Eine riesengroße Familie (II)
12.07.24
Die persönlichen Highlights des Internationalen Filmfestivals in Klausenburg (TIFF23)
Eine unkonventionelle Mutter-Tochter-Beziehung
Der Debütfilm der indischen Regisseurin Shuchi Talati untersucht die anhaltenden Auswirkungen des Patriarchats, als ein Mädchen im Teenageralter zum ersten Mal ihre Sexualität erkundet.Die 16-jährige Mira besucht ein strenges Elite-Internat in einer kleinen Bergstadt im Himalaya im Norden Indiens. Sie wurde als erstes Mädchen zur Oberschülerin der Einrichtung ernannt, ein Titel, der ihr für ihre tadellosen akademischen Leistungen verliehen wurde. Die Aufgabe bringt Pflichten mit sich, zu denen es gehört, ihre Freundinnen und Mitschülerinnen zurechtzuweisen, entweder weil ihre Uniformen nicht den Vorschriften entsprechen, oder weil die Mädchen zu viel Zeit mit den Jungen verbracht haben. Als sie bei der morgendlichen Versammlung im Schulhof eine Rede hält, erwähnt sie dass die Schüler die "uralte indische Kultur" ehren, was den tief verwurzelten Konservatismus und die Kultur des Schweigens widerspiegelt, mit der die jungen Leute leben müssen. Doch im Internat entdeckt sie Verlangen und Romantik. Der Film handelt über Ängste, Sehnsüchte, Familie, erste Liebe, aber auch über eine unkonventionelle Mutter-Tochter- Beziehung, in der manchmal die Rollen gewechselt werden (Die Rolle von Miras Mutter, die sich oft wie eine Jugendliche benimmt, ist eine der komplexesten im Film und sehr liebenswert). Die Verwandlung der Tochter vom Mädchen zur Frau wird durch ihre Mutter gestört, die selbst nie erwachsen werden konnte. Im Film wird nicht viel geredet, aber die Regisseurin füllt diese wortlosen Räume mit präzisen Bildern und erzeugt eine atemberaubende Spannung, besonders in den Szenen in denen der Freund von Mira die beiden zu Hause besucht. "Die Geschichte dieses Films ist sehr stark in Indien verwurzelt, aber ich habe immer gehofft, dass Menschen außerhalb dieses sehr spezifischen Raums und der Zeit, in der die Geschichte spielt, sich in ihr wiederfinden werden”, sagte die Regisseurin Shuchi Talati in einem Video, das bei der Preisverleihubngs-Zeremonie im Klausenburger Nationaltheater gezeigt wurde. Und genau das will der Preis ausdrücken- eine sehr spezifische Geschichte, die gut erzählt ist, kann universell werden. Das ist einer der schönsten Paradoxe im Film.
Film und Picknick im Grafenschloss
Nicht nur in den Kinosälen und auf den öffentlichen Plätzen wurden Filme gezeigt, sondern auch außerhalb der Stadt. Mit Kleinbussen wurden die Gäste an einem heißen Juni-Nachmittag in das Dorf Răscruci gefahren, 22 Kilometer von Klausenburg entfernt. Hier befindet sich das frisch renovierte Banffy-Schloss, dessen riesiger Garten mit See zu einem Picknick mitten in der Natur einlud. Essen konnte man von lokalen Herstellern kaufen, die ihre Stände hier eingerichtet hatten. Von Bio-Burgern und Käse-Spezialitäten über köstliche Kirschen bis hin zu Pilze-Zacusca und Wein-die Auswahl war groß und man konnte sich auf eine Decke unter einen Baum setzen und während des picknickens einem Orchester zuhören, das in der Nähe des Sees spielte. Oder das Schloss während einer Führung erkunden.
Die Geschichte des Grafen Banffy Miklos, der bis zu Beginn des Kommunismus Besitzer mehreren Schlösser war, ist der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt, obwohl sich viele Kulturschaffenden bemühen, das Leben und Wirken dieser ganz besonderen Persönlichkeit darzustellen.
Viel bekannter als Banffy ist das Schloss aus Bontida, in dem er lebte, vor allem dank des Electric Castle Festivals und der Bemühungen des Transylvania Trusts, das „Versailles Siebenbürgens“, wie es in den Medien genannt wird, wieder aufzubauen. Das Schloss aus Răscruci ist weniger bekannt. Laut verschiedenen historischen Quellen existierte es bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Nach der Nationalisierung des Schlosses in den späten 1960er Jahren und bis im Jahr 2007 wurde das Gebäude als Schule und Internat für Kinder mit besonderen Bedürfnissen genutzt.
Die Geschichte des Schlosses hat die Organisatoren von TIFF inspiriert, den Film auszuwählen, den man hier gezeigt hat. Er handelte auch über Kinder. Und zwar über 669 jüdischen Kindern, deren Leben während des Zweiten Weltkriegs gerettet wurde.
Anthony Hopkins unter dem Sternenhimmel
Auf einem Bahnsteig im Prager Hauptbahnhofs erinnert ein Denkmal an einen Akt der Menschlichkeit in Zeiten des Schreckens. Die Skulptur zeigt einen Mann mit zwei Kindern und einem Koffer. Sie würdigt einen Menschen, der kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs die Ausreise überwiegend jüdischen Kindern aus der Tschechoslowakei nach Großbritannien organisierte und ihnen damit das Leben rettete. Sein Name ist Nicholas Winton. Manche nennen ihn den „britischen Oskar Schindler“. Diesem Mann, der bis 2015 gelebt hat, setzt der Film „One Life” in der Regie von James Hawes ein zweites Denkmal. Das Drehbuch basiert auf einer Biografie von Wintons Tochter Barbara über ihren Vater. In One Life wird er als über Siebzigjähriger von Anthony Hopkins und als junger Mann von Johnny Flynn gespielt.
Als der 29-jährige Londoner Börsenmakler Nicholas Winton im Jahr 1938 die Tschechoslovakei besucht, trifft er in Prag auf Familien, die vor dem Aufstieg der Nazis in Deutschland und Österreich geflohen waren, in ärmsten Verhältnissen leben, kaum oder gar keine Unterkunft und Nahrung haben und den Einmarsch der Nationalsozialisten befürchten müssen. Dort beschließt er, sich für die Rettung jüdischer Kinder einzusetzen. Er überwindet bürokratische Hürden, sammelt Spenden und sucht Pflegefamilien für die nach England geholten Kinder. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, da unklar ist, wie lange die Grenzen noch offen sind. Fünfzig Jahre später, an Weihnachten im Jahr 1988 als Nicholas über Siebzig ist, findet er seine alten Unterlagen, in denen er seine Arbeit festgehalten hat, mit Fotos und Listen der Kinder, die er in Sicherheit gebracht hat. Nicholas macht sich immer noch Vorwürfe, weil er nicht mehr retten konnte. Er denkt daran, die Unterlagen einem Holocaust-Museum zu spenden. Die Papiere landen in den Händen des Produktionsteams von That's Life!, eine von der BBC produzierte TV-Show.Nicholas wird in die Sendung eingeladen und gebeten, sich ins Publikum zu setzen, angeblich nur, um die Echtheit der Dokumente zu bestätigen. Als die Moderatorin alle Anwesenden im Publikum bittet aufzustehen, die heute ohne seine Hilfe nicht hier wären, bleibt niemand sitzen. Das ist die ergreifendste Szene des Films. Sie zusammen mit anderen über 1000 Leuten in einer sternenklaren Juni-Nacht im Garten eines Schlosses zu sehen, wirkt noch emotionaler. „Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.“
Fortsetzung folgt
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