Eine riesengroße Familie (III)
19.07.24
Die persönlichen Highlights des Internationalen Filmfestivals in Klausenburg (TIFF23)
Über dysfunktionale Familien und wie man merkt, dass ein Film gut ist
Beide meiner Lieblingsfilme des diesjährigen TIFF (ein Spielfilm und ein Dokumentarfilm) handeln über dysfunktionale Familien (unerschöpfliches Thema, das immer aktuell sein wird).
Der eine, „Sterben“ in der Regie von Matthias Glasner, wurde in der Sektion „Supernova“ gezeigt, die schon seit den Anfängen des TIFF-Festivals existiert und in der auf den bekanntesten Filmfestivals preisgekrönten Filme in Rumänien-Premiere dem Publikum vorgestellt werden. Der deutsche Film, der im Februar bei der Berlinale mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, überzeugte auch das TIFF-Publikum. Nicht ein einziges Mal musste ich während des dreistündigen Familiendramas auf die Uhr schauen. Und sogar die unbequemen Stühle im Klausenburger Studentenkulturhaus hinderten mich nicht daran, den Film atemlos zu verfolgen. Die jahrelange TIFF-Erfahrung und die Tatsache, dass man neun oder zehn Tage lang die meiste Zeit im Dunklen des Kinosaals verbringt, verändern die Art und Weise, wie man Filme beurteilt. Als Festival-Anfänger hat man mehr Geduld und man bleibt meistens bis zu Ende des Films im Saal, auch wenn man sich langweilt. Ein erfahrener Festivalbesucher jedoch geht aus dem Saal, wenn ihm der Film nicht gefällt. Die Zeit ist zu kostbar, um sie zu verschwenden un d manchmal kann ein Spaziergang im Park mehr bringen als eine Stunde vor der Filmleinwand, in der man an etwas anderes denkt. Man wird wählerisch. Aber dann kommen Filme wie „Sterben“. Und man taucht ein und bleibt drei Stunden lang mit der Familie Lunies.
Lissy Lunies, Mitte 70, ist insgeheim froh darüber, dass ihr langsam dahinsiechender, dementer Mann Gerd ins Heim kommt. Doch ihre neue Freiheit währt nur kurz, denn Diabetes, Krebs, Nierenversagen und beginnende Blindheit lassen ihr selbst nicht mehr viel Zeit. Währenddessen arbeitet ihr Sohn, der Dirigent Tom, mit seinem depressiven besten Freund Bernard an einer Komposition namens „Sterben“. Toms Ex-Freundin Liv will ihn zum Ersatzvater ihres Kindes machen. Seine Schwester Ellen beginnt eine Affäre mit einem verheirateten Zahnarzt, die beiden verbindet die Liebe zum Alkohol und zum Rausch. Aber alles im Leben hat seinen Preis. Mit dem Tod konfrontiert, begegnen die Familienmitglieder sich wieder.
In „Sterben“ passieren viele traurigen Sachen. Und er Anfang des Films ist kaum erträglich. Trotzdem sorgt eine Mischung aus schwarzem Humor und Liebe zu den Figuren dafür, dass wir durchhalten. Der Film handelt über unsere kleinen und großen Feigheiten, über die Auswirkungen von gewissen Entscheidungen auf unser Leben, über Freundschaft, über unsere Beziehungen mit anderen Menschen- sei es Familie oder Wunschfamilie. Und bei wenigstens einer Szene fragt man sich, ob der Protagonist Tom richtig gehandelt hat und was man an seiner Stelle getan hätte.
Noch ist das Datum nicht bekannt, an dem der Film in die rumänischen Kinos kommt, aber merken Sie sich diesen Titel auf jeden Fall. „Sterben“ ist mit Sicherheit der Film der ersten Jahreshälfte 2024.
Alice im Niemandsland
Bei dem rumänischen Dokumentarfilm „Alice On & Off” in der Regie von Isabela von Tent geht es auch um Familie, aber diesmal um eine nicht gerade konventionelle.
Die über einen Zeitraum von zehn Jahren gedrehte Geschichte handelt von der
16-jährigen Alice, die eine Beziehung mit dem 35 Jahre älteren Dorian eingeht und noch als Minderjährige Mutter von Aristo wird. Die Wege von Alice und Dorian, die beide bildende Künstler sind, trennen sich jedoch nach wenigen Jahren.
