzierten, sie haben mit mir insofern zu tun, als die Männer, um die es geht, sich mir eröffneten:
1) Einen Freund, Minderheitler, in seinem Fach ein Ass, schwärzten neidische und chauvinistische Kollegen so lange mit Lügen bei der Securitate an, bis diese ihn verhaftete, vor Gericht stellen und verurteilen ließ. Bei der Haftentlassung nach sechs Jahren forderte ihn die Securitate zur informellen Mitarbeit auf. Er sagte mir: ,,Ich zögerte nur eine Sekunde, bis ich begriff, dass es die einzige Möglichkeit war, mich an den Denunzianten zu rächen, die mich ins Gefängnis gebracht und meine Familie zerstört hatten.“ Man mag sein Verhalten moralisch bewerten wie immer, mein Verständnis war und ist ihm sicher. Aber die Akten-Erforscher, die nur das Papier ohne den Hintergrund kennen, kommen zur falschen Beurteilung.
2) Einem Bekannten glückte die Erwirkung der Genehmigung zu einer Besuchsreise nach (West)Deutschland; als „Kaution“ blieben seine zwei minderjährigen Kinder im Land, zur Auflage hatte ihm die Securitate die Berichterstattung über „interessante Emigranten aus Rumänien“ gemacht. Er gestand dies einem am Rhein lebenden Landsmann und Freund. Der schlug vor: „Wenn's Dir hilft, schreib über mich, was Du willst.“ Das geschah mehrfach: Die Securitate war vom ersten Bericht so angetan - schon gar, weil es sich bei der Zielperson um einen Mann des öffentlichen Lebens handelte -, dass mein Bekannter die Besuchsreise ein zweites und drittes Mal wiederholen durfte. Besucher und Besuchter, so wurde ich aus erster Hand unterrichtet, lachten sich „halb tot“ über die genasführte Securitate. Nun fanden die Akten-Erforscher die entsprechenden Papiere in den Securitate-Dossiers. Sie zogen daraus (siehe oben) den falschen Schluss der Verwerflichkeit im Verhalten meines Bekannten: Die Absprache der beiden ist ihnen unbekannt - sie stützen sich nur auf die Securitate-Papiere.
Genau hier, in dieser Papiergläubigkeit, liegt eine weitere Fußangel für jeden, der sich auf diese Materie einlässt; es ist für Außenseiter gefährlich, das Terrain zu betreten. Conclusio: Geht aus meinen Akten hervor, dass die unterschriebene Einverständniserklärung allein noch nichts besagt, so zeigen die Beispiele 1 und 2, dass gelegentlich nicht einmal der Inhalt der „note informative“ für bare Münze genommen werden darf.
Hinzu rechne ich den Umstand, der mir in diesem Zusammenhang am schwerwiegendsten erscheint: Die Securitate-Dossiers sind, egal warum, wie gesagt lückenhaft, ergo ist es auch ihr Informationswert. Die Lückenhaftigkeit fällt vermutlich nur beim Studium einer umfangreichen Akte auf. Eine z. B. aus 100 Schriftstücken bestehende bietet nicht die Möglichkeit der Erarbeitung eines komplexen Bildes der Absichten, Strukturen und Strategien der Akten-Politik, die ein Dossier von mehreren 1.000 Schriftstücken bietet; erst die umfangreiche Akte macht also die Tatsache der Lückenhaftigkeit deutlich und erlaubt demjenigen, über den sie angelegt ist, den kontrollierenden Vergleich zwischen Realität und Widerspiegelung in der Akte.
(Fortsetzung folgt)
Hans Bergel (links) und Manfred Winkler. Foto aus dem Band „Wir setzen das Gespräch fort...“
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