Konfrontiert mit Angst und Isolation, sucht Alice Zuflucht und Trost in der Kunst und im Video-Chat. Zuerst reist sie einer Internetbekanntschaft ins Ausland nach, doch nachdem auch diese Beziehung scheitert, kehrt sie nach Bukarest zurück. In der Beziehung zu ihrem Sohn Aristo scheint Alice das Muster ihrer Eltern zu wiederholen. Die beiden Journalisten, für die die Karriere wichtiger war als das eigene Kind, haben sich noch vor ihrer Geburt getrennt, sie selbst wuchs bei der strengen Großmutter auf und wurde zur rebellierenden Jugendlichen. Nun ist sie selbst Mutter und kann mit dieser Rolle nicht richtig umgehen. Sie taucht zwar ab und zu sporadisch in Aristos Leben auf, doch dann verschwindet sie wieder. Bis sie eines Tages gar nicht mehr zu finden ist.
„Ich lernte Alice im ersten Jahr der Filmschule vor zehn Jahren kennen. Anfangs war ich zögerlich, was Alices Persönlichkeit und ihren Lebensstil anging, aber eine nicht zu leugnende Neugierde zwang mich, tiefer in ihre Welt einzutauchen. Lange Zeit wusste ich nicht, worum es in diesem Film geht und was das Thema ist. Das Einzige, was ich von Anfang an wusste, war, dass ich sie wirklich respektiere und beschloss, selbst zu filmen. Das half mir, sie besser zu verstehen und ihrem Universum näher zu kommen. Allein zu filmen hat es mir auch ermöglicht, ihr näher zu kommen. Ich entdeckte, dass unser Leben eine Gemeinsamkeit hatte: Wir hatten beide eine Kindheit durchgemacht, die eher von Missbrauch als von Liebe und Mitgefühl geprägt war. Diese Erkenntnis hatte einen großen Einfluss auf meine Entwicklung, da ich Alices Wandlungsprozess in den letzten zehn Jahren genau dokumentiert habe. Die Geschichte von Alice ist ein starkes Zeugnis dafür, wie wir mit dem Erbe unserer Eltern umgehen und wie wir den Weg für eine bessere Zukunft für zukünftige Generationen ebnen“, sagte Regisseurin Isabela von Tent beim Publikumsgespräch. Sie konnte die komplexe Dynamik der Beziehung zwischen Alice und Dorian und vor allem Alices verzweifelte Bemühungen, ihren eigenen Weg zu finden, aus nächster Nähe mitverfolgen- von der traumatischen Kindheit bis zur frühen Mutterschaft und den schlechten Entscheidungen, die ihren Lebensweg leider geprägt haben. Mit der Zeit wurde die Regisseurin Teil dieser dysfunktionalen Familie.
Doch auch der Zuschauer durchläuft während der 90 Minuten einen Transformationsprozess. Am Anfang verurteilen wir Dorian, den 53jährige Mann der eine Beziehung mit einer 16jährigen eingeht. Doch während des Films stellen wir fest, dass er der menschlichste von allen ist. Er ist ein sehr guter Vater für Aristo und kümmert sich bestens um den heute 12jährigen Jungen. Leider ist er inzwischen an Krebs erkrankt und die Situation des Jungen ist unsicher. Die Mutter, Alice, ist weiterhin verschollen. Man nimmt an, sie ist im Bukarester Drogenmilieu untergetaucht.
Das waren die Filme, die ich von meinem 19ten TIFF mitnahm. Doch TIFF ist viel mehr als nur Filme und das Erlebnis, diese zusammen mit anderen zu sehen. TIFF ist auch dann, wenn man aus einem Film weggeht um sich eine Theateraufführung anzuschauen (und ich sah „Romeo und Julia“ des Ungarischen Staatstheaters Klausenburg gleich zwei Mal). TIFF ist auch dann, wenn man seine Freunde trifft, die man jedes Jahr auf dem Festival sieht. TIFF ist auch dann, wenn man mitten in der Nacht auf einem Gehsteig heftig über Filme diskutiert. TIFF ist auch dann, wenn man ein ganzes Fotoalbum mit Bildern aus älteren Festivalausgaben besitzt. Und TIFF ist auch dann, wenn man sich schon die Termine der nächsten Auflage im Kalender speichert: 14-23 Juni 2025.
Elise Wilk
Die Stadt im Filmfieber. Foto: Lucian Nuta
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
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Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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